Offizielle Rechtfertigung für Belagerung Brüssels bröckelt

In der belgischen Bevölkerung beginnt sich Frustration breit zu machen, weil die Widersprüche in den offiziellen Rechtfertigungen für die andauernde Polizeiblockade Brüssels und den nationalen Ausnahmezustand immer deutlicher wurden.

Am Montag gab der belgische Geheimdienst OCAM (Organ for the Coordination of Threat Analysis) bekannt, dass die höchste Terrorwarnstufe vier bis zum kommenden Montag beibehalten werde. OCAM entschied jedoch, dass die U-Bahnen, Schulen und Universitäten, die seit Samstag geschlossen sind, ab dem heutigen Mittwoch wieder zum Normalbetrieb übergehen sollen.

„Die möglichen Ziele [von Terroranschlägen] sind die gleichen wie gestern“, erklärte Ministerpräsident Michel am Montag und nannte Einkaufszentren und den öffentlichen Nahverkehr. Er erklärte aber, die Behörden erlaubten ihnen, am Mittwoch wieder zu öffnen, weil „wir nicht wollen, dass die Terroristen gewinnen, indem sie das Land lahmlegen".

Tatsache ist, dass die belgische Regierung die Gefahr eines Terroranschlags benutzt, um außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen, die praktisch alle demokratischen Grundrechte aushebeln. Paramilitärische Einheiten haben die Kontrolle in Brüssel übernommen und verfügen über unbegrenzte Vollmachten, Häuser zu durchsuchen und Personen festzunehmen, die sie als verdächtig ansehen. Diese Maßnahmen ähneln denen in Frankreich, wo der „Ausnahmezustand“, welcher der Regierung außerordentliche Vollmachten verleiht, um drei Monate verlängert worden ist.

Die massive Jagd auf Verdächtige, die Sonntagnacht in mehreren Brüsseler Stadtteilen veranstaltet wurde, brachte keinerlei eindeutige Ergebnisse. Von den sechzehn Festgenommenen wurden fünfzehn ohne Anklage wieder freigelassen. Einer wurde nach Angaben der belgischen Bundesanwaltschaft „der Teilnahme an den Aktivitäten einer Terrorgruppe und an einem Terroranschlag" beschuldigt. Die angebliche Zielperson der Brüsseler Razzien, der vermeintliche Planer der Terroranschläge vom 13. November in Paris, Salah Abdeslam, wurde nicht ergriffen.

Weitere fünf Personen waren am Montagmorgen in Brüssel verhaftet worden. Zwei von ihnen wurden Montagabend wieder freigelassen, die drei anderen für weitere Vernehmungen festgehalten.

Die Staatsanwaltschaft musste ihr Vorgehen rechtfertigen, weil die 22 Durchsuchungen und sechzehn Festnahmen von Sonntagabend so wenig zu Tage gefördert hatten. In einer Stellungnahme erklärte sie: „Es ist nicht ungewöhnlich, dass im Kontext einer Großoperation wie der am Sonntag viele Personen für intensive Befragungen mitgenommen werden oder weil sie erklären sollen, warum sie sich in bestimmten Gebieten aufhalten.“

Diese Erklärung ist lächerlich. Es mag ja sein, dass die Brüsseler Polizei die Angewohnheit hat, viele Unschuldige bei ihren Operationen festzunehmen. Aber es ist ganz sicher ungewöhnlich, eine ganze Stadt für mehrere Tage lahm zu legen und zahlreiche Menschenjagden in unterschiedlichen Stadtvierteln auf der Suche nach einer einzelnen Person zu veranstalten.

Die unterschiedlichen staatlichen Stellen gaben außerdem widersprüchliche Anweisungen an die Bevölkerung heraus. Bildungsminister Joelle Milquet und der Chef der Region Brüssel, Rudi Vervoort, äußerten sich unterschiedlich darüber, ob die Kindertagesstätten geöffnet werden würden. Ähnliche Verwirrung herrschte über die Frage der Öffnung der Grundschulen.

Trotz breiter Übereinstimmung in der herrschenden Elite für die Polizeistaatsmaßnahmen gab es von den Oppositionsparteien und den Medien Kritik an der kompletten Lahmlegung der Stadt.

Vertreter der Grünen und der Sozialistischen Partei (PS) erklärten, die Regierung müsse sich so langsam andere Begründungen für ihr Vorgehen einfallen lassen. „Es hat sich angeblich nichts geändert, aber die Schulen und die U-Bahn sollen am Mittwoch wieder öffnen. Man kann den Menschen nicht mehr mit allem kommen“, warnte Zakia Khattabi, die zweite Vorsitzende der Grünen.

„Unabhängig von den Empfehlungen des OCAM kann man inzwischen deutlich sehen, dass die Entscheidung, Brüssel lahmzulegen, eine politische Entscheidung war. Wir haben ihr vertraut", sagte sie.

Khattabi rief nicht zum Widerstand gegen die Abriegelung der Stadt auf, sondern forderte lediglich einsichtigere Begründungen für die Maßnahmen. „Die Legitimität der Maßnahmen … erfordert Erklärungen“, forderte sie

Spannungen entwickelten sich auch zwischen Michels rechter Reformbewegung (MR) und dem PS-Bürgermeister von Lüttich, Willy Demeyer. Auf die Frage von MR-Mitgliedern, ob „alles wirklich unter Kontrolle ist“, antwortete Demeyer schlicht, dass es auf der Grundlage der Erkenntnisse der nationalen belgischen Behörden „keine spezielle Bedrohung auf kommunaler Ebene gibt".

Demeyer lobte die große Polizeipräsenz in Lüttich und prahlte damit, dass der Kauf von Waffen und schusssicheren Westen im Wert von 750.000 Euro einen umfassenden Einsatz der Polizei in der Stadt möglich gemacht habe

La Libre Belgique wies in einem Leitartikel auf die wirtschaftlichen Kosten der Stilllegung der Stadt hin: „So wie das alles der Bevölkerung präsentiert und erklärt wurde, hat es sicher nicht zur Beruhigung der Bevölkerung beigetragen.“

Die Zeitung wies Kommentare internationaler Medien zurück, dass Brüssel „ein Zentrum des Dschihadismus“ oder ein „scheiternder Staat“ sei. Sie beklagte, das sei „sicher nicht die beste Art Investoren und Terroristen in unser Land einzuladen“. Sie warnte vor der „katastrophalen“ Wirkung einer Absage des Brüsseler Weihnachtsmarkts und der Wintervergnügen für die Tourismusindustrie der Stadt.

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