Hohe Einkommensungleichheit in Deutschland

„Schaut man sich die Entwicklung seit dem Jahr 2000 an, so kann man eindeutig sagen, dass die Schere zwischen den ärmeren und reicheren Einkommensschichten auseinandergegangen ist.“ So fasst Mitautor Markus Grabka das Ergebnis einer aktuellen Studie über Einkommensungleichheit und Armutsrisiko in Deutschland zusammen.

Die Autoren verwenden Datensätze, die das wahre Ausmaß der Ungleichheit und Armut schönen. Sie setzen beispielsweise die Armutsquote noch niedriger an als das Bundesamt für Statistik. Trotzdem zeigt die Studie, wie stark geringe und hohe Einkommen auseinanderdriften.

Grabka und zwei weitere Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) haben die Entwicklung der Löhne und Kapitaleinkünfte im Zeitraum 2000 bis 2012 analysiert, in dem auch die verhassten Hartz-Reformen begannen. Sie stützten sich dabei auf Daten aus einer regelmäßigen DIW-Befragung von 30.000 Personen und auf Angaben des Statistischen Bundesamtes.

Während die oberen zehn Prozent (das so genannte zehnte Dezil) ihre Einkommen um mehr als 15 Prozent steigern konnten, „blieben sie in den mittleren Einkommensgruppen fast unverändert“. Die unteren 40 Prozent, also über 30 Millionen Menschen, „haben real sogar bis zu vier Prozent weniger als noch zur Jahrtausendwende“.

Reale Einkommen von Personen in Privathaushalten nach Einkommensdezilen, Veränderung gegenüber 2000 in Prozent [Quelle: DIW Wochenbericht 25/15]

Die Medien berichteten kaum über die Studie. Und wenn, wie etwa die Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, behaupteten sie: „Die Schere geht nicht weiter auf.“ Laut Studie ist die Ungleichheit bis 2005 stark angestiegen, zeigte aber seitdem keinen größeren Anstieg mehr. Was durch die Einteilung in Dezile jedoch verschleiert wird, sind die krassen Einkommenszuwächse des obersten Prozents, die sich im obersten Zehntel, Hundertstel und Tausendstel noch einmal steigern.

Der Mitverfasser der Studie Grabka führt an, dass „bei den oberen Einkommensbeziehern die Kapitaleinkommen und die Einkommen aus Unternehmertätigkeit eine zentrale Rolle spielen“. Diese seien im Vergleich zu den Arbeitslöhnen deutlich gewachsen: Insgesamt stiegen „die realen Vermögenseinkommen seit dem Jahr 2000 um etwa 30 Prozentpunkte – und damit vier Mal so stark wie die Arbeitnehmerentgelte im selben Zeitraum“.

Arbeiter im Ruhestand leiden unter realen Renteneinbußen, da der Anstieg der letzten Jahre nicht einmal die Verluste durch die Inflation ausglich. Die Altersarmut nimmt deswegen rasant zu.

Die Stagnation der Löhne, deutet die Studie lediglich in einer Fußnote an, sei auf das Anwachsen der „atypischen Beschäftigung“ zurückzuführen. Laut Angaben der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung waren 2013 „43,3 Prozent aller Arbeitsverhältnisse Minijobs, Teilzeitstellen oder Leiharbeit“.

Laut offiziellen Angaben haben zwar heute so viele Menschen eine Arbeit wie nie zuvor. Doch Arbeit schützt häufig nicht mehr vor Armut. Millionen, auch Vollzeitarbeitende, müssen ihren Niedriglohn durch Hartz-IV „aufstocken“.

Grabka weist das anhand von Daten aus dem östlichen Teil Deutschlands nach: „Zwischen Februar 2005 und Mai 2015 ist die Zahl der Arbeitslosen in Ostdeutschland um nahezu 60 Prozent zurückgegangen.“ Trotzdem verharre „das Armutsrisiko in Ostdeutschland bei rund 20 Prozent“. Ein großer Teil der neu entstanden Arbeitsplätze sei im Niedriglohnbereich entstanden.

