Perspektive

Die gesellschaftlichen Wurzeln des Rassismus in Amerika

US-Präsident Barack Obama äußerte am Montag in einem Podcast-Interview mit dem Komiker Marc Maron, Rassismus läge in der DNA der Amerikaner. Er erklärte: „Wissen Sie, das Vermächtnis der Sklaverei, der Jim-Crow-Gesetze [Rassentrennung], der Diskriminierung in fast allen Institutionen unseres Lebens ‒ das alles wirft einen langen Schatten, und es ist noch immer Teil unserer weitervererbten DNA.“

Die Benutzung des Begriffs „DNA“ war seitens Obama wahrscheinlich als etwas schlecht gewählte Metapher gemeint, aber er dient dennoch einem eindeutigen politischen Zweck. Auf diese Weise lässt sich Rassismus leichter als ein im Grunde biologisches Phänomen darstellen – eine Auffassung, die, wie auch jedes rassistische Denken, unwissenschaftlich und reaktionär ist.

Die Äußerungen des Präsidenten fallen mit einer ausgedehnten Medienkampagne zusammen, die den tragischen Massenmord in Charleston, South Carolina benutzt, um alle Fragen der amerikanischen Gesellschaft vom Standpunkt der Hautfarbe zu betrachten, ohne Rücksicht auf soziale, wirtschaftliche oder historische Zusammenhänge. Vor allem die New York Times räumt Polemiken und Erörterungen über den Charakter von „Weißsein“ und „Schwarzsein“ und die angeblich unüberbrückbare Kluft zwischen den Rassen viel Platz auf ihren Meinungsseiten ein.

Die überzeugtesten und reaktionärsten Verfechter der Vorstellung, Rassismus sei in der Verschiedenheit der Rassen begründet, waren historisch diejenigen, die behaupteten, Schwarze seien Weißen von Natur aus unterlegen. Die deutschen Nazis rechtfertigten ihre Massenumsiedlungen und Völkermorde mit wirren Argumenten über biologisch festgelegte Unterscheidungsmerkmale. Rassismus und rassistische Politik wurden mit der Erklärung begründet und gerechtfertigt, zwischen den Rassen bestünden grundlegende Unterschiede.

Sozialisten lehnen diese Vorstellungen ab. Rassismus existiert in den USA, und er hat in der Vergangenheit existiert. Nicht selten hat er schreckliche Formen angenommen: Bombenanschläge, Lynchmorde, Rassentrennung. Doch Rassismus lässt sich nur auf seinem realen sozialen Hintergrund verstehen, als verzerrter Ausdruck von Klassenverhältnissen und sozialen Interessen.

Die Wurzeln des amerikanischen Rassismus liegen im System der Sklaverei. Der Rassismus in den ehemaligen Südstaaten diente den Interessen der Sklavenhalter. Sie rechtfertigten ihre eigene grausame und schamlose Ausbeutung des sozioökonomischen Systems der Plantagenaristokratie mit der Lüge, Schwarze seien als Rasse minderwertig,

Im Amerikanischen Bürgerkrieg wurde die Sklavenhalterklasse durch eine massive gesellschaftliche Mobilisierung zerschlagen. 300.000 Weiße aus den Nordstaaten zogen trotz ihrer angeblichen genetischen Veranlagung in den Kampf, um „als Befreier der Menschen zu sterben“ („die to make men free“), wie es in dem Lied The Battle Hymn of the Republic hieß.

In den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg entwickelte sich die Wirtschaft in einem Schwindel erregenden Tempo. Das Wachstum der Städte und die Industrialisierung nahmen in nie dagewesenem Ausmaß zu. Diese Prozesse gingen einher mit dem Anwachsen der Arbeiterbewegung und militanten Streiks. Viele führende Persönlichkeiten des Kampfes gegen die Sklaverei – beispielsweise der große Abolitionist Wendell Phillips – wurden Aktivisten der Arbeiterbewegung.

Im Süden, wo das Sharecropping [Verpachtung von Boden für einen Anteil an der Ernte] an die Stelle der Sklaverei trat, entstanden populistische Volksbewegungen, die von Millionen weißer und schwarzer Landarbeiter unterstützt wurden.

Unter diesen Bedingungen schuf der Oberste Gerichtshof mit seinem Urteil im Fall Plessy vs. Ferguson von 1896 den rechtlichen Rahmen für die Rassentrennung, und rassistische Gewalt wurde offen geduldet und propagiert. Der Ku Klux Klan verfolgte nicht nur das Ziel, Schwarze zu terrorisieren, sondern auch – was untrennbar miteinander verbunden war – alle Versuche zu unterbinden, dass sich schwarze und weiße Arbeiter auf der Grundlage gemeinsamer Klasseninteressen vereinigten.

