Auschwitz-Buchhalter Gröning zu vier Jahren Gefängnis verurteilt

Das Landgericht Lüneburg verurteilte am Mittwoch den 94-jährigen ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 300.000 Juden im Konzentrationslager Auschwitz zu vier Jahren Gefängnis. Das Gericht unter Vorsitz des Richters Franz Kompisch ging damit um ein halbes Jahr über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinaus.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Staatsanwaltschaft und Verteidigung haben eine Woche Zeit, Revision einzulegen. Ob Gröning jemals eine Haftstrafe antreten muss, ist wegen seiner angeschlagenen Gesundheit fraglich. Die meisten Nebenkläger und ihre Anwälte zeigten sich aber mit dem Urteil zufrieden. Ihnen ging es vor allem darum, ein Zeichen zu setzen, dass sich kein Täter sicher fühlen kann, auch wenn seine Taten noch so lange zurückliegen.

Das Urteil ist vor allem eine vernichtende Anklage gegen die deutsche Justiz, die in der Nachkriegszeit von ehemaligen Nazi-Richtern durchsetzt war und bis zum ersten Auschwitzprozess 1963 überhaupt keine KZ-Täter verfolgte. Dann bewertete sie jahrzehntelang nur die direkte Mitwirkung an einer Tötungshandlung als Beihilfe zum Mord. Die Strafverfolgung musste konkret nachweisen, dass der Angeklagte direkt an Tötungshandlungen beteiligt war, was nach Jahrzehnten in der Regel kaum möglich war. Das änderte sich erst 2011 mit dem Demjaniuk-Prozess in München.

Auch die Gesetzgebung hatte gezielt verhindert, dass Nazitäter vor Gericht kamen oder verurteilt wurden. 1979 wurde gegen großen Widerstand im Bundestag in letzter Minute verhindert, dass Mord verjährt, was jede weitere Strafverfolgung unmöglich gemacht hätte.

Mit dem Argument, er sei nicht direkt an Tötungshandlungen beteiligt gewesen, hatte auch Grönings Verteidigung in Lüneburg Freispruch beantragt. Das Gericht wies dies jedoch zurück. Richter Kompisch begründete das Urteil damit, dass Auschwitz „eine auf die Tötung von Menschen ausgerichtete Maschinerie“ war, in der sich jeder, der mithalf, juristisch schuldig machte.

Nur die direkte Beihilfe zu einer Tötungshandlung als Beihilfe zum Mord zu bewerten, sei mit dem vergleichbar, was bei der Planung der Konzentrationslager geschehen sei. „Man hat das Gesamtgeschehen zergliedert und in Einzelteile zerlegt.“ Kompisch nannte dies „eine seltsame Rechtsprechung“.

Nach dem – zweifellos richtigen – Kriterium, das nun das Gericht in Lüneburg zugrunde legte, hätten viele Zehntausende oder Hunderttausende zur Rechenschaft gezogen werden müssen, die Teil der Mordmaschinerie der Nazis waren und nach dem Krieg in der Bundesrepublik ein geruhsames Leben führten und Karriere machten.

Auch Grönings eigene Rolle in Auschwitz war sei Jahrzehnten bekannt. 1978 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet, bei dem er bereitwillig aussagte. Es wurde 1985 eingestellt. 1984 sagte er als Zeuge gegen Gottfried Weise aus, der in Auschwitz Kinder erschossen hatte und deshalb zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. 2005 gab er der BBC und dem Spiegel ausführliche Interviews über seine Erlebnisse in Auschwitz.

Gröning hatte zwar von Beginn des Prozesses an eingeräumt, er habe sich moralisch mitschuldig an den Verbrechen gemacht, aber er sei nur „ein armer, kleiner Unteroffizier“ gewesen. „Mir ist bewusst, dass ich mich durch meine Tätigkeit in der Häftlingsgeldverwaltung am Holocaust mitschuldig gemacht habe, mag mein Anteil auch klein gewesen sein“, ließ er in einer von seiner Anwältin verlesenen Erklärung mitteilen.

Das Gericht erkannte darauf, dass Gröning als Buchhalter, der akribisch seine Pflicht erfüllte, durchaus an den bestialischen Verbrechen mitschuldig war. Diese Art der „Pflichterfüllung“ hat in Deutschland eine lange, unselige Tradition. Selbst Adolf Eichmann führte sie in seinem Prozess in Israel als Rechtfertigung an. Ebenso die Angeklagten in den Auschwitzprozessen der 60er Jahre.

