Wahlen in der Türkei: Erdoğans AKP verliert Parlamentsmehrheit

Die konservative islamistische Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Präsident Recep Tayyip Erdoğan gewann in den türkischen Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag zwar den Großteil aller Stimmen, aber verlor die absolute Mehrheit im Parlament.

Erdoğan muss jetzt den Parlamentsvorsitzenden der AKP und scheidenden Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu oder einen anderen AKP-Gesetzgeber auffordern, eine Koalitionsregierung zu bilden.

Der türkische Präsident, sichtlich geschockt über den Wahlausgang, ist darauf bedacht, eine weitere Wahlrunde in nächster Zukunft zu vermeiden. Deshalb gab sich Erdoğan versöhnlich und drängte alle Parteien, im Interesse der politischen Stabilität zusammenzuarbeiten. Während Davutoğlu versprach, die politische Stabilität der Türkei zu sichern, erklärte er mit Blick auf seine Gegner: „Keiner sollte versuchen, aus einer verlorenen Wahl einen Sieg zu konstruieren.“

Mit diesen Wahlen geht die 13 Jahre andauernde Einparteien-Herrschaft der AKP zu Ende. Sie markieren eine Niederlage für Erdoğan und dessen Partei, die im Wahlkampf für eine Verfassungsänderung zugunsten eines Präsidialsystems geworben hatte. Diese Verfassungsänderung würde die exekutiven Vollmachten des Präsidenten erweitern, die Rolle des Parlaments verringern und so den autoritären Charakter des türkischen Regimes stärken.

Die Wähler haben diesem Vorschlag eine entschiedene Absage erteilt. Doch das Wahlresultat wird die tiefgreifenden sozialen und politischen Probleme der Türkei nicht lösen, sondern die Krise der herrschenden Klasse im Land weiter verschärfen.

Über 86 Prozent der registrierten Wahlberechtigten haben an den Wahlen teilgenommen. Laut offiziellen Angaben, die nach der Auszählung von 99 Prozent der Stimmen veröffentlicht wurden, gewann die AKP 41 Prozent, die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) und zugleich größte Oppositionspartei erhielt 25 Prozent, die ultra-rechte Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) 16,5 Prozent und die vorwiegend kurdische Partei der Demokratie des Volkes (HDP) 13 Prozent. Das Ergebnis verteilt sich in dem Parlament mit 550 Sitzen auf 258 Sitze für die AKP, 132 für die CHP, 81 für die MHP und 79 für die HDP.

Die AKP führte in den meisten Provinzen und Städten, einschließlich Istanbul, der größten türkischen Stadt, und Ankara, der Hauptstadt. Den höchsten Stimmenanteil gewann sie in Zentralanatolien. Die Hochburgen der CHP befinden sich in Ostthrakien, Teilen von Istanbul und den Küstenstädten an den Grenzen Westanatoliens, einschließlich İzmirs. Die MHP bekam die größte Unterstützung aus Adana und Osmaniye. Die Stimmen der HDP stammen fast gänzlich aus den verarmten südöstlichen, agrarisch geprägten und kurdischen Regionen, die vom jüngsten ökonomischen Wachstum der Türkei kaum profitiert haben.

In diesen Wahlen sank die absolute Stimmenanzahl der AKP das erste Mal seit ihrem Machtantritt 2002. Ihr Wahlergebnis lag zwar über dem Resultat von 2002, aber um beinahe zehn Prozentpunkte unter dem Ergebnis der letzten Parlamentswahl von 2011, als die AKP fünfzig Prozent der Stimmen und 327 Sitze erhielt. Während sie in der Hauptstadt Ankara ihren Einfluss aufrechterhalten konnte, verlor sie die meisten Stimmen in den anderen zwei Großstädten, Istanbul und İzmir.

