Nach der Wahl in Großbritannien:

Cameron schlägt antieuropäische Töne an

Wie erwartet hat die neue konservative Regierung in Großbritannien das Thema Zuwanderung als Aufhänger gewählt, um eine härtere Haltung gegenüber Europa einzunehmen.

Solche Versuche, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zu schüren, verdeutlichen die politische Absicht, die hinter Premierminister David Camerons Versprechen steckt, neu über Großbritanniens Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu verhandeln und danach ein Referendum über Verbleib oder Austritt aus der EU abzuhalten.

Cameron berief sich auf Großbritanniens Widerstand gegen die Europäische Agenda für Migration vor achtzehn Jahren. Dieser hatte dazu geführt, dass Großbritannien nicht in den Vorschlag der EU einbezogen ist, Flüchtlinge aus Libyen, Syrien und anderen Ländern, die vor den Auswirkungen der imperialistischen Militäroperationen geflohen sind, gleichmäßig auf die EU-Mitgliedsstaaten zu verteilen.

Innenministerin Theresa May wiederholte in einer Kolumne in Rupert Murdochs Times die Behauptung, die Rettung von Flüchtlingen vor dem Ertrinken würde nur zu noch mehr Flüchtlingen führen.

Sie schrieb: "Wir dürfen nichts tun, was noch mehr Menschen dazu anspornt, diese gefährlichen Reisen zu wagen, oder was den Banden, die für das Elend der Flüchtlinge verantwortlich sind, die Arbeit erleichtert. Deshalb wird Großbritannien kein System verbindlicher Verteilung von Flüchtlingen mittragen."

Sie forderte ein Programm zur "aktiven Rückführung von Flüchtlingen in die Heimatländer oder andere Länder."

Gleichzeitig hat Großbritannien seine volle Unterstützung für die repressiven Maßnahmen signalisiert, mit denen die EU verhindern will, dass Flüchtlinge das europäische Festland erreichen. Das britische Kriegsschiff HMS Bulwark wurde zwischen Libyen und Italien stationiert.

Cameron hat außerdem angedeutet, er werde sein versprochenes Referendum über die EU-Mitgliedschaft zügig durchführen, vermutlich im Herbst 2016. Er hofft, durch das Prestige, das er mit seinem Wahlsieg gewonnen hat, eine knappe Mehrheit im Parlament zu erringen und den euroskeptischen Flügel seiner Partei unter Kontrolle zu bekommen. Gleichzeitig hofft er, damit seine Verhandlungsposition gegenüber der EU zu stärken.

Als Cameron am Dienstag sein Versprechen bekräftigte, ein Referendum abzuhalten, erhielt er zwar von allen neugewählten Mitgliedern des Parlaments Beifall, doch innerhalb der Partei gibt es große Differenzen über die Frage, wie weit ein möglicher Bruch mit der EU gehen sollte.

Als Verhandlungsführer mit der EU ernannte er außer sich selbst, Außenminister Philip Hammond und Finanzminister George Osborne - alle drei haben in der Vergangenheit schon mit einem "Brexit" gedroht - dem Austritt Großbritanniens aus der EU.

Diese Drohungen dienten jedoch vor allem dazu, die Abgeordneten zu überzeugen, dass sie ihre Forderungen im Rahmen der EU durchsetzen können und gleichzeitig der UK Independence Party (UKIP) den Wind aus den Segeln nehmen können - die bei der Wahl mit Stimmungsmache gegen die EU zwölf Prozent der Stimmen holen konnte.

Am wichtigsten ist aber, dass die Interessenvertreter der Wirtschaft, sogar diejenigen, die Camerons Forderung (weniger Wirtschaftsregulierung etc.) unterstützen, nicht nur einen Brexit ablehnen, sondern auch die Folgen einer längeren Periode der Unsicherheit für die britische Wirtschaft fürchten. Cameron ist also mit einem politischen Dilemma konfrontiert, das sich zu einer ernsten Gefahr für die strategischen Interessen des britischen Imperialismus und der europäischen Mächte entwickelt.

Die Einheit der Tories wird wohl nicht von Dauer sein. Wie der konservative Abgeordnete David Davis dem Daily Telegraph erklärte, sind bis zu 60 Abgeordnete bereit, für Großbritanniens Austritt aus der EU zu stimmen, wenn Cameron seine Forderungen nicht durchsetzen kann.

In vielen der Themen, die Cameron angesprochen hat, wird ein Anspruch auf den Sieg zudem eher eine Frage der Präsentation sein als des Inhalts. Er erklärte, seine Reformpläne würden Veränderungen der Grundlagenverträge der EU erfordern, aber das ist erst 2016 oder 2017 möglich und erfordert die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten.

Er hat angekündigt, dass sich Großbritannien von dem erklärten Ziel der EU distanzieren wird, eine "immer engere Union" zu schaffen; sich den Bestrebungen zum Aufbau einer europäischen Armee widersetzen; nicht der Währungsunion beitreten und jegliche Sozialgesetzgebung der EU ablehnen wird.

Abgesehen von diesen allgemeinen Erklärungen konzentrierte er sich auf Forderungen nach Maßnahmen, um Zuwanderern den Anspruch auf Sozialleistungen zu erschweren; nach mehr Befugnissen für Westminster, um EU-Gesetze zu blockieren; er sprach sich gegen Regulierungen der Wirtschaft aus; für die Stärkung von Freihandelsabkommen mit den USA und Asien; und für den Schutz der Finanzmärkte der City of London vor EU-Gesetzen.

