Young Euro Classic: Ein Musikfestival gegen Krieg und Nationalismus

Es war ein denkwürdiges Abschlusskonzert, mit dem am vergangenen Sonntag das jährliche Jugendorchestertreffen Young Euro Classic im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt zu Ende ging.

I, Culture Orchestra ((c) Young Euro Classics, Kai Bienert)

Ein eigens für das Festival gegründetes „Europäisches Friedensorchester“, bestehend aus russischen, ukrainischen, armenischen und deutschen Musikern, führte die neunte Symphonie von Beethoven auf. Das Orchester sei „unter dem Eindruck der aktuellen politischen Verhältnisse und als Symbol friedlichen Miteinanders und internationaler Verständigung“ entstanden und solle „ein Signal“ setzen, so die Festivalleitung.

Die Orchestermitglieder hatten sich in Berlin erst neun Tage vor dem Konzert zu gemeinsamen Proben getroffen und die Symphonie unter dem Dirigenten Enoch zu Guttenberg einstudiert, der auch seinen Chor KlangVerwaltung zur Verfügung stellte. Die meisten unter ihnen spielten sie zum ersten Mal.

Dennoch gelang den 73 Musikern des „Friedensorchesters“ nicht nur ein weitgehend homogenes Zusammenspiel, sie begeisterten auch durch eine schwungvolle und frische Version der Neunten Symphonie, ohne das sonst übliche Pathos, mit dem Beethoven als deutscher Nationalkomponist gefeiert wird. Der Schlusschor „Ode an die Freude“, dessen Melodie in die Europahymne eingegangen ist, und seine Friedenshoffnung „Alle Menschen werden Brüder“ klangen schließlich wie ein dringender Appell, sich gegen Krieg, unmenschliche Flüchtlingspolitik und Nationalismus in Europa zu wenden.

Das gemeinsame Erlebnis würden sie nie vergessen, betonten einige beteiligte Jugendliche aus Russland und der Ukraine in Interviews, und auch der Dirigent zu Guttenberg war nach dem Konzert sichtlich beeindruckt. Nach dem Auftritt am Sonntag löste sich allerdings das Orchester wieder auf, und seine Mitglieder kehrten zurück in die von Krieg und nationalistischen Konflikten gebeutelten Heimatländer.

Zwei unterschiedliche Pole

Am 16. Young Euro Classic Festival nahmen in achtzehn Konzerten 1500 junge Musiker aus 44 Nationen teil, darunter besonders viele aus Osteuropa, aber auch aus Russland, dem Kaukasus sowie ein Orchester aus China. Sie wurden von über 20.000 Besuchern im vollbesetzten Konzerthaus am Gendarmenmarkt bejubelt. Auf ihrem Programm standen neben klassischen Werken des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter viel Russisches von Tschaikowski, Schostakowitsch und anderen, wie immer auch Uraufführungen. Für eines der Werke wurde der Komponistenpreis an die 30-jährige Türkin Sinem Altan verliehen.

Seit seiner Gründung im Jahr 2000 hatte sich Young Euro Classic das gemeinsame Musizieren junger Künstler unterschiedlichster kultureller, nationaler und ethnischer Herkunft auf die Fahnen geschrieben und seitdem Tausende junger Musiker aus einer Vielzahl west- und osteuropäischer Länder zusammengeführt. In den vergangenen Jahren gab es beispielsweise das Orchester „Spiegelklänge“ mit Musikern aus den Balkanländern, und türkisch-armenische, deutsch-russische oder deutsch-chinesische Orchesterauftritte.

Diese Initiative, die den internationalen Charakter und die Humanität von Musik unterstrich, entsprach auch den verbreiteten Illusionen, die Europäische Union sei das Instrument für die Vereinigung Europas auf friedlicher und demokratischer Grundlage. Die EU-Institutionen selbst hatten solche Erwartungen mit kulturellen Projekten, Jugendaustausch, europäischen Freiwilligendiensten und ähnlichen Programmen gefördert.

In diesem Jahr wurde das Musikfestival jedoch von den scharfen politischen Veränderungen in Europa überlagert. Dies machte bereits die Tatsache deutlich, dass das ukrainische Jugendorchester der Tschaikowski Musikakademie Kiew nur dank einer Spendenkampagne teilnehmen konnte. Das Kiewer Regime, das auch mit Unterstützung der Bundesregierung an die Macht geputscht wurde, eng mit Faschisten zusammenarbeitet und im Osten der Ukraine Krieg führt, hatte die Fördergelder für die Reise gestrichen.

Die Idee von Völkerverständigung ist in Widerspruch zur offiziellen Politik der EU geraten. Stattdessen werden wieder Grenzzäune hochgezogen, Fremdenhass geschürt, demokratische Rechte beseitigt und überall zu Kriegseinsätzen gerüstet.

Der Abschluss des Festivals mit dem Auftritt des „Friedensorchesters“ machte diesen Widerspruch sichtbar, der dem Festival insgesamt zugrunde lag. Die Bekenntnisse zu Frieden und internationaler Zusammenarbeit, die prominente Politiker und Journalisten als Paten der einzelnen Konzerte abgaben, klangen in diesem Jahr besonders hohl.

