Das Internationale Filmfestival in Toronto 2015

Der physische und emotionale Tribut, den die kapitalistische Gesellschaft fordert

Dies ist der erste Artikel einer Reihe, die dem jüngsten Filmfestival in Toronto gewidmet ist (10.-20. September)

„Die Tragödie unserer Epoche ist der Zusammenstoß der Persönlichkeit mit dem Kollektiv oder der Zusammenprall zweier feindlicher Kollektive in einer Persönlichkeit.“ Trotzki

****

Kürzlich besuchten wir das 40. Internationale Filmfestival von Toronto (von 1976 bis 1993 war es als „Das Festival der Festivals“ bekannt), bei welchem 285 Spiel- und 110 Kurzfilme aus 71 Ländern aufgeführt wurden.

Einige der auf dem Festival bekanntgemachten Filme, für die üppig die Reklametrommel gerührt wurde, werden oder haben schon ihren Weg in die Kinos gefunden, darunter Der Marsianer – Rettet Mark Watney (Ridley Scott), Sicario (Denis Villeneuve), Black Mass (Scott Cooper), Anomalisa (Charlie Kaufman) und Spotlight (Tom McCarthy).

Es ist nicht gesagt, dass diese Filme, ob im einzelnen oder allesamt, weniger interessant sein müssen, als kleinere, sogenannte Independent- oder künstlerische Werke aus aller Welt, aber zweifellos stellt die Anwesenheit eines großen Studios und eines umfangreichen Budgets in vielen Fällen zusätzliche Hindernisse dar, künstlerische und gesellschaftliche Wahrheiten auszudrücken.

Jedes Jahr stellt sich in der einen oder anderen Weise folgende Frage: Bis zu welchem Ausmaß hat eine bestimmte Fraktion von Filmkünstlern sich entschieden, über die eigene Nabelschnur hinauszublicken, die vorherrschende soziale Gleichgültigkeit und Selbstbezogenheit zurückzuweisen und sich an wichtigen objektiven Gegebenheiten zu orientieren?

Die heutige Welt präsentiert sich zunehmend als eine Reihe von miteinander verbundener und sich multiplizierender Krisen. Die internationalen Spannungen, die sich auf den Nahen Osten, die Ukraine und Ostasien fokussieren, haben ein außergewöhnliches Niveau erreicht. Die Flüchtlingswellen, die von Syrien, Afghanistan und anderswo ausgehen, weil die Menschen vor den Katastrophen fliehen, die die imperialistischen Interventionen und Machenschaften angerichtet haben, sind seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in dieser Form in Erscheinung getreten. Die Vereinigten Staaten agieren als der globale Gangster, der sie sind: sie bombardieren, überfallen und verheeren ein Land nach dem anderen, eine Region nach der nächsten. Die Aktienmärkte weltweit zittern und beben in Schockstarre, „die blanke Angst im Nacken.“

Die WSWS schrieb vor kurzem: “Die Krise ist kein Ausnahmefall mehr, sondern ist zur Normalität geworden. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Ereignisse fast völlig ohne Ruhepausen zwischen den einzelnen Stürmen entwickeln, deutet darauf hin, dass sich die allgemeine Krise weiter verschärft und vertieft.“

Unvermeidlich hinkt das künstlerische Bewusstsein hinterher, und je schneller die objektive Situation sich weiterentwickelt, desto größer wird der Abstand. Noch dazu war der Künstler niemals in moderner Zeit schlechter vorbereitet als gegenwärtig der Fall, im Anschluss an jahrzehntelange politische Reaktion, die vom Gefasel über das „Ende des Sozialismus“, die „Verabschiedung der Arbeiterklasse“ und ähnlicher Phrasendrescherei dominiert wurde.

Dessen ungeachtet sind die Orgien der Gewalt, die die Großmächte gegen den Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien und den Jemen entfesselten, die Schritte, die zum Aufbau von Polizeistaaten in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern eingeleitet wurden, die wirtschaftliche Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und so weiter nicht unbemerkt geblieben. Das Problem besteht darin, dass Künstler generell nicht über die gesellschaftliche und historische Perspektive verfügen, mit welcher die Ereignisse, die vor ihren Augen stattfinden, volle und überzeugende Bedeutung erhalten. Infolgedessen vermögen sie lediglich, Augenblicke einzufangen und Eindrücke weiterzugeben, von denen manche erleuchtender und befriedigender als andere sind. Um es etwas primitiver auszudrücken, wenn man aus den einsichtigsten Einzelstücken und Teilen ein zusammenhängendes Bild des Gegenwartslebens zusammenflicken wollte, würde zweifellos etwas Wertvolles herauskommen, doch selbst dann würde ihm seine wesentliche soziale Dynamik oder Triebkraft abgehen.