Diese Verluste spiegeln die wachsende Unzufriedenheit mit der steigenden Armut, Arbeitslosigkeit, sozialen Ungleichheit und der ungezügelten Korruption in der Politik- und Wirtschaftselite wider. Die Opposition in der Bevölkerung richtet sich sowohl gegen die Unterstützung der AKP für rechte islamistische Kräfte im Kampf gegen das syrische Regime unter Präsident Bashar al-Assad, als auch gegen das scharfe Vorgehen der Regierung gegen jede Form der Kritik.

Auch die CHP ist längst diskreditiert. Obwohl sie gegen Erdoğan und den autoritären Regierungsstil der AKP aufgetreten ist, eine Erhöhung des Mindestlohns, eine Verringerung des Benzinpreises und eine Verdopplung der finanziellen Unterstützung armer Familien gefordert hatte, verlor sie einige Wählerstimmen.

Im Gegensatz dazu konnte die nationalistische MHP ihr Wahlergebnis von 2011 um 3 Prozentpunkte verbessern. Sie machte ähnliche Versprechen wie die CHP und forderte eine Erhöhung des Mindestlohns, die Abschaffung der Steuern auf Benzin und Düngemittel, Kampf gegen Korruption und die Garantie sicherer Arbeitsplätze für Mitarbeiter im öffentlichen Dienst. Die MHP konzentrierte sich dabei auf nationalistische Appelle, die vor allem anti-kurdische Stimmungen schüren sollten.

Der Hauptsieger der Wahlen war die vorwiegend kurdische HDP. Sie versuchte sich als „linke“ Partei in Anlehnung an die griechische Syriza und die spanische Podemos neu zu positionieren. Nach den Protesten im Gezi Park, bei denen im Juni 2013 hauptsächlich Teile der Mittelschicht demonstrierten, konnte sich die HDP große Unterstützung aus den Reihen der kleinbürgerlichen liberalen Linken sichern. Diese hatten früher die AKP-Regierung entweder offen, oder unter der Parole „Frieden und Demokratie“ durch die kurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Vorgängerin der HDP, unterstützt.

Die HDP hat sich ganz bewusst auf diese Mittelschichten orientiert. In den Wahlen stellte sie die Frage von Frauenrechten und Rechte für Homosexuelle in den Mittelpunkt und öffnete fünfzig Prozent der Parteiliste für Frauen.

Die HDP erhielt einen beachtlichen Stimmenanteil im Südosten des Landes und konnte einige ehemalige CHP-Wähler in Istanbul, İzmir und Ankara gewinnen. Außerdem bekam sie zum Teil Unterstützung von den Bündnispartnern der Türkei in Europa und den USA, die Erdoğans Parteinahme für die Muslimbruderschaft und den Islamischen Staat mit Misstrauen beobachten.

Zum ersten Mal hatte die HDP eine nationale Liste aufgestellt, statt wie bisher unabhängige Kandidaten aus den kurdischen Regionen, wo die Partei am stärksten vertreten ist. Allerdings ist die HDP nicht die einzige Partei, die unter Kurden Zustimmung erhält. Der Wahlkampf der HDP war ein Risikospiel, denn sie musste mindestens zehn Prozent der landesweiten Wählerschaft für sich gewinnen, um die unverschämt hohe Zehn-Prozent-Hürde des türkischen Parlaments zu überwinden.

Diese Hürde wurde 1980 in der vom Militär autorisierten Verfassung festgeschrieben und sollte wenigstens teilweise die kurdische Repräsentation im Parlament reduzieren. Im Endergebnis führte diese Regelung seit 2002 dazu, dass die regierende Partei einen unverhältnismäßig hohen Anteil der Sitze in Relation zum absoluten Stimmenanteil in der Bevölkerung erhielt. Die HDP war schließlich in der Wahl erfolgreicher, als es die Wahlumfragen vorhergesagt hatten. Dabei spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass einige CHP-Wähler ihre Stimme an die HDP abgaben, um ihr die Überschreitung der Zehn-Prozent-Hürde zu ermöglichen und Erdoğans Pläne für ein exekutives Präsidialsystem zu vereiteln.

