Deutschland: Gewalt gegen Flüchtlinge dramatisch gestiegen

Die Zahl rechter Gewalttaten gegen Flüchtlinge in Deutschland ist im Jahr 2015 stark angestiegen. Dies geht aus einer Reihe von Medienberichten und Recherchen der letzten Wochen hervor. Politiker der Regierungs- und Oppositionsparteien bemühen sich indessen, den braunen Mob als „besorgte Bürger“ zu verharmlosen und zu legitimieren. Die Strafverfolgungsbehörden leisten dazu ihren eigenen Beitrag. Sie weigern sich, politisch motivierte Straftaten der Rechten als solche zu benennen und zu verfolgen. Schwerste Verbrechen werden so systematisch zu Kavaliersdelikten erklärt.

Der Präsident des kirchlichen Sozialverbands Diakonie, Ulrich Lilie, spricht gegenüber der Zeit von der „schlimmsten Welle von rassistischer und rechtsextremer Gewalt seit 20 Jahren“. Der Gründer der Neonazi-Aussteiger-Organisation Exit, Bernd Wagner, vergleicht die heutige Situation mit 1991. Anfang der 90er Jahre standen die brutalen Angriffe auf Flüchtlings- und Arbeiterwohnheime im sächsischen Hoyerswerda, in Rostock-Lichtenhagen, in Solingen und Mölln, wo Asylbewerber von einem rechten Mob gehetzt und verbrannt wurden, für eine Welle rechtsextremer Gewalt, die von Politik, Medien und Strafverfolgungsbehörden befeuert wurde. Zur heutigen Situation sagt Wagner: „Da braut sich was zusammen, bald könnten Todesopfer zu beklagen sein.“

Laut Recherchen der Zeit gab es in diesem Jahr bereits 222 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Die Täter warfen Pflastersteine und Molotowcocktails, zündeten Sprengsätze, legten Brände oder setzten die Wohnungen unter Wasser. 93 der 222 Angriffe waren Brandanschläge. In allen Fällen wurden Bewohner entweder verletzt oder waren unmittelbar in Gefahr. Zum Teil drangen rechtsextreme Täter unter falschem Vorwand in Flüchtlingsunterkünfte ein und gingen auf Bewohner los.

In einem besonders krassen Fall im brandenburgischen Massow verletzte ein Täter 35 Flüchtlinge mit Pfefferspray, nachdem er an einer Feier in einer örtlichen Unterkunft teilgenommen hatte. Laut Staatsanwaltschaft äußerte der Mann, er habe nichts gegen Ausländer, wohl aber gegen „Wirtschaftsflüchtlinge“.

Insgesamt wurden laut den Zahlen, die das Bundesinnenministerium im November für das laufende Jahr veröffentlicht hat, 747 „lagerrelevante Delikte zum Themenfeld ‚Straftaten gegen Asylunterkünfte‘“ registriert – also durchschnittlich mehr als zwei ausländerfeindliche Straftaten pro Tag. Darunter fallen unter anderem Sachbeschädigungen, Propagandadelikte, Schmierereien und Volksverhetzung. Laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins Frontal 21, der sich auf die Angaben des Ministeriums bezieht, konzentrieren sich die Angriffe vor allem in Nordrhein-Westfalen (155), Niedersachsen (68), Sachsen (66) und Sachsen-Anhalt (40).

Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl wesentlich höher liegt. Auffallend ist allein der Gegensatz zwischen den 222 Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte, die die Zeit nennt, und der offiziellen Zahl des Innenministeriums, wo man lediglich von 120 Angriffen spricht.