Die Drehbuchautoren und Regisseure, so isoliert sie auch sein mögen, leben nicht in einem von allem anderen abgeschlossenen Universum, und sie sind auch nicht einfach die Sprachrohre der Konzerne und ihrer Interessen, von denen sie in vielen Fällen angestellt werden. Es gibt in der Filmwelt durch und durch unehrliche und erbärmliche Personen, doch diese sind in der Minderheit. Zweifellos hat der zum Greifen nahe Reichtum schädliche Auswirkungen und befördert Selbstbezogenheit und Karrierismus. Viel schwerer aber wiegen die Jahrzehnte intellektueller Stagnation, in welchen die Arbeiterklasse nicht in der Lage war, eine unabhängige oder politisch entscheidende Rolle zu spielen sowie der angehäufte Druck kulturellen und intellektuellen Rückschritts, der damit zusammenhängt.

Die Autoren und Filmemacher leben nicht in einer abgesonderten Welt. Welche Illusionen und Konfusionen auch immer bestehen, eines der Erkennungsmerkmale des sozialen Lebens der Gegenwart ist die Verrufenheit praktisch jeder führenden Institution, politischen Partei oder Bewegung und jedes einzelnen politischen Führers. Wo gibt es heute in irgendeinem Teil der Welt einen Politiker mit echtem Massenanhang in der Bevölkerung? Vielmehr werden Regierungen und ihre führenden Persönlichkeiten sowie Banker, Manager und Generäle von großen Bevölkerungsschichten mit Abscheu, sogar Schrecken, betrachtet. Zugleich muss eine Massenalternative zum Kapitalismus erst noch in Erscheinung treten.

In den aufmerksamer beobachtenden Filmen in Toronto erhält die wachsende Wahrnehmung des Ernstes der gegenwärtigen Situation sowie der Bedrohung für die Menschheit, die sie darstellt, eine intimere und individuellere Form: eine Sensibilität für den physischen und psychischen Tribut, den Unschuldige der (früheren und heutigen) Aggression der Herrschenden, ihres Militärs, ihrer Polizei und ihrer Hilfstruppen zollen müssen.

Man war betreten von der Anzahl der Filme, die sich mit Folter und offizieller Grausamkeit sowie Misshandlung in den verschiedensten Varianten auseinandersetzen. Lars Kraumes Der Staat gegen Fritz Bauer handelt vom Erbe des Nationalsozialismus im Westdeutschland der 1950er Jahre und dem heroischen Versuch des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, entgegen der Bemühungen zahlreicher Leute in Regierung und Justiz, die faschistischen Kriminellen der Justiz zu überstellen.

Es ist wohl kein Zufall, dass in den vergangenen zwei Jahren zwei Filme über Bauer (Giulio Ricciarellis Im Labyrinth des Schweigens kam am 25. September in die amerikanischen Kinos) sowie Christian Petzolds Phoenix, der sich ebenfalls mit der Nazi-Vergangenheit beschäftigt, erschienen. Die Wiederkehr deutscher imperialistischer Aggression und die Bemühungen, die Verbrechen des Hitler-Regimes zu relativieren, haben eine Reaktion bewirkt.

Außerdem stellte das Toronto-Festival den Film Colonia des deutschen Regisseurs Florian Gallenberger vor, ein beängstigender Bericht, der auf wahren Begebenheiten beruht, über einen nazifreundlichen Führer eines christlichen Kultes (überzeugend von Michael Nyquist dargestellt), dessen Gelände im Süden Chiles nach dem Putsch von 1973 der Diktatur für Folter und Mord diente. Der Perlmuttknopf des chilenischen Regisseurs (und Unterstützers von Salvador Allende) Patricio Guzmán, der eine insgesamt betrübliche Perspektive vertritt, behandelt einiges von dem Schrecken, der von der US-gestützten Diktatur gegen politische Gegner entfesselt wurde.