Obwohl Erdoğan als Präsident parteipolitisch neutral bleiben müsste, griff er mehrmals die HDP an und warf ihren Mitgliedern vor, Terroristen und anti-muslimische Ungläubige zu sein. In den letzten zwei Monaten fanden insgesamt fast sechzig gemeldete Attacken auf HDP-Büros und Wahlstände statt. Am 18. Mai wurden Bombenanschläge auf die lokalen Parteizentralen in Mersin und Adana verübt. Obwohl es keine Beweise gibt, dass die AKP in die Angriffe involviert war, gehen viele davon aus, dass sie ein Ergebnis von Erdoğans Eingreifen in den Wahlkampf sind.

Während der Wahlkampfperiode schlossen die CHP und HDP jede Möglichkeit einer Koalitionsbildung mit der AKP aus, zumindest solange Erdoğan als Präsident eine führende Rolle spielt. Die MHP hingegen lehnte eine Koalition mit der AKP nicht kategorisch ab, aber ihre Unterstützung für die Anti-Korruptionskampagne gegen Erdoğan und die AKP-Regierung würde eine Regierungsteilnahme erschweren. Sollte sie doch in die Regierung kommen, würde sie den schleppenden „Friedensprozess“ mit den Kurden gefährden.

Auch eine Minderheitenkoalition der CHP und MHP mit Unterstützung der HDP wäre technisch möglich. Diese Variante wird von der bürgerlich-liberalen Presse propagiert und wurde von der HDP und CHP bislang noch nicht ausgeschlossen. Eine Regierung, die sowohl von der Unterstützung der kurdischen HDP als auch der türkisch-chauvinistischen und anti-kurdischen MHP abhängig ist, wäre chronisch instabil.

Doch keine der Parteien hat Interesse an vorgezogenen Neuwahlen, die nach Verfassungsrecht innerhalb von 45 Tagen abgehalten werden müssen, wenn das Parlament sich nicht auf eine Regierungskoalition einigt. Deshalb rufen sie zu „Verantwortung“ auf und verweisen auf die Notwendigkeit politischer Stabilität. Das deutet daraufhin, dass zumindest einige der Oppositionsparteien ihrer Absage an bestimmte Koalitionen den Rücken zukehren werden.

Die politische Ungewissheit nach den Wahlen führte zu Turbulenzen an der Börse. Während des Handels nach Börsenschluss fiel die türkische Lira im Kurs zum Dollar auf ein Rekordtief.

Türkeis führende Unternehmervereinigung, der Verband türkischer Industrieller und Unternehmer (TÜSİAD), betonte am Montag in einer Erklärung die Bedeutung einer stabilen Koalitionsregierung, die den Wählerwillen respektiert. TÜSİAD ist bereits länger Zielscheibe der AKP-Regierung, die ihr vorwirft, in einem Bündnis mit „ausländischen Mächten“ den Sturz der Regierung zu planen.

Berlin und Washington erhöhen derzeit den Druck auf Russland und heizen die explosive Lage im Nahen Osten an. In diesem Zusammenhang machen sich die Bündnispartner der Türkei in wachsendem Maße Sorgen um die gefährdete Stabilität dieser wichtigen Regionalmacht, die ihr bedeutendster Nato-Verbündeter am Schwarzen Meer ist.

Ganz gleich, wie die Koalition am Ende zusammengesetzt ist, wird sie instabil und kurzlebig sein. Jedes Koalitionsbündnis würde versuchen, Maßnahmen durchzusetzen, die von der Wirtschaftselite verlangt werden, und die Beziehungen zu den westlichen Bündnispartnern ausbauen. Diese Politik wird die künftige Regierung notwendigerweise in Konflikt mit der türkischen Arbeiterklasse bringen, in der es bereits jetzt heftig brodelt.

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