Perspektive

Der amerikanische Militarismus und der Massenmord von Charleston

Der Mord an neun afroamerikanischen Frauen und Männern in einer Kirche in Charleston im US-Bundesstaat South Carolina vom vergangenen Mittwochabend wirft beunruhigende Fragen auf. Millionen Menschen in Amerika und weltweit verlangen nach einer Erklärung, die tiefer geht als die oberflächlichen Plattitüden, die von den Medien und Politikern offeriert werden.

Die Medien behandeln die Tat als sinnlosen Gewaltakt eines gestörten Individuums. Aber das erklärt überhaupt nichts. Kaum tauglicher ist Präsident Obamas Versuch in seiner TV-Ansprache vom Donnerstag, die Morde in eine direkte Kontinuität mit den Gräueltaten der Bürgerrechtsära zu stellen. Obama verglich die Tat in der Emanuel AME-Kirche mit dem Mord an vier schwarzen jungen Mädchen bei einem Bombenanschlag auf eine Kirche in Birmingham im Jahre 1963.

Die Annahme, Rassismus sei die wesentliche oder gar ausschließliche Ursache gewesen, führt zu einer extrem demoralisierten Perspektive. Das trifft auch auf einen vielzitierten Kommentar des Kabarettisten Jon Stewart zu. Stewart hatte zu Beginn seiner wöchentlichen Fernsehsendung am Donnerstag behauptet, Grund für die Morde sei eine „klaffende rassistische Wunde, die nicht heilen will, deren Existenz wir aber nicht anerkennen wollen“.

Hier wird der Rassismus aus seinem gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang gerissen und in einen selbständigen und unabänderlichen Aspekt der sozialen Psychologie Amerikas verwandelt. Es wird so getan, als seien die rassistischen Anschauungen und Verhältnisse heute die gleichen wie zur Jim-Crow-Ära im Süden und als habe das vergangene halbe Jahrhundert keinerlei Spuren hinterlassen.

Die Öffentlichkeit hat auf das Massaker von Charleston entsetzt und empört reagiert. Im Unterschied zu den Verbrechen des Ku Klux Klans in den 1960er Jahren fand Dylann Roofs Tat praktisch keine Unterstützung. Und seine Verhaftung erfolgte auf den Hinweis einer weißen Frau, die sein Auto erkannte und ihm auf Aufforderung ihres weißen Arbeitgebers folgte.

Für das Massaker in Charleston muss es eine bessere Erklärung geben. Die Annahme, die Jim-Crow-Ära lebe bis auf den heutigen Tag unverändert fort, ist vollkommen unhistorisch. Man muss die Erklärung in den Widersprüchen der heutigen US-Gesellschaft und in den Bedingungen des globalen Kapitalismus im 21. Jahrhundert suchen.

Dylann Roofs Motiv mag der Rassismus gewesen sein, aber in den vergangenen zwanzig Jahren hat es Dutzende ähnliche Massaker gegeben, deren Täter jeweils unterschiedliche Motive hatten. Sie alle repräsentierten im Wesentlichen das gleiche gesellschaftliche Phänomen: Es waren entfremdete Individuen und in der Regel Einzeltäter, deren mörderische Wut sich gegen Gruppen unschuldiger Menschen richtete: gegen Schüler und Studenten an der Columbine High School und der Virginia Tech; gegen Kinobesucher in Aurora, Colorado; gegen Einwanderer in einem Bürgerzentrum in Binghamton, New York; gegen Schüler und ihre Lehrer in Newtown, Connecticut; und gegen Wähler, die ihre Abgeordnete in Tucson, Arizona, aufsuchten.

Massenmorde sind ein gesellschaftliches und kein individuelles Phänomen. Sie müssen als Ausdruck gesellschaftlicher Probleme verstanden werden: Sie drücken die tiefen Widersprüche des amerikanischen Kapitalismus und vor allem die Tatsache aus, dass die amerikanische Regierung auf allen Ebenen immer mehr auf Gewalt zurückgreift.

Präsident Obama erklärte am Donnerstag: „Solche Massaker kommen in keinem andern entwickelten Land vor.“ Damit wollte er betonen, dass die freizügigen Waffengesetze in den USA das Problem seien. Doch das ist eine weitere oberflächliche und hohle Erklärung, auf die bürgerliche Politiker und vor allem Vertreter der Demokratischen Partei gerne zurückgreifen.

In Wirklichkeit ist das Hauptmerkmal, das die Vereinigten Staaten von allen anderen Ländern unterscheidet, die ständige Anwendung von „Massengewalt“ in aller Welt durch die US-Regierung.

In den letzten fünfundzwanzig Jahren hat das amerikanische Militär fast durchgängig Krieg geführt: den ersten Golfkrieg (1991); in Somalia (1992–1994); in Bosnien und im Kosovo (1995–1999); in Afghanistan (von 2001 bis heute); den zweiten Golfkrieg (2003–2011); in Libyen (2011) und heute den dritten Krieg im Irak, dieses Mal auch in Syrien (von 2014 bis heute). Dazu kommt der „Krieg gegen den Terror“, der in sein fünfzehntes Jahr geht und weder geographische noch zeitliche Grenzen kennt. Er dient im Ausland und im Innern der USA als Vorwand für brutale Unterdrückung.