Gröning, aufgewachsen in einer streng nationalistisch eingestellten Familie (der Vater war Mitglied des Stahlhelms), hatte sich als junger Mann und überzeugter Nationalsozialist freiwillig zur SS gemeldet und eine Verpflichtungserklärung unterschrieben, die ihm strengstes Stillschweigen auferlegte.

Er wurde ins Konzentrationslager Auschwitz abgeordnet, wo es ihm als gelerntem Bankbeamten oblag, das den Deportierten abgenommene Geld zu zählen und nach Währungen sortiert nach Berlin weiterzuleiten. Gelegentlich tat er auch Wachdienst an der Rampe, wo die Ankommenden selektiert und der größte Teil von ihnen in die Gaskammern geleitet wurde, während ein kleiner Teil der „Vernichtung durch Arbeit“ zugeführt wurde, um deutschen Unternehmen billigste Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Nach eigenem Bekunden habe er dort nur das Gepäck bewacht, das den Gefangenen abgenommen wurde.

Richter Kompisch ließ zu Recht Entschuldigungen wegen der geringen Rolle, die Gröning gespielt habe, nicht gelten: „Herr Gröning, Sie wollen uns doch nicht erzählen, dass Sie das Leid der Menschen nicht gesehen haben. Natürlich haben Sie das gesehen!“ Grönings Aussage, er habe nur das Gepäck bewacht, mindere seine Schuld nicht. „Das Gepäck zu bewachen, reicht schon aus, um den reibungslosen Ablauf zu fördern.“

Auch Zeitgeist oder die konservative Erziehung des Angeklagten rechtfertigten nach Ansicht des Gerichts seine Rolle in dem Vernichtungsprozess nicht: „Sie waren ein ganz normaler Mensch, Herr Gröning“, erklärte der Richter. „Sie hatten eine Sparkassenausbildung, trieben Sport, trafen Menschen. Sie hatten auch ein eigenes Denken. Natürlich gab es Indoktrination, aber das Denken hat bei den Menschen doch nicht aufgehört. Sie haben sich entschieden, Sie wollten dabei sein. Sie wollten zu der schneidigen, zackigen Truppe der SS gehören. Das ist eine Entscheidung.“

Für diese Entscheidung trage er Verantwortung, „sicherlich aus der Zeit heraus bedingt, aber nicht unfrei“. Gröning sei es offenbar lieber gewesen, in Auschwitz zu sein als an der Front. „Ich will Sie hier nicht als feige bezeichnen, Herr Gröning, aber Sie haben sich hier für den sicheren Schreibtischjob entschieden.“

Dass Gröning sich durchaus über den verbrecherischen Charakter seiner Tätigkeit bewusst war, wird auch daraus deutlich, dass er zweimal nach besonders grausamen Vorfällen um Versetzung gebeten, aber sich dann gefügt hatte. Erst beim dritten Mal sei sein Gesuch erfolgreich gewesen.

Der erste Vorfall ereignete sich 1942 an der Rampe. Er sah, wie ein SS-Mann ein zwischen den Habseligkeiten der Gefangenen zurückgebliebenes schreiendes Baby aufnahm. „Er schlug es gegen einen LKW und das Schreien hörte auf,“ sagte er. „Da blieb mir das Herz stehen.“ Er sei zu dem Mann gegangen und habe gesagt: „Das geht doch nicht.“ Als er um Versetzung gebeten habe, habe sein Vorgesetzter ihn lautstark an seine Verpflichtungserklärung erinnert.

Mit der Ablehnung seiner Versetzungsgesuche fand er sich ab. Er zählte und sortierte weiter das Geld der Toten und betäubte sich mit Wodka.

Zugunsten des Angeklagten wurde berücksichtigt, dass er sich trotz seines hohen Alters und seiner schwachen Gesundheit dem Verfahren gestellt und seine Mitschuld nicht geleugnet habe. Er hätte sicher einen Arzt finden können, der ihm Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt hätte.

Um das Verfahren nicht in die Länge zu ziehen und so zu gefährden, hatte die sich Anklage auf die sogenannte Ungarn-Aktion beschränkt. In den zwei Monaten vom 16. Mai 1944 bis zum 11. Juli 1944 deportierte die SS etwa 425.000 Juden aus Ungarn ins Konzentrationslager Auschwitz, von denen mindestens 320.000 sofort in den Gaskammern getötet wurden.

Wie der Historiker Stefan Hördler an einem der letzten Verhandlungstage vor Gericht erklärte, wurde das Konzentrationslager Auschwitz gezielt auf die Massenvernichtung der ungarischen Juden vorbereitet. „Für die Ungarn-Aktion wurden gezielt Mord-Experten nach Auschwitz gebracht“, sagte der Historiker.

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