Deutsche Reaktionen auf Jeremy Corbyn

Die Wahl von Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der britischen Labour Party hat in Deutschland heftige Reaktionen ausgelöst. Sie richten sich weniger gegen die Person Corbyns, der wohlwollend als liebenswerter Mann bezeichnet wird, als gegen das Votum der Mitglieder und Sympathisanten der Labour Party, die sich mit knapp 60 Prozent gegen die Politik von New-Labour ausgesprochen haben.

Die deutschen Eliten haben viel Erfahrung mit „linken“ Sozialdemokraten und Mitgliedern der Linkspartei, denen sie stets vertrauen konnten, wenn sie politische Verantwortung übernahmen. Was sie dagegen fürchten, ist die linke Stimmung breiterer Bevölkerungsschichten, die sie hinter dem Votum für Corbyn vermuten. Dass in der Urwahl eine große Mehrheit „für Verstaatlichung, gegen Nato, gegen Sparmaßnahmen und für den unbegrenzten Ausbau des Sozialstaats“ gestimmt habe (Süddeutsche Zeitung), versetzt viele Politiker und Kommentatoren in Rage.

Nikolaus Piper, der Chef-Kommentator der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftsfragen, lässt seiner Empörung freien Lauf: „Nur 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ist Sozialismus wieder schick geworden“, schimpft er. Die Corbyn-Wahl habe „etwas Bizarres“. Das Programm von Corbyn sei rückwärtsgewandt und grotesk. Die Labour Party steuere damit in den nächsten Unterhauswahlen auf „eine krachende Niederlage“ zu.

Besonders abstoßend findet Piper die Vorstellung, Steuergelder und Kredite der Notenbank für soziale Projekte und gesellschaftliche Aufgaben einzusetzen. Er schreibt, die Rubrik „People's Quantitative Easing“ in Corbyns Wirtschaftsprogramm sei „besonders bezeichnend“. Praktisch bedeute People's QE, „dass die Bank von England Geld drucken soll, um Wohnungen, Eisenbahnen und Straßen zu bauen“. Ein solches „Inflationsprogramm ähnelt auffallend Plänen des gescheiterten griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis“ und führe geradewegs in den Ruin.

Nikolaus Piper war von 2007 bis 2014, also währen der internationalen Finanzkrise, als Wirtschaftskorrespondent für die Süddeutsche in New York. In unzähligen Artikeln unterstützte er die Politik der Regierung und der Notenbank der USA, die hunderte Milliarden Dollar zur sogenannten Bankenrettung und Finanzierung krimineller Finanzspekulationen bereitstellten, die anschließend durch Einsparungen in allen sozialen Bereichen und Lohnsenkungen aus der Bevölkerung herausgepresst wurden.

Piper befürwortet die amerikanische Form des Quantitative Easing (QE) in Form von Billigkrediten zur Finanzierung der Spekulationsgeschäfte einer superreichen Finanzoligarchie. Aber günstige staatliche Kredite zur Finanzierung von „Wohnungen, Eisenbahnen und Straßen“, vielleicht auch von Bildung und Verbesserung der Sozialsysteme, findet er total abwegig, ja sozialistisch.

Piper warnt: „Auch außerhalb Großbritanniens etabliert sich in vielen Ländern jenseits der Sozialdemokratie eine neue aggressive Linke.“ Sie sei „gegen ‚Austerität‘, also dagegen, dass der Staat spart, gegen Freihandel, gegen die Reichen und gegen die ‚Konzerne‘.“ Dass auch in den Vereinigten Staaten mit Bernie Sanders ein „bekennender Sozialist“ als Präsidentschaftsbewerber auftrete, mache deutlich, dass es sich bei der Corbyn-Wahl um ein internationales Phänomen handle.

„Wer auf der Linken Sympathien mit Corbyn und Sanders hat (beides sind sehr liebenswerte Männer)“, schreibt Piper, der solle sich an den „Winter des Missvergnügens“ 1978/79 in Großbritannien erinnern. Damals hätten „brutaler Streiks“ das Land lahmgelegt, und „als Reaktion auf den Machtmissbrauch der Gewerkschaften“ sei Margaret Thatcher an die Macht gekommen.

Vor seiner Karriere bei der Süddeutschen Zeitung schrieb Piper für das SPD-Zentralorgan Vorwärts. Nun warnt er die Parteiführung im Willy-Brandt-Haus: „Politiker der Mitte in Berlin und anderswo haben allen Grund, besorgt nach Großbritannien zu schauen.“

Tatsächlich hat die Corbyn-Wahl der SPD-Führung die Sprache verschlagen. Zwar war man in der SPD-Zentrale auf einen Wahlsieg von Jeremy Corbyn vorbereitet, aber nicht in dieser Höhe. Vor allem die vernichtende Wahlniederlage des Blair-Flügels, dem die rechte SPD-Führung nahe steht, wird als bedrohlich empfunden.

„Nach der Wahl des neuen Labour-Chefs herrscht in der SPD Verunsicherung“, schreibt Die Welt. „In der SPD weiß man nicht recht, wie man auf den Durchmarsch des linken Flügelmanns reagieren soll.“ Parteichef Sigmar Gabriel habe sich selbst 24 Stunden nach Bekanntwerden des Ergebnisses noch nicht öffentlich dazu geäußert. „Die Veröffentlichung eines Glückwunschschreibens, eigentlich üblich in solchen Fällen? Fehlanzeige.“

Selbst der Parteilinke und stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner vermeide diesmal „jede Hurra-Rhetorik“. Er bleibe „ungewöhnlich deskriptiv“, wenn er über den Durchmarsch des „linken Enfant terrible“ in der Labour Party spreche.

