Türkei bereitet sich auf Krieg vor

Die Regierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und der amtierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) hat das Militär und die Polizei für eine landesweite Operation gegen die kurdische nationalistische Bewegung unter Führung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die „linke“- und Antikriegsbewegung im Allgemeinen mobilisiert. Mehr als 1.300 Menschen wurden wegen Terrorismusverdachts verhaftet.

Gleichzeitig forderte Erdogan die Aufhebung der Immunität für Abgeordnete mit Beziehungen zur PKK. Damit hofft er, die neue pro-kurdische Partei HDP aus dem Verkehr zu ziehen, die bei der letzten Wahl dreizehn Prozent der Stimmen gewann und Erdogans AKP damit die absolute Mehrheit genommen hat.

Der Präsident hat damit praktisch deutlich gemacht, dass sich das Land nicht nur mit Syrien im Krieg befindet, sondern auch mit seiner eigenen kurdischen Bevölkerung, und dass kein Widerstand geduldet wird.

Vorausgegangen war die Entscheidung der Türkei, sich an der Militäraktion unter Führung der USA zu beteiligen, die sich angeblich gegen den Islamischen Staat (IS) richtet, in Wirklichkeit jedoch darauf abzielt, das Regime des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu stürzen. Ankara hat den USA erlaubt, seinen Luftwaffenstützpunkt bei Incirlik für Operationen gegen den IS zu benutzen, wenn Washington im Gegenzug der Einrichtung einer „Schutzzone“ im Nordwesten Syriens für „gemäßigte syrische Oppositionskräfte“ zustimmt, die dort von türkischen und amerikanischen Luftstreitkräften geschützt werden sollen.

Obwohl die Türkei Luftangriffe gegen Stellungen des IS in Syrien durchgeführt hat, sind ihre tatsächlichen Ziele Stellungen der PKK im Nordirak und ihrer Verbündeten, der PYD/YPD in Syrien, die im Norden Syriens entlang der türkischen Grenze eine autonome Zone errichtet haben. Die PKK führt seit mehr als 30 Jahren einen bewaffneten separatistischen Aufstand, der mehr als 40.000 Todesopfer gefordert hat. Mittlerweile ist sie eine der wichtigsten Kampfparteien gegen den IS im Irak und in Syrien.

Berichten zufolge hat die Türkei drei schwere Luftangriffe gegen Ziele der PKK durchgeführt, am letzten waren am Donnerstag, 30 F16-Kampfflugzeuge beteiligt. Bereits vor diesem Luftangriff wurden laut türkischen Quellen 190 PKK-Mitglieder getötet und 300 verwundet.

Die Türkei will mit der „Schutzzone“ die türkischen Separatisten daran zu hindern, ein zusammenhängendes Gebiet an der syrisch-türkischen Grenze zu besetzen. Sie befürchtet, dass dieses sich zu einem autonomen Kurdengebiet entwickeln und Ansprüche auf die überwiegend von Kurden bewohnten Gebiete der Türkei erheben könnte. Das bedeutet, dass alle Versuche, eine Einigung mit den Kurden in der Türkei zu erzielen, eingestellt werden. Der hochgelobte „Friedensprozess“ ist damit trotz aller Anstrengungen des politischen Establishments tot.

Selahattin Demirtaş, der Mitvorsitzende der HDP, verurteilte den Vorschlag einer „Schutzzone“ als Trick. Er erklärte: „Die Türkei will in dieser Schutzzone nicht gegen den IS kämpfen. Es beunruhigt die türkische Regierung sehr, dass die Kurden versuchen, in Syrien einen autonomen Staat zu errichten.“

Ankaras zunehmendes Engagement in Syrien ist auch verschärften politischen und wirtschaftlichen Spannungen in der Türkei geschuldet. Der amtierende Premierminister Ahmet Davutoglu versucht, eine neue Regierungskoalition zu bilden.

Die Polizeiaktion war eine Reaktion auf den Selbstmordanschlag am 20. Juli in der überwiegend von Kurden bewohnten südosttürkischen Stadt Suruc, wo sich Aktivisten versammelt hatten, um in die syrische Stadt Kobane zu reisen und dort beim Wiederaufbau zu helfen. 31 Aktivisten wurden getötet und hunderte verletzt. Laut einem Bericht der syrischen Nachrichtenagentur SANA hatte Demirtaş bei einer HDP-Veranstaltung geäußert, dass der Terroranschlag, für den die AKP-Regierung den IS verantwortlich macht, in Wirklichkeit das Werk von Regierungsagenten war, die einen Vorwand für eine Militäraktion schaffen wollten.

Die PKK warf der Regierung vor, sie habe nichts getan, um den Bombenanschlag zu verhindern oder die Bevölkerung zu schützen und begann eine Offensive gegen die Polizei und Sicherheitskräfte. Fünfzehn Menschen wurden getötet, Autos und Dienstfahrzeuge wurden angezündet und Straßen zerstört.