Jonás Cuaróns Desierto [Die Wüste] ist die fiktive Behandlung eines realen Phänomens: der Aktivitäten faschistisch gesinnter Bürgerwehrmilizen an der amerikanisch-mexikanischen Grenze, die Jagd auf Einwanderer machen. Jeffrey Dean Morgan, der als ehemaliger Militärscharfschütze Leute ohne Dokumente in sein todbringendes Visier nimmt, gehört in die Galerie der besonders entsetzlichen Vertreter der Unterdrückung. Morgans Darstellung war eine der überzeugendsten des Festivals.

In dem Spielfilm Meghmallar wird ein freundlicher und apolitischer Chemielehrer (Shahiduzzaman Selmin) aufgrund einer Personenverwechslung zu einem Folter- und schließlich Mordopfer. Die Handlung spielt im Jahr 1971 während der Unruhen in Ostpakistan, dem späteren Bangladesch. Die Filmemacherin Leyla Bouzid verfolgt in ihrem Film Wenn ich meine Augen öffne [À peine j'ouvre les yeux] das Leben einer jungen Frau aus der tunesischen Mittelklasse in der Zeit kurz vor dem Volksaufstand von 2011. Eines Tages bekommt Farah (Baya Medhaffer) aufgrund ihrer Liedtexte Ärger mit den Behörden und fällt der Polizei in die Hände, die sie misshandelt und bedrängt.

In 3000 Nächte von Mai Masri nimmt eine junge palästinensische Frau (Maisa Abd Elhadi) einen Anhalter mit und wird daraufhin der Unterstützung von Terrorismus beschuldigt. Sie wird vom israelischen Militär gefoltert und anschließend zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.

Der psychologische “Kollateralschaden”, den der imperialistische Krieg erzeugt, findet seinen Ausdruck in dem Streifen Thank You for Bombing (von der österreichischen Regisseurin Barbara Eder), in welchem eine unstillbar ehrgeizige amerikanische Journalistin (Manon Kahle), die vom Afghanistankrieg berichtet, beinahe von amerikanischen Soldaten vergewaltigt wird, sowie in Terence Davies’ Sunset Song, in welchem ein vom Ersten Weltkrieg heimgekehrter schottischer Soldat rohe Gewalt an seiner eigenen Frau auslässt. Price of Love des Äthiopiers Hermon Hailay enthält gleichfalls sexuelle Gewalt, die von Mächtigen gegen die Machtlosen ausgeübt wird. McCarthys Spotlight nimmt sich die Vertuschung des weitverbreiteten Kindesmissbrauchs der Priesterschaft von Massachusetts durch die Katholische Kirche vor.

Zwei Dokumentarfilme handeln von Militär- und Polizeikriminalität. In Guantanamo’s Child: Omar Khadr (Patrick Reed und Michelle Shephard) erhält Khadr, ein kanadischer Staatsbürger, der im Jahr 2002 als Fünfzehnjähriger auf dem Schlachtfeld in Afghanistan von amerikanischen Einheiten aufgegriffen und anschließend ein Jahrzehnt lang im Höllenloch von Guantanamo festgehalten wurde, die Gelegenheit, seine persönliche Leidensgeschichte zu erzählen. The Hard Stop (George Amponsah) handelt von dem Polizeimord an dem jungen Mark Duggan aus Nordlondon, dessen brutale Ermordung im Jahr 2011 zu Aufständen geführt hatte.

Man könnte hierzu noch Darstellungen des sozialen Elends aus Guatemala (Ixcanul, Jayro Bustamante), Äthiopien (Price of Love und Lamb, Yared Zeleke) und der Slowakei (Koza, Ivan Ostrochovský) zählen, der sozialen Ungleichheit und offiziellen Korruption in China (Berge könnten weichen, Jia Zhang-ke und Ein junger Patriot, Du Haibin) sowie der rücksichtlosen Praktiken der Geschäftswelt in den Vereinigten Staaten (In Jackson Heights, Frederick Wiseman). Von religiöser und sozialer Unterdrückung durchtränkt ist Mountain (Yaelle Kayam), ein Film über eine orthodox-jüdische Frau, die mit ihrer Familie in einem Haus am Friedhof des Ölbergs in Jerusalem wohnt.