Schirmherr und Pate des „Friedensorchesters“ war Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Der Hausherr des Auswärtigen Amtes, das das Orchester finanziell unterstützt hat, versuchte sich als Förderer von Frieden darzustellen und erklärte, das Konzert sei ein „Kontrapunkt“ zur Ukraine-Krise. Es setze der „politischen Sprachlosigkeit“ etwas entgegen und überwinde „Misstöne“. Derselbe Steinmeier spricht ansonsten vom Ende der militärischen Zurückhaltung Deutschlands und vertritt in der Ukrainekrise einen aggressiven Kurs gegen Russland.

Neben Steinmeier gehörten zu den Paten der einzelnen Konzerte auch Regierungssprecher Steffen Seibert, der die Nationale Jugendphilharmonie der Türkei vorstellte, und der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Norbert Röttgen (CDU), der das ukrainische Symphonieorchester aus Kiew einleitete; daneben der Regierende Bürgermeister von Berlin Michael Müller und andere Vertreter des Berliner Senats, die Tagesthemen-Moderatorin Caren Miosga, der bisherige Leiter des ARD-Hauptstadtstudios Ulrich Deppendorf, u.a.

Die gespannte politische Situation war im Konzertsaal öfter zu spüren. Auf dem Orchesterpodium schien es zu knistern. Musik findet nicht im luftleeren Raum statt – und die Funken, die von den jungen Musikern auf das Publikum übersprangen, zeigten auch die Kluft zur offiziellen Politik. Entgegen der Versuche von politischen Stellen, das Festival für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, drückte sich in der überbordenden Begeisterung des Publikums nach den Konzerten, die die Orchester und Solisten zu mehrfachen Zugaben ermunterten, die weitverbreitete Ablehnung der gegenwärtigen Kriegspolitik aus und der zutiefst humane Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben aller europäischen Nationalitäten.

European Union Youth Orchestra mit russischem Programm

Die gegensätzlichen politischen Pole spiegelten sich auch in anderen Konzerten wider. Ganz sicherlich traf dies auf das Konzert mit dem European Union Youth Orchestra (EUYO) unter Leitung der Dirigentin Xian Zhang am 11. August zu, das zu den Höhepunkten des Festivals zählte.

Das älteste europäische Jugendorchester mit 140 Musikern aus allen 28 EU-Ländern spielte in den 40 Jahren seines Bestehens schon unter vielen berühmten Dirigenten und bei internationalen Tourneen rund um die Welt. Seine Mitglieder werden jährlich aus etwa 4000 Kandidaten ausgewählt. Ihr derzeitiger musikalischer Direktor ist Vladimir Ashkenazy.

Auf seinem Programm standen die wenig gespielte Hamlet-Ouvertüre op. 67 und die Rokoko-Variationen von Pjotr Tschaikowski, dessen 175-jähriger Geburtstag in diesem Jahr begangen wird, sowie die fünfte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, der vor 40 Jahren starb.

Ohne diese beiden großen Komponisten ist die heutige Musikkultur kaum zu denken. Und doch mutet es zur gegenwärtigen Zeit fast revolutionär an, wenn eine chinesische Dirigentin und ein hochprofessionelles europäisches Jugendorchester ihr ganzes Abendprogramm russischen Komponisten widmen.

Der Pate des Abends, der Berliner Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen, war sich darüber sichtlich bewusst, als er das Konzert einleitete und nach einigen Plattitüden über ein gemeinsames Europa am Ende fast entschuldigend hinzufügte, dass doch auch Russland „ein paar europäische Züge“ habe.

Die jungen Musiker und ihre Dirigentin waren mutiger – sie spielten die offiziell geschürte antirussische Propaganda hinweg und rissen das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Schon Tschaikowskis Hamlet-Ouvertüre zu Beginn überzeugte durch sensible Interpretation, ohne romantisch zu glätten; ebenso die folgenden Rokoko-Variationen desselben Komponisten, die Alisa Weilerstein als Solistin am Violoncello virtuos und mit einer wunderbaren Kombination Bachscher Präzision und tänzerischer Leichtigkeit interpretierte.

Vor allem aber begeisterte die Aufführung der fünften Symphonie von Schostakowitsch, die 1937 mitten im Großen Terror uraufgeführt wurde. Im Westen wurde diese Symphonie lange als Produkt der Anpassung und Unterwerfung des Komponisten unter Stalin kritisiert, nachdem seine vierte Symphonie in Ungnade gefallen war. In neuerer Zeit behandelt man sie eher als heimliches Dissidententum gegen die Sowjetunion. Nach der Uraufführung, geleitet vom damals noch jungen Jevgenij Mrawinskij, war das Publikum erschüttert. Es verstand die Botschaft dieser Musik, die die Erinnerung an die Oktoberrevolution wachrief und zugleich die Trauer über die Degeneration unter Stalin zum Ausdruck brachte.

