Massive Proteste gegen Erdogan-Regierung

Nach dem Selbstmordanschlag auf eine Friedensdemonstration am letzten Sonntag wächst in der Türkei der Widerstand gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Der Selbstmordanschlag war der tödlichste in der Geschichte der türkischen Republik und forderte 130 Todesopfer. Er ereignete sich vor dem Hauptbahnhof von Ankara, als sich dort die Teilnehmer einer Antikriegsdemonstration unter der Parole „Arbeit, Frieden, Demokratie“ versammelten.

Die Veranstalter der Versammlung, die Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei (DISK), die Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter (KESK), die Kammer für Ingenieure und Architekten (TMMOB) und die türkische Ärztekammer (TTB) kündigten in einer gemeinsamen Erklärung einen zweitägigen Generalstreik an, der am Montag begann und am Dienstag fortgesetzt wurde.

Am Montag nahmen Tausende an den Begräbnissen der Todesopfer in den Städten Tunceli und Suruc teil. Hunderte zogen zu einer Moschee in einem Vorort von Istanbul, wo weitere Beerdigungen stattfanden. Dabei verurteilten sie Erdogan als Mörder.

Alle Versuche der amtierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), den Anschlag politisch für ein härteres Vorgehen auszunutzen, sind gescheitert. Erdogan veröffentlichte zwar eine Stellungnahme, in der er den „verabscheuenswerten“ Bombenanschlag verurteilte, hat aber seit dem Anschlag keine öffentlichen Reden mehr gehalten. Diese Aufgabe überließ er Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Dieser erklärte am Sonntag, dass mehrere Gruppen, u.a. der Islamische Staat (IS), die PKK und die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) in der Lage seien, einen solchen Anschlag durchzuführen. Weiter erklärte er, die Identifizierung der Leichen der beiden Terroristen, die den Selbstmordanschlag ausgeführt haben, gehe weiter.

Zeitgleich mit der Behauptung, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) habe einen Anschlag auf eine Demonstration ihrer eigenen Anhänger verübt, erklärten Davutoglu und die Medien jedoch, dass höchstwahrscheinlich der IS dafür verantwortlich sei. Er erklärte gegenüber NTV: „Bei unseren Ermittlungen untersuchen wir vordringlich eine Täterschaft des Daesh [des IS]. Wir führen DNA-Tests durch... Wir werden bald einen Namen haben, der auf eine Gruppe hinweist.“

Laut Quellen aus den Sicherheitsdiensten wird sich die Untersuchung „vollständig auf den IS“ konzentrieren. Bisher wurden 36 bis 40 Personen verhaftet, die mit einer türkischen IS-Fraktion namens Adiyaman-Gruppe (benannt nach der südtürkischen Provinz) in Verbindung stehen, darunter mehrere potenzielle Selbstmordattentäter. Die Zeitung Haberturk zitierte Quellen aus der Polizei, laut denen einer der Attentäter in Ankara der Bruder des Selbstmordattentäters Abdurrahman Alagoz aus Suruc gewesen sein soll.

Bei dem Anschlag im Juli auf eine prokurdische Jugendveranstaltung in der südtürkischen Stadt Suruc wurden 33 Menschen getötet. Die PKK gab der Regierung die Schuld an dem Bombenanschlag, da sie mit islamistischen Widerstandsgruppen in Syrien zusammengearbeitet habe, u.a. mit dem Islamischen Staat. Nach dem Bombenanschlag nahm die Regierung die Kampfhandlungen gegen die Kurden wieder auf.

Erdogan hatte gehofft, sich durch das Schüren antikurdischer Stimmungen bei der Wahl am 7. Juni eine Mehrheit von 400 AKP-Abgeordneten zu sichern, um die Verfassung zu ändern und sich absolute Autorität zu verleihen. Stattdessen verlor die AKP die absolute Mehrheit, die sie seit ihrer Machtübernahme 2002 hatte. Die große Gewinnerin war die prokurdische HDP, die sich 13 Prozent der Stimmen und 80 Sitze im Parlament sichern und so die viertgrößte Partei der Türkei werden konnte.

Da die AKP keine Koalition mit einer der Oppositionsparteien eingehen wollte, setzte sie für den 1. November Neuwahlen an und schürte ein Klima der Furcht und der Einschüchterung. So wollte sie sich eine große Mehrheit sichern. Vor kurzem – noch vor dem Selbstmordanschlag – kam jedoch eine Studie von Metropoll zu dem Ergebnis, dass die AKP ihr Wahlergebnis nur um ein Prozent verbessern werde.