Millionen Menschen sind in diesen Kriegen und Bürgerkriegen umgekommen. Sie machen die Präsidenten George W. Bush und Barack Obama zu den größten Massenmördern des 21. Jahrhunderts. Obama trifft sich wöchentlich mit Beratern der CIA und des Militärs, um Listen von Personen abzusegnen, die mit Hilfe von Drohnen durch Cruise Missiles ermordet werden sollen.

Was sind die Folgen von einem Vierteljahrhundert amerikanischer Kriege? In aller Welt sind über sechzig Millionen Menschen auf der Flucht, überwiegend aus Ländern wie Syrien, dem Irak, dem Jemen, aus Libyen und Afghanistan. Amerikanische Invasionen und von Washington provozierte Bürgerkriege haben diese Länder zerstört, um die Kontrolle der USA über Ölvorräte und strategische Positionen zu sichern.

Dieser entsetzliche Blutzoll würde sich gewaltig vervielfachen, sollten die Konfrontationen mit Russland um die Ukraine, die die USA zurzeit anstacheln, und mit China um das Südchinesische Meer in einen Krieg zwischen atomar bewaffneten Mächten münden.

Innerhalb der Vereinigten Staaten werden demokratische Herrschaftsformen ständig weiter unterhöhlt. Der militärisch-geheimdienstliche Apparat, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt, behandelt die amerikanische Bevölkerung zunehmend als den Feind im Innern. In diesem Kontext steht die enorme Zunahme von Polizeigewalt gegen Jugendliche und Arbeiter aller Hautfarben. Die Ereignisse von Ferguson im US-Bundesstaat Missouri haben im letzten Jahr drastisch gezeigt, dass die Methoden des Kriegs in Afghanistan und im Irak jetzt auch im Inland gegen die amerikanische Arbeiterklasse eingesetzt werden.

Ein Vierteljahrhundert Krieg hat die amerikanische Politik, Kultur und die Medien vollkommen verdorben. Die Glorifizierung militärischer Gewalt, die unablässige Kriegstreiberei und das Schüren einwanderer- und muslimfeindlicher Stimmungen verpesten die Gesellschaft.

Führende Mediengrößen diskutieren das „Eliminieren“ von Menschen, als sei es das Normalste von der Welt, während Politiker in ihrem Wahlprogramm den alltäglichen Mord propagieren. Nur drei Wochen vor dem schrecklichen Ereignis in der Emanuel AME-Kirche eröffnete Senator Lindsey Graham aus South Carolina seinen Präsidentschaftswahlkampf mit der Drohung: „Wenn ich Präsident der Vereinigten Staaten bin und einer plant, sich al-Qaida oder dem IS anzuschließen, dann rufe ich nicht nach dem Richter, sondern bestelle eine Drohne, um ihn umzubringen.“

Der zunehmende Militarismus zeigt deutlich, in welcher Sackgasse der amerikanische Kapitalismus steckt. Wenn es überhaupt noch Wirtschaftswachstum gibt, nutzt es ausschließlich den Superreichen, die immer größeren privaten Reichtum anhäufen – alles auf Kosten der Arbeitsplätze und des Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung. Lange vorbei sind die Tage, als die US-Wirtschaft noch das Tempo für die Welt vorgab oder als die amerikanischen Arbeiter den höchsten Lebensstandard hatten. Die US-Gesellschaft, ihre Schulen, ihre physische Infrastruktur, ihre Institutionen – alles zerfällt.

Wofür steht Amerika heute? Die objektive gesellschaftliche Realität sind die Kriege, die Drohnenmorde, die Folter, außergesetzliche Überstellungen ins Ausland, die Polizeigewalt, die Ungleichheit, der Lauschangriff auf die Bevölkerung. Dies alles ist das exakte Gegenteil des offiziellen Mythos von Amerika als dem Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten.

Die jüngere Generation leidet am meisten unter dieser gesellschaftlichen Krise. Sie hat nie etwas anderes kennen gelernt als ein Amerika des gesellschaftlichen Niedergangs, der Gewalt und der Reaktion. Jugendliche brauchen mehr als alle anderen Ideale, Hoffnung und Chancen. Obama nutzte diese Begriffe zynisch aus, um sie an die Wall Street und die CIA zu verraten.

Nur eine Handvoll speziell desorientierter Personen wird auf diese gesellschaftliche Krise wie Dylann Roof reagieren. Einige weitere werden der Reaktion in die Hände fallen und sich als Polizeischläger, CIA-Mörder oder bürgerliche Politiker verdingen. Aber die große Mehrheit der Jugend und der Arbeiterklasse insgesamt bewegt sich nach links und wird in Massenkämpfe gegen das kapitalistisches System und seine Herrscher gehen.

Die Aufgabe besteht darin, diese kommende Bewegung mit einer revolutionären Perspektive zu bewaffnen, die allein der Menschheit wirkliche Hoffnung bietet: Der Kampf zur Überwindung von kapitalistischer Gewalt, Unterdrückung und Ungleichheit und für den Aufbau einer menschlichen und solidarischen Weltgesellschaft.

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