Die sozialen Fortschritte der Afroamerikaner in der darauffolgenden Periode wären nicht möglich gewesen ohne die Arbeiterbewegung, zu der auch die Russische Revolution und die großen Arbeitskämpfe der 1930er und der späteren Jahrzehnte gehörten.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kämpften die sozialistisch orientierten Arbeiter und Intellektuellen, die den Aufbau der Industriegewerkschaften anführten, mutig gegen den Rassismus, den die Konzerne und die alten AFL-Zunftgewerkschaften schürten. Allerdings wurde diese Arbeit vor allem in den Südstaaten durch das politische Bündnis der Gewerkschaften mit der Demokratischen Partei beeinträchtigt, die damals für Rassentrennung und die Besserstellung der Weißen eintrat.

In den 1960ern führte die zunehmende Krise des amerikanischen Kapitalismus zur Entstehung der Bürgerrechtsbewegung, Ghetto-Aufständen, einer Welle von militanten Streiks und der Massenbewegung gegen den Vietnamkrieg.

Die herrschende Klasse reagierte auf diese Unruhen, indem sie wieder die Rassenzugehörigkeit zum entscheidenden Kriterium in der amerikanischen Gesellschaft erklärte. Gleichzeitig erhielt ein Teil der afroamerikanischen Bevölkerung durch Identitätspolitik wie Affirmative Action Macht und privilegierte Positionen. Afroamerikaner konnten Vorstandschefs, Kongressabgeordnete, Richter, Polizeibeamte und, mit Obamas Wahlsieg, Präsident der Vereinigten Staaten werden.

Diese neue Form von Politik auf der Grundlage von Hautfarbe unterschied sich zwar von dem alten Rassismus der Sklavenhalteraristokratie in den Südstaaten und der Verfechter einer Überlegenheit der Weißen, hatte aber das gleiche Ziel: die grundlegenden Klassenfragen zu vertuschen und die Entwicklung einer vereinten Bewegung der Arbeiter aller Hautfarben auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Klasseninteressen zu verhindern.

Die Integration der Rassenpolitik in den Rahmen der bürgerlichen Herrschaft geht einher mit massiven Angriffen auf die sozialen Bedingungen der arbeitenden Bevölkerung. Zu denen, die am stärksten vom Anwachsen der Armut und des sozialen Elends betroffen sind, gehören die unteren Schichten der Afroamerikaner. Ihnen geht es wirtschaftlich zweifellos viel schlechter als in den 1960ern.

Bei Obamas Äußerungen und den aktuellen Leitartikeln und Kolumnen in der New York Times sticht ins Auge, wie sehr angeblich „linke“ oder „liberale“ politische Kräfte ein Verständnis von Rassismus propagieren, das sich selbst auf einer rassistischen Grundlage bewegt. Sie entwickeln Argumente, die fast schon eine intellektuelle Legitimierung der Argumente der Rassisten bedeuten.

Weil die soziale Ungleichheit und die Klassengegensätze das höchste Niveau seit den 1920ern erreicht haben, lassen die Medien, das politische Establishment und die diversen identitätspolitischen Organisationen im Umfeld der Demokratischen Partei keine Gelegenheit aus, die angeblich massive Kluft zwischen den Hautfarben in Amerika hervorzuheben. Hierin liegt der Grund für ihre unablässigen Aufrufe zum „nationalen Dialog über Rassenfragen“.

Die sozialen Bedingungen, mit denen die große Mehrheit der Bevölkerung konfrontiert ist, findet bei diesen „Dialogen“ nicht die geringste Beachtung. Unangenehme Wahrheiten wie der Niedergang von Städten wie Baltimore und Detroit, die seit Jahrzehnten von afroamerikanischen Bürgermeistern regiert wurden; die wachsende Armut in überwiegend weißen Gebieten oder die Folgen der Politik der Obama-Regierung werden einfach ignoriert.

Sie können diese Klassenfragen nicht diskutieren, denn dann würden sie ein Schlaglicht auf das werfen, was Millionen von Arbeitern aller Hautfarben zunehmend verstehen: dass Rassismus und rassistische Politik ideologische Werkzeuge einer bankrotten und todkranken Gesellschaftsordnung sind − des Kapitalismus.

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