Tusk will Europa gegen Flüchtlinge abschotten

Der Ratspräsident der Europäischen Union, Donald Tusk, will Flüchtlinge nach ihrer Ankunft für 18 Monate internieren und plädiert für eine strikte Abschottung der europäischen Außengrenzen. Tusk erhob diese Forderungen in einem Interview mit sechs führenden europäischen Zeitungen, darunter der Süddeutschen Zeitung und dem britische Guardian.

Unterdessen haben die türkischen Sicherheitsbehörden angefangen, Flüchtlinge an der Ausreise aus der Türkei zu hindern, wie es der schmutzige Deal zwischen Ankara und der Europäischen Union vorsieht, der am vergangenen Sonntag beschlossen wurde. Die türkische Küstenwache und Polizei hat bereits fast 2000 Flüchtlinge inhaftiert. Ihnen droht die baldige Abschiebung in die Kriegsgebiete, aus denen sie zuvor geflohen waren.

Griechenland droht der Ausschluss aus dem Schengen-System, falls die Regierung in Athen weiterhin die Stationierung von 400 Polizisten und Beamten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex ablehnt, die die Landgrenze zu Mazedonien kontrollieren sollen. Am Grenzort Idomeni eskaliert die Lage unterdessen weiter. Zuletzt hat die mazedonischen Polizei Flüchtlinge, denen die Einreise nach Mazedonien verweigert wird, mit Gummigeschossen vom Grenzübergang vertrieben.

Tusks Hetze

Tusk begründet seine Forderung nach der monatelangen Internierung von Flüchtlingen mit Verdrehungen und gezielten Lügen.

Obwohl die Attentäter, die am 13. November die Anschläge in Paris verübten, fast ausnahmslos in Frankreich und Belgien geboren und aufgewachsen waren und teilweise seit Jahren unter strenger Beobachtung der Geheimdienste und der Polizei standen, denunziert Tusk Flüchtlinge pauschal als Sicherheitsrisiko und potentielle Terroristen.

„Spielen sie die Sicherheitsfrage nicht herunter“, sagt er, „wenn sie Migranten und Flüchtlinge überprüfen wollen, brauchen sie mehr als eine Minute. Es genügt nicht, Fingerabdrücke zu nehmen. Es ist kein Zufall, dass im internationalen Recht und auch nach europäischen Regeln 18 Monate für die Überprüfung vorgesehen sind. Man kann und sollte Migranten so lange aufhalten, bis die Überprüfung abgeschlossen ist.“

Gegen besseres Wissen behauptet Tusk auch, ein Großteil der Flüchtlinge gebe sich fälschlicherweise als Syrer aus, habe aber tatsächlich überhaupt keine Fluchtgründe. Oft werde gesagt, „wir müssten offen sein für syrische Flüchtlinge. Aber diese stellen nur 30 Prozent des Stroms. 70 Prozent sind Migranten. Auch deshalb brauchen wir effektivere Kontrollen.“

Tatsächlich sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 388.000 von 608.000 Flüchtlingen, die von Januar bis Ende Oktober aus der Türkei nach Griechenland flohen, also nahezu zwei Drittel, Syrer. Selbst die deutsche Bundespolizei widersprach der Behauptung, viele Flüchtlinge nutzten gefälschte Pässe.

Hinzu kommt, dass jeder vierte Flüchtling, der auf den griechischen Inseln angelandet ist, ein Kind war. Alleine in der letzten Woche sind zwölf Kinder bei ihrer waghalsigen Flucht in den Fluten der Ägäis ertrunken. Im Oktober ertranken insgesamt 90 Kinder auf der Überfahrt.

Verzweifelte Familien zu Betrügern abzustempeln und sie als illegale Migranten zu denunzieren, um rechte Stimmungen anzuheizen, ist verbrecherisch. Genauso zynisch ist angesichts von 3563 Flüchtlingen, die in diesem Jahr im Mittelmeer laut offiziellen Angaben den Tod gefunden haben, Tusks Behauptung, es sei „zu leicht, nach Europa zu gelangen“.