Das European Union Youth Orchestra hat sich von den ideologisch aufgeladenen Urteilen nicht verwirren lassen und eine erstaunlich tiefe Interpretation geleistet. Nach einem technisch brillanten, aber etwas hölzernen Beginn im ersten Satz entwickelte das Orchester in den folgenden Sätzen ein sehr sensibles Verständnis der tragischen gesellschaftlichen Probleme der damaligen Sowjetunion, die Schostakowitsch wie kein anderer zum Ausdruck gebracht hat. Schostakowitsch hätte sich in dieser Interpretation wiedergefunden. Vielleicht war es der Jugend und der multinationalen Herkunft der Orchestermusiker geschuldet, dass sie sowohl die Trauer als auch den revolutionären Geist ins heutige Publikum übertragen konnten. Der Jubel nach dem Konzert war überwältigend.

Umso abstoßender einige Pressekommentare. Der Tagesspiegel titelte herablassend „Das Land der Russen mit der Seele suchend“. Noch schlimmer war Clemens Goldberg, der im rbb-Kulturradio das Publikum beschuldigte, es habe Schostakowitsch nicht verstanden. Der „irre positivistische Schluss, der die Ideologen täuschte“, hätte laut Goldberg im Publikum „eigentlich zu betroffenem Schweigen führen“ statt in Jubel münden müssen. Das haben die jungen Musiker und das Publikum zum Glück besser verstanden.

I, Culture Orchestra mit Janáčeks Taras Bulba

Einen weiteren Höhepunkt stellte das Konzert am 20. August mit Werken von Terterian, Rachmaninow und Janáček dar. Als ZDF-Moderator Jo Schück in seiner Einleitung nach allgemeinen Bemerkungen über die „Kultur als Grundlage der Europäischen Union“ die Angriffe von Rechtsradikalen auf Flüchtlingsheime verurteilte, gab es spontan Beifall.

Auch die jungen Musiker des I, Culture Orchestra unter Leitung des ukrainischen Dirigenten Kirill Karabits, die erstmals bei Young Euro Classic auftraten, passten sich nicht an die vorherrschenden nationalistischen Strömungen an. Gegründet 2011 anlässlich der polnischen EU-Ratspräsidentschaft bringt das Orchester Musiker aus Polen, Armenien, Aserbeidschan, Georgien, Belarus, Moldawien und der Ukraine zusammen.

Obwohl die Machthaber dieser Länder antirussische Stimmungen schüren, setzte das Orchester die Rhapsodie „Taras Bulba“ von Leoš Janáček auf das Programm. Der tschechische Komponist hatte das Werk während des Ersten Weltkriegs als Anhänger des Panslawismus geschrieben, der Vereinigung der slawischen Völker Osteuropas unter russischer Vorherrschaft anstrebte.

Janáčeks Musik, mit der ihr eigenen lyrischen Klangsprache, harmonischen und formalen Sprünge und emotionalen Dramatik, spiegelt auch die aufwühlenden Erlebnisse im ersten Weltkriegs wider, an dessen Ende das österreich-ungarische Imperium auseinanderbrach und die russische Revolution das großrussische Zarenreich hinwegfegte.

Auch die anderen Werke des Konzerts waren faszinierende Entdeckungen: Zu Beginn die wuchtige Symphonie Nr. 3 des armenischen Komponisten Avet Terterian von 1975, die alle klassischen Normen sprengte und dennoch das Publikum mit seinen dynamischen Klangkombinationen von kraftvollen Schlagzeugausbrüchen, flüsternden Windgeräuschen der Streicher und klagenden armenischen Zurnen, eine Art Kurzoboe, und Duduks in den Bann zog. Und nicht weniger die „24 Variationen“ Sergej Rachmaninows, die Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43 von 1934, die der im ostukrainischen Charkiv geborene Pianist Alexander Gavrylyuk virtuos, aber nie nur technisch brillant, sondern voller Musikalität und Humor spielte.

Bleibt abschließend mit dem Motto von Young Euro Classic „Hier spielt die Zukunft“ zu fragen: Welcher Zukunft geht dieses beliebte Festival in den kommenden Jahren entgegen? Sein eindeutiges Bekenntnis gegen Krieg und Nationalismus und für eine Einheit der europäischen Bevölkerung steht im Gegensatz zur herrschenden Politik. Auch wenn die Musik eine andere Sprache spricht, ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts eine Warnung, dass auch die Musik letztlich den immer schärferen internationalen Konflikten zum Opfer fallen kann. Insbesondere der deutsche Imperialismus hat die Kultur im Ersten und im Zweiten Weltkrieg missbraucht, um seine Kriegsverbrechen zu beschönigen.

Heute versucht die Regierung erneut, zur führenden Macht in Europa und der Welt aufzusteigen und dabei auch wieder Kultur und Musik für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Auf der Website des Auswärtigen Amts heißt es: „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik (AKBP) bildet neben den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen die ‚dritte Säule‘ der deutschen Außenpolitik. Sie ist eines ihrer nachhaltigsten und sichtbarsten Instrumente.“ Auch Beethovens Neunte Symphonie wurde schon zu oft missbraucht!

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