Premierminister Davutoglu erklärte am 28. Juli: „Die Operationen der Türkei werden nötigenfalls fortgesetzt, bis die Kommandozentralen der Terrororganisationen, alle Orte, an denen sie Aktionen gegen die Türkei planen und alle Lager für Waffen, die gegen die Türkei eingesetzt werden, zerstört sind.“

Die Razzien und Verhaftungen gingen mit einer Selbstzensur der türkischen Medien einher. Nach einem Treffen zwischen Davutoglu und den Redaktionen der Mainstreammedien schürten diese ein Klima der Panik und der Einschüchterung, um die Eskalation des Krieges gegen Syrien zu rechtfertigen und die Aufmerksamkeit von den verbreiteten wirtschaftlichen und sozialen Problemen abzulenken.

Am 29. Juli berief die Republikanische Volkspartei eine Sondersitzung des Parlaments ein, um über die Bildung einer Kommission zu diskutieren, die die Terroranschläge nach dem Selbstmordanschlag in Suruc untersuchen soll. Auch dies macht deutlich, dass es der politischen Elite wichtiger ist, gegen den Widerstand im Inneren und den kurdischen Nationalismus zu kämpfen, als gegen den IS Krieg zu führen.

Der Vorschlag der CHP wurde zwar abgelehnt, aber Abgeordnete der drei Oppositionsparteien - der CHP, der faschistischen MHP und der pro-kurdischen HDP - warfen der Regierung vor, sie verschärfe die Spannungen. HDP-Parteichef Demirtaş rief die Regierung dazu auf, die Verhandlungen mit der PKK wieder aufzunehmen. Regierungssprecher Bülent Arnc dementierte Behauptungen, die Regierung habe den „Friedensprozess“ aufgegeben.

Der Sondersitzung des Parlaments war ein politischer Angriff auf die HDP vorausgegangen. Laut der Tageszeitung Hürriyet hatte die Generalstaatsanwaltschaft in Diyarbakir Ermittlungen gegen Demirtaş eingeleitet weil er im letzten Oktober die Proteste für Kobane und gegen die Unterstützung der Regierung für den IS unterstützt hatte, bei denen 35 Menschen ums Leben kamen, darunter zwei Polizeibeamte. Demirtaş droht eine vierundzwanzigjährige Haftstrafe, wenn die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss kommt, dass er schuldig ist und seine parlamentarische Immunität aufgehoben wird.

Einen Tag bevor der Generalstaatsanwalt am 28. Juli tätig geworden war, hatte Erdogan vor seiner Abreise nach China erklärt, Politikern, die mit Terrorgruppen verbündet seien, sollte die Immunität aberkannt werden.

Erdogan erklärte: „Diejenigen, die die Toleranz und die Geduld der Bevölkerung und des Staates ausnutzen, werden so schnell wie möglich die Antwort erhalten, die sie verdienen. Ein Zurückweichen steht außer Frage. Dies ist ein Prozess und er wird mit der gleichen Entschlossenheit weitergeführt werden.“

Zuvor hatte Devlet Bahceli, Parteichef der MHP, die alle Zugeständnisse an die türkischen Kurden ablehnt, die Generalstaatsanwaltschaft des Obersten Gerichtshofes schriftlich aufgefordert, gegen die Abgeordneten der HDP zu ermitteln.

Zuvor hatte Davutoglu als Leiter einer Regierungsdelegation die CHP- und MHP-Führung - allerdings nicht die Führung der HDP - über die aktuellen „Antiterror“-Operationen in Kenntnis gesetzt. Dieses Vorgehen macht deutlich, dass die AKP-Regierung die HDP aus Angelegenheiten der Staatssicherheit ausschließt.

Während sich die größte Oppositionspartei, die CHP, die mit der AKP über eine mögliche Koalition diskutiert, über das Thema ausgeschwiegen hat, erklärte HDP-Parteichef Demirtaş, seiner Partei drohe eine Strafe für ihren Wahlerfolg. Er rief die Partei auf, sich auf einen Kampf vorzubereiten, anstatt sich angesichts des De-facto-Kriegszustandes von der PKK zu distanzieren.

Am 28. Juli erklärte er vor seiner Parlamentsfraktion: „Sie wollen unsere Immunität? Morgen werden wir einen Antrag im Parlament einreichen... um uns selbst unsere Immunität vor Strafverfolgung abzuerkennen.“ Am darauffolgenden Tag beantragten alle 80 HDP-Abgeordneten die Aufhebung ihrer Immunität.

Am Donnerstag gab auch die oppositionelle CHP ihre Immunität auf, nachdem die Staatsanwaltschaft neun Abgeordneten der CHP, HDP und der AKP die Immunität aberkannt hatte.

Der HDP-Abgeordnete Pervin Buldan erklärte vor der Presse: „Wir sollten die Immunität aller 550 Abgeordneten aufheben, sodass jeder für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden kann.“

Es ist nicht das erste Mal, dass kurdische Parteien aus politischen Gründen angeklagt wurden. Tatsächlich haben viele Abgeordnete mehrere Jahre im Gefängnis verbracht. Die derzeitigen Versuche, die HDP in die Illegalität zu treiben, sind beispielhaft dafür, wie sich die AKP-Regierung angesichts der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Ankaras Beteiligung an den Kriegen in Syrien, im Irak und gegen die Kurden in der Türkei ablehnt, selbst gegen die grundlegendsten Normen bürgerlicher Demokratie verstößt.

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