Dem Ratspräsidenten schwebt offensichtlich ein gewaltiges System von Internierungslagern an den EU-Außengrenzen vor, die gemeinsam von den EU-Mitgliedsstaaten betrieben werden, denn, so Tusk, „den Frontstaaten müssen wir helfen, aber nicht nur bei der Verteilung, sondern vor allem, um diese Prozedur durchzusetzen“.

Tatsächlich gibt es eine bewusst vage formulierte EU-Richtlinie, die vorsieht, Asylsuchende bis zu 18 Monate zu inhaftieren. Während bislang behauptet wurde, sie werde nur in Ausnahmefällen angewendet, will Tusk nun ausnahmslos alle Flüchtlinge einsperren, einschließlich Kindern, Jugendlichen, Schwangeren, Alten und Kranken.

In Ungarn und Tschechien werden Flüchtlinge bereits sei Mitte dieses Jahres unter dem Vorwurf der „illegalen Einreise“ in Gefängnisse gesteckt. In Deutschland plädiert Innenminister Thomas de Maizière ebenfalls seit Monaten dafür, die im Aufbau befindlichen Registrierungszentren an den EU-Außengrenzen, die sogenannten „Hotspots“, zu riesigen Konzentrationslagern für Flüchtlinge auszubauen. Der EU-Ratspräsident spricht hier nicht nur für sich, sondern für weite Teile der europäischen Regierungen und der herrschenden Klasse.

Stopp der Flüchtlingswelle

Donald Tusk greift in dem Interview auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel an. Er kritisiert ihre Anfang September zusammen mit ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann getroffene Entscheidung, Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen. Damals hatten sich tausende Flüchtlinge zu Fuß über die Autobahn auf den Weg nach Österreich und Deutschland gemacht. Merkel und Faymann erlaubten ihnen die Ein- bzw. Durchreise, weil sie befürchteten, ihre gewaltsame Abweisung werde auf Widerstand in der Bevölkerung stoßen und den gesamten Balkan destabilisieren.

Nun erklärt Tusk: „Wir können aber von den politischen Führern zumindest eine veränderte Einstellung erwarten. Manche von ihnen sagen, die Flüchtlingswelle sei zu groß, um sie zu stoppen. Das ist gefährlich.“

Der EU-Ratspräsident lässt keinen Zweifel daran, dass gegen die Flüchtlinge mit äußerster Rücksichtslosigkeit bis hin zu massiver Gewaltanwendung vorgegangen werden sollte. „Ich bin absolut überzeugt, dass wir sagen müssen: Diese Flüchtlingswelle ist zu groß, um sie nicht zu stoppen. Dass ist eine gemeinsame Aufgabe.“

Zur Rechtfertigung dieser menschenverachtenden Politik verweist er auf angebliche Ängste in der Bevölkerung. „Die derzeitige Debatte spielt sich nicht zwischen Politikern oder Intellektuellen oder Kommentatoren ab. Zum ersten mal in vielen, vielen Jahren ist zu bemerken, dass diese Debatte in der Öffentlichkeit geführt wird, wo eine aufrichtige Furcht und Unsicherheit vorherrscht. Man kann diese Furcht, diese Stimmung auf der Straße spüren. Wir reden über unsere Aufnahmekapazitäten. Niemand in Europa ist bereit, diese hohen Zahlen aufzunehmen, Deutschland eingeschlossen.“

Tatsächlich werden die Ängste, von denen Tusk spricht, seit Monaten von rechten Politikern geschürt – ohne großen Erfolg.

Der 1957 geborene Tusk gehört selbst zu jener schmalen Schicht von Aufsteigern, die sich nach der kapitalistischen Restauration in Polen Ende der 1980er Jahre am staatlichen Eigentum und der Ausbeutung der Arbeiter hemmungslos bereicherten. 1989 gründete er den Liberal-Demokratischen Kongress, der 1992 die ultra-neoliberale Regierung von Hanna Suchocka unterstützte und nach einer Fusion zur Freiheitsunion (UW) 1997 in die Rechts-Regierung von Jerzy Buzek eintrat. Tusk gehörte dabei zu den aggressivsten Vertretern der sogenannten Schocktherapie, mit der die sozialen Errungenschaften in Polen und das staatliche Eigentum in kürzester Zeit zerschlagen wurden. In einem Interview mit der Zeitung Trybuna forderte er 1992, massive Proteste der Arbeiter gegen Sozialkürzungen mit Gummiknüppeln und, wenn nötig, mit der Armee zurückzuschlagen.