Einige dieser Filme sind verhältnismäßig erschreckend, andere ganz vernichtend, zumindest wenn es sich um bestimmte soziale Entwicklungen und Ereignisse handelt. Im Allgemeinen stehen Wahrhaftigkeit und Kunstfertigkeit auf solidem Niveau. Zwar ist kein einzelnes Werk herausragend, weder in gesellschaftlicher noch ästhetischer Hinsicht, doch der kumulierte Effekt ist Aufwühlung und Betroffenheit. Die Drehbuchschreiber und Filmemacher entnahmen der Gegenwartsrealität einige Aspekte und hauchten ihnen partielles Leben ein. Es verbleibt indessen die Frage: Was dann?

Man sollte noch en passant erwähnen, dass der Dokumentarfilmer Michael Moore, ein Liebling des Toronto-Festivals, eine Persiflage unter dem Titel Where to Invade Next [Wo marschieren wir demnächst ein?] vorstellte. Der Titel ist irreführend. Im Wesentlichen fordert Moore das Pentagon auf, sich „zurückzuhalten“. Unter Barack Obamas Präsidentschaft verstummte Moore im Grunde genommen (sein letzter Film erschien 2009). Er und der Rest der liberalen Linken unterstützen Obamas rechte Politik, und dieser Film wäre viel besser dran, wenn man über ihn schweigt.

Angesichts der weitverbreiteten Aversion gegen das öffentliche Leben, die wir oben erwähnten, und dem bislang fehlenden Selbstvertrauen in eine Alternative zum status quo, greifen die Filmemacher gegenwärtig zu Studien über Persönlichkeiten, die anziehender sind, das heißt, sie widmen sich ihren Künstlerkollegen. Eine Suche nach Menschlichkeit, Wärme und Empfindsamkeit trägt sich gerade zu – eine Suche, die vielleicht etwas oberflächlich und ein bisschen „gefahrlos“ vonstattengeht, doch zweifellos wohl gemeint ist.

Eine bedeutende Zahl von Spiel- und Dokumentarfilmen hat Persönlichkeiten aus der Popmusik zum Thema. Zu diesen Berühmtheiten gehören Janis Joplin (Janis: Little Girl Blue, Amy Berg), Keith Richards (Keith Richards: Under the Influence, Morgan Neville), die amerikanische Soul/Funk-Sängerin Sharon Jones (Miss Sharon Jones!, Barbara Kopple), die kanadische Band Arcade Fire (The Reflektor Tapes, Kahlil Joseph), die amerikanische Sängerin Princess Shaw und der israelische Videokünstler Kutiman (Thru You Princess, Ido Haar), die argentinischen Tangolegenden Juan Carlos Copes und Maria Nieve (Our Last Tango, German Kral) – all dies sind Dokumentarfilme. Man kann noch Laurie Andersons Film Heart of a Dog hinzuzählen, in welchem die Regisseurin neben anderem auch den Tod ihres Ehemanns, des Popsängers Lou Reed, thematisiert.

Dem Countrysänger Hank Williams (I Saw the Light, Marc Abraham) und dem Jazzmusiker Chet Baker (Born to be Blue, Robert Budreau) sind zwei neue Spielfilme gewidmet. Der palästinensische Regisseur Hany Abu-Assad, der sich in der aktuellen Situation im Nahen Osten vielleicht nach etwas Positivem umsehen wollte, drehte einen Spielfilm (The Idol) über Mohammad Assaf, einen Hochzeitsänger aus Gaza, der durch seinen Sieg im Jahr 2013 bei dem Casting-Gesangswettbewerb Arab Idol zu weltweiter Berühmtheit gelangt war.

Weitere Filme in Toronto warfen einen Blick auf das Bolschoi-Ballett, Yo-Yo Ma und das Silk Road Ensemble, auf den kanadischen Dichter Al Purdy, auf den amerikanischen Autor (und McCarthy-Opfer) Dalton Trumbo, auf die berühmte Unterhaltung der beiden Filmemacher Alfred Hitchcock und Francois Truffaut im Jahr 1962, auf das Leben des australisch-amerikanischen Kostümbildners Orry-Kelly, auf Cineasten aus Afghanistan und Kolumbien und den isländischen Maler Georg Gundi.

In den folgenden Artikeln kommen wir ausführlicher auf die interessanteren Filme zurück.

Loading