„Konservative Sozialdemokraten sind entsetzt“, schreibt Die Welt und zitiert Michael Roth, einen engen Mitarbeiter von Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit den Worten: „Offenkundig gibt es nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa eine diffuse Sehnsucht nach markanten Typen in der Politik, die eingezwängt zwischen Sachzwangslogik und Pragmatismus bisweilen farblos daherkommt.“

In einem zweiten Artikel der Welt meldet sich der SPD-Landesvorsitzende von Baden-Württemberg, Nils Schmid, zu Wort. Der Blair-Anhänger ist gegenwärtig Finanz- und Wirtschaftsminister der grün-roten Landesregierung in Stuttgart. Er spricht für eine marktliberale Aufsteigerriege in der SPD. Unter der Überschrift: „Corbyn führt britische Labour Party ins Nirwana“ wirft er Corbyn und seinen Anhängern „Realitätsverweigerung“ vor. Die Folge „dieses politischen Eskapismus“ sei ein „langer Marsch in die Bedeutungslosigkeit“.

Schmid ist über die Klatsche, die seine Freunde unter den Blair-Anhängern von der britischen Parteibasis erhalten haben, sichtlich erbost. Schon die Analyse der Wahlniederlage der Labour Party im Mai durch Corbyns Anhänger entziehe sich jeglicher Logik. Ein linker Kandidat habe mit einem linken Programm gegen einen Konservativen haushoch verloren. Daraus zögen „Corbyns Jünger“ die Schlussfolgerung, er sei nicht links genug gewesen. „So klingt Navigation für Geisterfahrer“, giftet Schmid.

„Das Prinzip Corbyn“ sei daher „keine Blaupause für andere Länder“, sondern „das abschreckende Beispiel einer Partei auf dem Weg ins politische Nirwana“.

Das Handelsblatt sprich von einem „Systemschock“, der die britische Parteienlandschaft auf Jahre verändern werde. „New Labour ist tot“, konstatiert das Wirtschaftsblatt. „Die Partei von Tony Blair und Peter Mandelson, der es auf Macht, Kompromisse und das Gewinnen von Wahlen ankam“, sei den „Altsozialisten“ schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Nun werde wieder das Kampflied von der „roten Flagge“ mit Inbrunst gesungen.

Labour gehöre jetzt einer Koalition aus „hartgesottenen Gewerkschaftern“, die umso militanter seien, je geringer ihr Rückhalt in der Gesellschaft sei, „und einer Post-Krisen-Generation, die sich durch Sparpolitik, Globalisierung und wachsende Ungleichheit ausgegrenzt sieht“. Diese Generation der Ausgegrenzten sei begeistert, „dass Corbyn einen Mann zum Wirtschaftssprecher macht, der als Hobby den ‚Sturz des Kapitalismus‘ nennt“.

Es sei aber verfrüht, in der Corbyn-Wahl bereits „den Beginn eines epochalen Linksrucks im Land von Margaret Thatcher zu sehen“, betont das Handelsblatt und fordert die Blair-Anhänger auf, nicht gleich die Flinte ins Korn zu werfen. Stattdessen müsse „der moderne Rest der Labour-Party“ sich sammeln und „im inneren Exil Kräfte für den unvermeidlichen Putsch sammeln“.

Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die Bundesregierung und Bundestag in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik berät und seit anderthalb Jahren für eine stärkere deutsche Rolle in Europa und der Welt eintritt, sorgt sich über die außenpolitischen Auswirkungen der Corbyn-Wahl.

Der Richtungswechsel, „den Corbyn in der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik für Labour ankündigt“, sei aus europäischer Perspektive sehr bedeutsam. Gerade in diesen Fragen wolle sich Corbyn vom Erbe Blairs abgrenzen. Er habe bereits eine Entschuldigung für die britische Beteiligung am Irak-Krieg ankündigt, sei ein langjähriger Kritiker der Nato, „der die transatlantische Allianz und die EU für den Konflikt in der Ukraine (mit)verantwortlich macht, während er die Nato-Osterweiterung als Fehler bezeichnet“. Als Parteiführer wolle er auf eine Reduzierung der Rolle der Nato hinarbeiten.

Zwar lehne Corbyn die EU nicht vollständig ab, stehe ihr aber weitaus kritischer als die bisherige Labour-Führung gegenüber und verfolge eine „vollkommen andere Richtung bei der EU-Reform als der britische Premierminister David Cameron“. Er habe bereits im ersten britischen Referendum 1975 gegen den Verbleib Großbritanniens in der EU und 2009 im Parlament gegen die Ratifikation des Lissabonner Vertrags gestimmt.

Die Auswirkungen der Corbyn-Wahl fasst die SWP folgendermaßen zusammen: „Mit Corbyn hat Labour nun aber eine Führung, die sich bei der Volksabstimmung ambivalent äußern dürfte. Sollte sich Cameron mit seiner marktliberalen Reformagenda durchsetzen, könnten sich im schlimmsten Fall Corbyn-Befürworter in Partei und Gewerkschaften sogar aktiv für den Austritt einsetzen. Das politische Erdbeben in der Labour-Partei dürfte damit weit über Großbritannien hinausreichen.“

Um das politisches Erdbeben einzuschränken und unter Kontrolle zu bringen, schlug die Süddeutsche Zeitung am Dienstag vor, die SPD müsse ein Stück nach links rücken. Auch hier stoße die Politik des „Dritten Weges“ von Blair und Schröder auf Widerstand und schaffe bei Wahlen große Schwierigkeiten. „Etwas mehr Corbyn darf die SPD also durch aus wagen“, heißt es am Ende des Artikels. „Sie sollte es sogar.“

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