Die meisten Menschen glauben, dass die AKP den Anschlag entweder geschehen ließ oder sogar direkt daran beteiligt war. Wie der BBC-Korrespondet Mark Lowen berichtete, glauben Kritiker der türkischen Regierung, sie benutze den Islamischen Staat als „Sündenbock“. Sie machen „finstere Elemente eines sogenannten 'tiefen Staates' für den Anschlag verantwortlich. Ihr Ziel soll es sein, vor der Wahl die Unterstützung für Erdogan zu stärken.“

TTB-Präsident Bayazit Ilhan erklärte bei der Ankündigung des Generalstreiks: „Wir wissen, wer die Mörder sind: diejenigen, deren Träume von der Diktatur bei der Wahl am 7. Juni geplatzt sind. Sie haben die Türkei in einen Krieg gestürzt, weil sie keine 400 Abgeordneten bekommen haben.“

Der Präsident der DISK, Kani Beko, erklärte: „Solche Massaker sind uns nicht unbekannt: Am 1. Mai 1977 in Maras und Sivas, und vor kurzem in Diyarbakir und Suruc haben wir ähnliche Anschläge erlebt. Wir haben hier unsere Freunde bei einer Veranstaltung verloren, die zwanzig Tage vorher genehmigt wurde. Wir werden weiterkämpfen, bis die faschistische AKP-Regierung und ihre Tradition von Morden zur Verantwortung gezogen worden ist.“

Die prokurdische HDP, die bei der Friedensdemonstration stark vertreten war, unterstützte den Aufruf zum Streik.

Der Vizevorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, erklärte am Wochenende vor zehntausenden von Trauernden: „Der Staat, der über den fliegenden Vogel und jeden seiner Flügelschläge Bescheid weiß, war nicht in der Lage, ein Massaker im Herzen von Akara zu verhindern.“

„An den Händen der AKP klebt Blut, sie unterstützt diesen Terror,“ erklärte er in der HDP-Parteizentrale in Ankara vor der Presse. „Es erinnert uns an die Explosion in Suruc.“

Am Wochenende versammelten sich außerdem hunderte von Menschen in Arztkleidung am Hauptbahnhof von Ankara, um rote Nelken niederzulegen, wurden aber von der Bereitschaftspolizei daran gehindert.

In Istanbul riefen Anwälte am Montag in einem Gerichtsgebäude: „Der Mörder Erdogan wird zur Rechenschaft gezogen.“

Der Vorstand der Rechtsanwaltskammer von Ankara erstattete Strafanzeige gegen den Innenminister, den Gouverneur der Provinz Ankara, den Polizeichef von Ankara, den Geheimdienstchef und weitere Funktionäre wegen „standeswidrigem Verhalten“, weil sie den Anschlag nicht verhindert haben.

Erdogan ist entschlossen, seine Eskalationspolitik gegen die Kurden fortzusetzen, und sich eine Schlüsselrolle in der US-Intervention in Syrien zu sichern. Die USA nutzen dabei die Gefahr durch den IS, der ein erbitterter Feind der Kurden ist, aus und schlagen vor, die Kurden mit Waffen und Luftunterstützung zu unterstützen.

Am Samstag kündigte die PKK an, vor der Wahl alle Angriffe auszusetzen. Doch das türkische Militär führte weitere Luftangriffe in der Südosttürkei und im Nordirak durch, bei denen 49 Menschen getötet wurden.

Die HDP erklärte, sie erwäge die Absage aller Wahlkämpfe: „Unsere Wähler fühlen sich ständig in allen sozialen Räumen und bei allen politischen Veranstaltungen bedroht, die sie besuchen.“

In der letzten Zeit gab es 120 koordinierte Anschläge auf Parteibüros der HDP im ganzen Land, Demonstranten griffen Zeitungen an, die Erdogan angeblich falsch zitiert hatten. Eine Reihe von Journalisten wurde verhaftet, darunter der Chefredakteur der englischsprachigen Zeitung Today's Zaman, Bülent Kenes.

Nichts davon verbessert die Wahlaussichten der AKP. Die HDP hingegen reagierte selbstsicher. „Wir sind bereit für die Wahl, aber der Diktator im Palast versucht ihr zu entfliehen“, erklärte ihr Ehrenpräsident Ertugrul Kurkcu.

Unter diesen Umständen wird die Zukunft der Türkei möglicherweise nicht an der Wahlurne entschieden. Das ganze Land ist instabil, zerrissen von ethnischen, politischen und Klassenspannungen, die jederzeit eskalieren können. Die Financial Times schrieb: „Die jüngsten Umfragen deuten darauf hin, dass in der Türkei nach der Wahl im November wieder eine Koalitionsregierung an die Macht kommt. Der Bombenanschlag in Ankara am Wochenende zeigt jedoch, wie gewalttätig, unvorhersehbar und unbeständig die türkische Politik mittlerweile geworden ist.“

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