In der Öffentlichkeit zeigt sich ein völlig anders Bild, als Tusk es beschreibt. Trotz der Hetzkampagne gegen Flüchtlinge ist die Aufnahmebereitschaft und Solidarität im überwiegenden Teil der Bevölkerung ungebrochen. Überall in Europa werden Flüchtlinge von freiwilligen Helfern versorgt und beraten. Ohne die massive Spendenbereitschaft selbst in verarmten Gebieten Tschechiens, Griechenlands oder Serbiens wären wahrscheinlich schon tausende Flüchtlinge mitten in Europa verhungert oder erfroren, da die staatlichen Behörden ihnen oftmals die notwendigste Versorgung versagen.

Lob für türkische Behörden

Donald Tusk lobt auch die türkischen Behörden, die nun offensichtlich massiv gegen Flüchtlinge vorgehen. Bereits am Sonntag rückten nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung 250 Grenzpolizisten und Beamte der Küstenwache aus, um an acht Orten in der Küstenprovinz Canakkale Flüchtlinge an der Ausreise zu hindern. Mehr als 1300 Flüchtlinge wurden bei der Aktion festgenommen und in ein Abschiebelager gebracht.

In der Kleinstadt Ezine setzte die Polizei 113 syrische Flüchtlinge fest, 57 weitere wurden von der Küstenwache aus einem bereits abfahrbereiten Schlauchboot geholt. Hunderte weitere sollen entlang der Küste inhaftiert worden sein. Von ihrem Verbleib fehlt jede Spur. Menschenrechtsorganisationen fürchten, dass sie in Lager gesteckt und ohne Prüfung der Fluchtgründe rasch nach Syrien, in den Irak oder Pakistan und Afghanistan abgeschoben werden.

Auch an der griechisch-mazedonischen Grenze spitzt sich die Lage weiter zu. In dem provisorischen Lager nahe der Stadt Idomeni harren nach Angaben von ProAsyl mittlerweile nahezu 6000 Flüchtlinge aus, denen die Einreise nach Mazedonien verweigert wird. Den Flüchtlingen, die zum großen Teil im Freien übernachten müssen, fehlt es trotz des Einsatzes freiwilliger Helfer an Essen, Decken und warmer Kleidung. Als hunderte Flüchtlinge am Mittwoch versuchten, den Zaun am Grenzübergang zu umgehen, wurden viele von ihnen durch Gummigeschosse der mazedonischen Polizei verletzt.

Die Europäische Union droht der griechischen Regierung mittlerweile mit dem Ausschluss aus dem Schengen-Raum, sollte Athen die Flüchtlingskrise nicht in den Griff bekommen. Nach einem Bericht der Financial Times wird vor allem verlangt, dass Griechenland der Stationierung von 400 Frontex-Polizisten und Grenzschutzbeamten an der griechisch-mazedonischen Grenze zustimmt und nicht länger die Entgegennahme von Eurodac-Geräten verweigert, mit denen Flüchtlingen die Fingerabdrücke abgenommen und direkt in eine europäische Datei eingespeist werden.

Die Verweigerungshaltung in Athen hat jedoch nichts damit zu tun, dass die Syriza-Regierung „humaner“ mit Flüchtlingen umgeht, sondern entspringt alleine der Sorge, dass Griechenland mit den Flüchtlingen allein gelassen wird.

Die Überwachung der Grenze zu Mazedonien soll die unkontrollierte Ausreise von Flüchtlingen aus Griechenland verhindern. Die lückenlose Registrierung kann dazu führen, dass die anderen EU-Staaten zum Dublin-Verfahren zurückkehren und die Flüchtlinge in das Land zurückschicken, in dem sie registriert wurden, d.h. nach Griechenland. Die Regierung von Alexis Tsipras befürchtet nicht ganz unbegründet, dass sich die anderen europäischen Regierungen der Flüchtlinge entledigen wollen, indem sie sie den europäischen Regeln folgend in das von den drakonischen Spardiktaten aus Brüssel und Berlin zerrüttete Land abschieben.

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