Mehrheit der türkischen Autoarbeiter beendet Streik

Nach einem dreitägigen Streik der Autoarbeiter in der nordwestlichen Region Bursa in der Türkei wurde die Produktion wieder aufgenommen. Die Arbeitseinstellungen betrafen die Autofabriken Tofaş und Ford Otosan sowie dazugehörige Autozulieferer, darunter Coşkunöz und Mako.

Der unabhängige Streik begann am 14. Mai im Renault-Werk in Bursa. Er war ausgebrochen, nachdem die Arbeiter die von ihrer eigenen Gewerkschaft Türk Metall vereinbarten Lohn- und Arbeitsbedingungen abgelehnt hatten. Die Gewerkschaft hatte niedrigere Lohnzuwächse ausgehandelt, als die in einer benachbarten Fabrik von Bosch üblichen. Die Arbeiter traten in Massen aus der Gewerkschaft aus und forderten deren Ausschluss aus dem Unternehmen.

Innerhalb weniger Tage war der Streik eskaliert und breitete sich in alle anderen großen Unternehmen aus. Die Arbeitsniederlegungen bei Tofaş, Ford Otosan und Türk Traktör führten zum Stillstand der Autoproduktion in der Türkei und zu Verlusten in Höhe von 64 Millionen Euro pro Tag.

Die Autobauer erklärten sich bereit, den Arbeitern einmalig 1.000 türkische Lira (350 Euro) zu zahlen, wenn sie die Produktion vergangenen Montag um Mitternacht wieder aufnehmen. Sie sagten, sie würden gegen die Arbeiter, die am Streik beteiligt waren, keine Disziplinarmaßnahmen einleiten, wie dies nach dem Streik des Jahres 2012 der Fall war, als mindestens 60 Arbeiter entlassen worden sind. Allerdings stellten die Bosse jegliche Lohnerhöhungen bis Juni zurück. Nach den Parlamentswahlen vom 7. Juni soll eine Überprüfung stattfinden, von der eine mögliche Erhöhung abhängig gemacht wird.

Die meisten Autoarbeiter akzeptierten den Deal, aber die 5.500 Beschäftigten bei Renault lehnten ihn ab, nachdem der Konzern, der für seine Wortbrüche bekannt ist, wieder zu seinen alten Konditionen zurückgekehrt war. Zwar erklärten die Managements von Tofaş und Ford Otosan, dass die Produktion wiederaufgenommen wurde, aber in einigen Fabriken stehen die Arbeiter nach auf Streikposten. Auch in einem weiteren Betrieb, einem Traktorenwerk, wird der Streik fortgesetzt.

Dass die Unternehmer offensichtlich Zugeständnisse an die Autoarbeiter machten, ist ein Anzeichen für die Nervosität, die sie und regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung AKP vor den Wahlen erfasst hat. Präsident Recep Tayyip Erdoğan strebt nach einer größeren Mehrheit für die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), um Verfassungsänderungen durchsetzen zu können. Angesichts der zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Krise sowie der Gefahr eines Kriegsausbruchs mit den benachbarten Staaten Irak und Syrien, will Erdoğan ein Präsidialsystem durchsetzen, das ihm zunehmend diktatorische Regierungsformen gestattet. Umfragen zufolge wird die AKP die meisten Stimmen erhalten, allerdings lediglich 290 bis 300 Sitze. Dies wäre viel zu wenig, um die erforderliche parlamentarische Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu erreichen.

Die beiden hauptsächlichen Oppositionsparteien im türkischen Parlament, die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) und die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), sind in gleicher Weise Anhänger einer Wirtschaftspolitik, die das Großkapital begünstigt und waren bislang außerstande, die Unterstützung für die AKP ernsthaft zu gefährden. Die sich als links aufspielende, vorwiegend kurdische, Demokratische Partei der Völker (HDP) versuchte, aus dem Streik politisches Kapital für sich zu ziehen und ließ ihren Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtas, Solidaritätsaufrufe verkünden.

Die HDP fährt eine riskante Strategie: statt unabhängige Kandidaten aus der kurdischen Region aufzustellen, wo die Partei am stärksten ist, tritt sie mit einer landesweiten Liste an. Das bedeutet, dass sie mindestens zehn Prozent der Stimmen erreichen muss, um überhaupt einen Sitz im türkischen Parlament zu erhalten, wo die hohe Zehn-Prozent-Sperrklausel gilt. Sie benötigt 600.000 Stimmen mehr, als sie bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Sommer erhalten hatte. Sollte die HDP tatsächlich die 72 Sitze gewinnen, die ihr die Wahlprognosen vorhersagen, dann würde die Ära der absoluten Mehrheit der AKP-Regierung enden und mit ihr auch die Pläne für ein Präsidialregime.

Den Ausschlag für den Streikabbruch gab die große Sorge der herrschenden Elite, dass sich viele Millionen Arbeiter den Autorarbeitern anschließen könnten, um gegen ihre eigenen Missstände aufzubegehren. Die jahrzehntelange Unterdrückung des Klassenkampfs durch den Gewerkschaftsapparat wäre damit durchbrochen. Die Regierung verhinderte unter Hinweis auf die „nationale Sicherheit“ und mit Hilfe der vom Großkapital gekauften Gewerkschaften, die eine niederträchtige Rolle dabei spielten, jeden ernstzunehmenden Streik. Dank dieser Politik der „Aufschiebung“ ist die Zahl der Arbeitsniederlegungen auf ein Rekordtief gesunken: Im Jahr 2012 gab es landesweit nur neun Streiks.