Bei den meisten dieser Themen gibt es einen gewissen Bewegungsspielraum. Deutschland, der Hauptrivale Großbritanniens in der EU, wird ironischerweise als wichtiger Verbündeter (gegen Frankreich und die osteuropäischen Staaten) im Kampf für Wirtschaftsliberalisierung, gegen Sozialgesetze und für die Begrenzung der Sozialleistungen für Zuwanderer betrachtet.

Cameron versucht verzweifelt, ein vorzeigbares Abkommen auszuhandeln. Deshalb hat er seine Forderung nach einer Obergrenze für Zuwanderer aufgegeben. Er hat eine Liste von reaktionären Maßnahmen zusammengestellt, u.a. eine vierjährige Wartezeit, bevor Zuwanderer in die EU Leistungen für Erwerbstätige oder Sozialwohnungen beanspruchen können; kein Kindergeld für Familienangehörige außerhalb von Großbritannien; Einschränkungen beim Nachzug von Angehörigen; die Abschiebung aus Großbritannien nach sechs Monaten ohne Arbeit und ein Arbeitsverbot für Bürger neuer EU-Mitgliedsstaaten in Großbritannien, bis sich deren Wirtschaft "angepasst" hat.

Osteuropäische Staatsoberhäupter lehnten Camerons Forderungen ab und berufen sich auf das ausdrückliche Bekenntnis der EU zum freien Personenverkehr innerhalb der EU. Aber auch wenn das Bekenntnis formell bestehen bleibt, könnten sich die Dinge ändern. Mat Persson, der Direktor der Denkfabrik Open Europe erklärte dazu: "Die meisten europäischen Länder haben ein System beitragsabhängiger Sozialleistungen, das Arbeitsmigranten automatisch den Anspruch auf Leistungen verwehrt, wenn sie nicht mindestens eine bestimmte Zeit lang in dem Land gearbeitet haben. In Großbritannien hingegen haben alle Anspruch auf Leistungen."

Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, erklärte, er sei bereit, für Großbritannien ein faires Abkommen mit der EU auszuhandeln.

Der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, erklärte, Großbritannien spiele eine wichtige Rolle als Garant dafür, dass "Europas Agenda auf gesundem Menschenverstand basiert und die Betonung auf einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft liegt, deren Grundlage ein leistungsfähiger Binnenmarkt, nicht einschränkende Regulierung, Offenheit im Handel mit anderen Nationen und eine selbstbewusste Außenpolitik sind."

Manfred Weber, Vorsitzender der konservativen Fraktion der Europäischen Volkspartei und Parteigenosse von Bundeskanzlerin Angela Merkel, erklärte, die Freiheiten der EU stehen nicht zur Debatte, fügte aber hinzu: "Wir Europäer müssen auch darüber nachdenken, ob nicht die Zeit für eine größere Reform der Verträge gekommen ist."

In dieser Welle von versöhnlerischen Kommentaren äußert sich die allgemeine Befürchtung, Großbritannien könnte das Überleben der EU selbst in Gefahr gebracht haben.

Wolfgang Münchau schrieb nach der Wahl über Camerons gefährliches Spiel: "Die Befürworter der britischen EU-Mitgliedschaft trösten sich mit Meinungsumfragen, laut denen eine Mehrheit ihre Ansichten teilt. Sie sollten sich nicht täuschen. Niemand kann das Ergebnis eines Referendums im Voraus vorhersagen... aufschlussreicher ist es, die politische Dynamik zu betrachten. Hier hat man einen Wiederaufstieg des Nationalismus in Schottland und eine mögliche englische Gegenreaktion - ein Gemisch, das der Sache der EU nicht helfen wird."

Daraus ergebe sich die "unangenehme Möglichkeit eines gleichzeitigen Austritts Großbritanniens aus der EU und Griechenlands aus der Eurozone."

Er erklärte: "Die EU kann sich nicht beides zusammen leisten."

In diesem gefährlichen Szenario muss man außerdem den Aufstieg von Anti-EU-Parteien in Europa berücksichtigen, vor allem des Front National in Frankreich, aber auch der kleineren Alternative für Deutschland, die mittlerweile in fünf deutschen Bundesländern im Parlament sitzt.

Judy Dempsey von Carnegie Europe schrieb in der Moscow Times über die Sorge der USA wegen Großbritanniens Wende und wie Deutschland - mittlerweile der wichtigste Verbündete der USA -, aber auch sein Rivale, und Russland davon profitieren.

Sie schrieb: "Es war Merkel, die die Europäische Union dazu gebracht hat, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, nachdem es im März 2014 die Krim eingegliedert hatte. Es war Merkel, die Cameron den Rücken gestärkt hatte, als es um die Sanktionen ging. Merkels Deutschland ist die unangefochtene Führungsmacht Europas."

"Aber auch wenn der Einfluss Großbritanniens in der EU zurückgeht, würde ein Brexit dem Zusammenhalt der EU unvorstellbaren Schaden zufügen. Die EU würde ein Land verlieren, dessen Einsatz in sicherheits-, strategischen- und verteidigungspolitischen Fragen nicht zu unterschätzen ist."

Sie schrieb weiter: "Ein Brexit würde die EU zweifellos schwächen, und Russland würde davon profitieren. Deshalb wird Merkel alles in ihrer Macht stehende tun, um einen Weg zu finden, dass Großbritannien in der EU bleibt und nicht austritt."

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