Da ist es nicht verwunderlich, wenn die Armut seit Jahren auf hohem Niveau verharrt: Von 2000 bis 2005 erhöhte sie sich von 10 auf 15 Prozent der Bevölkerung. Als arm – wissenschaftlich: „armutsgefährdet“ – gelten Personen mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens.

2012 waren laut DIW 14 Prozent der Bevölkerung oder 11 Millionen Menschen von Armut betroffen. Für einen Alleinstehenden bedeutet das, dass er weniger als 949 Euro netto im Monat zur Verfügung hat. Das Statistische Bundesamt nennt höhere Zahlen. Danach waren 2012 16,1 Prozent der Bevölkerung oder 13 Millionen Menschen armutsgefährdet.

Das höchste Armutsrisiko haben junge Erwachsene, Alleinerziehende und ältere Menschen. Das Armutsrisiko für junge Alleinlebende hat „sich seit 2000 um zwölf Prozentpunkte auf knapp 40 Prozent im Jahr 2012 erhöht“. Unter den über 65-Jährigen hat sich zwar die Beschäftigungsquote „seit dem Jahr 2000 … um 20 Prozentpunkte erhöht“. Trotzdem ist das Armutsrisiko dieser Gruppe beträchtlich gestiegen.

Neben der gängigen Definition von Armut durch das mittlere Einkommen betrachteten die Forscher auch weitere materielle und finanzielle Aspekte. Wer etwa drei von neun als wichtig erachteten Alltagsgütern nicht erwerben kann, gilt nach der europäischen Sozialberichterstattung als arm. Wer keine finanziellen Rücklage aufweisen, sich keine kurze Urlaubsreise gönnen oder nicht mit Freunden zum Essen ausgehen kann, gehört ebenfalls zu den Armen. 2001 lag diese Quote bei 12,9 Prozent aller Haushalte. Sie verdoppelte sich beinahe bis zum Jahr 2007 und lag 2013 bei 16,1 Prozent; zu der Zeit waren fast 6,5 Millionen Privathaushalte von Armut betroffen.

Ein großer Teil der Bevölkerung lebt von einem Monatsgehalt zum nächsten. Monatliches Sparen war 2001 für 36 Prozent aller Haushalte unmöglich, bis 2013 stieg dieser Anteil leicht. Leiharbeiter, Minijobber oder Teilzeitbeschäftigte kämpfen daher mit weitreichenden Auswirkungen auf ihr Privatleben.

Die oben angesprochene Spreizung von Kapitaleinkommen und Löhnen spiegelt sich unmittelbar in den mittleren Einkommen wider. So verringerte sich das Medianeinkommen „zwischen 2000 und 2005 von ca. 21.000 Euro pro Jahr auf ca. 18.900 Euro pro Jahr“. Und trotz „eines anschließenden Anstiegs lag es im Jahr 2012 mit 20.300 Euro immer noch unter dem Niveau zur Jahrtausendwende“. Das heißt, die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland lebt von 20.300 Euro im Jahr – das sind 1.691 Euro im Monat – oder weniger.

Die soziale Ungleichheit wird weiter steigen. Das ist auch das Ergebnis einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung in Zusammenarbeit mit der Prognos AG. Danach werden zwar die Lohneinkommen der Beschäftigten in Deutschland bis 2020 insgesamt steigen. „Allerdings wird parallel die Lohnungleichheit zunehmen, denn Geringverdiener, Sozialberufe, Dienstleister und Haushalte mit Kindern profitieren erheblich weniger“, schreibt die Stiftung.

Dass diese Entwicklung nicht auf Deutschland beschränkt ist, zeigen viele weitere Studien. Im nächsten Jahr wird einem Bericht des Wohlfahrtsverbandes Oxfam zufolge das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr Reichtum angehäuft haben als die restlichen 99 Prozent zusammen. Der Reichtum der über 2000 Milliardäre der Welt betrug laut einem Report der Bank UBS 2014 7,3 Billionen US-Dollar, 12 Prozent mehr als im Vorjahr.

Wachsende soziale Ungleichheit ist im Kapitalismus eine Grundtendenz. Für Karl Marx war schon vor 150 Jahren klar, dass die „Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol … zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol“ bedeutet.

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