Die Regierung mahnte die Gewerkschaften und Arbeitgeber, den Streik aus der Welt zu schaffen, damit sich keine weitergehende Bewegung der Arbeiterklasse aus ihm entwickelt. Sie entsandte zwei Minister zu den Gesprächen zwischen Unternehmern und Gewerkschaftern, um bei den Verhandlungen behilflich zu sein, die zur Beendigung des Ausstands führen sollten.

Die Gewerkschaft Türk Metall ihrerseits, die enge Beziehungen zum Militär und ultrarechten türkischen Kräften pflegt, gab sich große Mühe, den Streik zu desorganisieren und zu untergraben. Sie nannte ihn einen „illegalen Protest“ und schickte ihre faschistischen Schläger los, um Arbeiter zu verprügeln.

Während die Polizei offenbar etwas gezügelt wurde, verhaftete sie 47 Streikführer und klagt sie an, eine illegale Arbeitsniederlegung angeführt zu haben.

Die beiden anderen Metallarbeitergewerkschaften, Birleşik Metal, eine Partnerin von DISK (Türkischer Bund progressiver Gewerkschaften), und die Stahlarbeitergewerkschaft, lehnen jegliche Mobilisierung gegen die Regierung ab. Die sogenannte unabhängige Gewerkschaft Birleşik Metal zog nach. Sie löste im Juni 2013 einen Streik auf, weil er mit den Protesten im Gezi-Park zusammenfiel, in denen Tausende Menschen gegen die Regierung mobilisiert wurden.

Der unabhängige Streik der Autoarbeiter fand gleichzeitig mit einer anderen Arbeitsniederlegung statt. Am Mittwoch letzter Woche begann ein landesweiter dreitägiger Ärztestreik, der sich gegen die Wochenendarbeit richtet, die das Gesundheitsministerium mit Beginn 2015 per Gesetz eingeführt hatte. Das Nichterscheinen zum samstäglichen Acht-Stunden-Dienst zieht Strafen nach sich, die am 16. April nochmals um das Vierfache verschärft wurden. Hohe Fehlquoten führen zur Vertragsauflösung.

Wieder einmal hielten die Gewerkschaften sich zurück und lehnten es ab, irgendwelche Streikaktionen zu organisieren. Sie begründeten dies damit, dass die Arbeitseinstellungen lediglich eine Reaktion auf Politik der „gelben“ bzw. Hausgewerkschaft Türk Metall seien. Die Gewerkschaftbürokraten riefen die streikenden Autoarbeiter stattdessen auf, der Birleşik Metal einzutreten, die die einzige fortschrittliche Option darstelle.

Der Streik der Autoarbeiter findet vor dem Hintergrund einer Verlangsamung des Wachstums der türkischen Wirtschaft statt, nachdem diese während der Jahre der AKP-Regierung unter dem Premierminister und jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan einen langanhaltenden Aufschwung erfahren hatte. Die Expansion der Autoproduktion, ein Bestandteil der umfangreichen Globalisierung der Industrie durch die multinationalen Hersteller, war ein Hauptelement innerhalb dieses Wachstums. Im Jahr 2014 produzierte die Türkei 1,17 Millionen Autos und Nutzfahrzeuge, verglichen mit 346.565 im Jahr 2002, dem Jahr, als die AKP die Regierung übernahm. Über 80 Prozent werden exportiert, hauptsächlich nach Westeuropa; im vergangenen Jahr bezifferte sich der Wert dieser Exporte auf rund 20 Milliarden Euro, das heißt zehn Prozent aller Exporte des Landes.

Die niedrigen Löhne, die geringen oder nachlässig gehandhabten Verordnungen über Arbeitsbedingungen, die auf den eigenen Vorteil bedachten und korrupten Gewerkschaften sowie die scharfen rechtlichen Streikkontrollen stellten in den Augen der multinationalen Konzerne solch große Vorzüge dar, dass sie hauptsächlich in der Region Bursa massiv in exportorientierte Fabrikanlagen in der Türkei investierten. Nach der Rezession des Jahres 2008 sicherten Lohnkürzungen den Autobauern die Profite. Laut dem Wall Street Journal kündigte Tofaş vergangenen November an, 520 Millionen Dollar in die Produktion zweier neuer Modelle investieren zu wollen, und im Januar kündigte Toyota an, 500 Millionen Dollar für eine fünfzigprozentige Kapazitätssteigerung auf 250.000 Autos ausgeben zu wollen.

Doch diesen Absichten stehen sinkende ausländische Netto-Direktinvestitionen gegenüber. Im März 2015 betrugen ausländische Direktinvestitionen in der Türkei 900 Millionen Dollar, ein Rückgang von 37 Prozent gegenüber März 2014 (1,42 Milliarden Dollar). Im ersten Quartal 2015 fielen die Netto-Direktinvestitionen um neunzehn Prozent auf 3,45 Milliarden Dollar; im selben Zeitraum des vergangenen Jahres betrugen sie noch 4,26 Milliarden Dollar.

Die Metallindustrie, der eine der größten Unternehmensgruppen im Lande ist, legt das Tempo vor: sowohl für Arbeitsplätze ohne Gewerkschaftskontrolle als auch für andere Industrien. Als der Streik auf Unterstützung stieß, drohte Renault den Arbeitern und der AKP-Regierung. Am 21. Mai erklärte Jean Christophe Kugler, Chef des Eurasien-Unternehmensbereichs von Renault, Journalisten, dass der Konzern seine Investitionen in der Türkei überdenken könnte. Der wilde Streik, so fügte er hinzu sei nicht nur eine Bedrohung für die Türkei, sondern ebenso für die globale Industrie. Damit gab er zu verstehen, dass er die erheblichen Auswirkungen des Arbeitskampfs begriffen hatte,

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