Recherchen von NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung (SZ) aus dem vergangenen Sommer legen nahe, dass diese Beschönigung System hat. Viele Straftaten, die die Länder dem Bundesministerium für das Jahr 2014 gemeldet hatten, tauchen in dessen Bericht schlicht nicht mehr auf. Angeblich sind diese Differenzen auf Ermittlungsergebnisse zurückzuführen, die doch eher auf Unfälle statt auf Straftaten hindeuten. In einer gemeinsamen Liste der Amadeu-Antonio-Stiftung und von Pro Asyl tauchen eine Vielzahl weiterer Delikte auf, die bei den Behörden nicht vermerkt sind.

Die Recherchen von Frontal 21 und der Zeit legen nahe, dass die Ermittlungsbehörden rechtsextreme Gewalt systematisch verharmlosen und sogar verteidigen.

Frontal 21 geht auf Anschläge auf Asylunterkünfte in Tröglitz (Sachsen-Anhalt) und Altena (NRW) ein. Den Brandanschlag in Tröglitz verbucht die Kriminalstatistik lediglich als schwere Brandstiftung, nicht als politisch motivierten Anschlag.

Im Fall der Unterkunft in Altena wussten die Täter, dass sich dort Flüchtlinge aufhielten, als sie das Gebäude anzündeten. Die Anwohner, die die Flüchtlinge herzlich aufnahmen, reagierten empört. Trotzdem ermittelt die Staatsanwaltschaft lediglich wegen schwerer Brandstiftung, nicht wegen versuchtem Mord, und verteidigt die Täter. Als Begründung gab die Behörde gegenüber Frontal 21 an, die Täter hätten sich „dahingehend eingelassen, eine Verletzung oder Tötung der im Erdgeschoss wohnenden Personen nicht gewollt zu haben“.

In nur vier der 222 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte wurden die Täter verurteilt. In acht weiteren Fällen wurde Anklage erhoben. Einer der Brandstifter von Altena, der die Tat gestanden hatte, ist inzwischen wieder auf freiem Fuß.

Eine Kolumne in der Süddeutschen Zeitung vom Dienstag berichtet, das acht wegen Delikten polizeibekannte Täter, die aus offenbar rechtsradikalen Motiven einen Döner-Imbiss in München mit Messer, Hammer und Baseballschlägern überfallen und zwei Menschen verletzt hatten, erst vier Tage später vernommen wurden, obwohl sie noch am selben Tag ermittelt wurden. Trotz des Messers mussten sie nicht in Untersuchungshaft. „Nur wenn jemand ein Messer mitbringt, ist er noch kein versuchter Totschläger“, begründete dies der Staatsanwalt.

Ein junger Antifaschist, der auf einer Anti-Pegida-Demonstration eine Fahne in der Hand hielt, die die Polizei als Waffe einstufte, obwohl er sie nicht als solche einsetzte, musste dagegen zwei Monate in Untersuchungshaft und wurde zu einer Haftstrafe von neun Monaten auf Bewährung verurteilt, weil er auch noch weggeworfene Lebensmittel „gestohlen“ hatte.

„Ein Schelm, wer der bayerischen Justiz Sehschwäche auf dem rechten Auge vorwirft“, folgert die Kolumne.

Dass viele Täter, die Flüchtlingsunterkünfte angreifen, vorher nicht als Rechtsextreme aufgefallen waren, ist daher kein Zufall. Das Verhalten der Ermittlungsbehörden, die durch V-Männer tief in die Neonazi-Kreise verstrickt sind, aber vor allem die tendenziöse Berichterstattung und offene Hetze zahlreicher Medien sowie führender Regierungspolitiker senden ein ermutigendes Signal an den rechten Mob.

Die Terroranschläge in Paris am 13. November kamen für Teile der Medien wie gerufen, um aggressiv eine Verschärfung der Flüchtlingspolitik und die Schließung der deutschen Grenzen zu fordern. Sie behaupteten, unter den Flüchtlingen befänden sich Terroristen, die nach Deutschland kämen, um Anschläge zu verüben. Inzwischen ist klar, dass fast alle Attentäter in Frankreich geboren und lange vor den Anschlägen von den französischen Behörden überwacht worden waren.

Mathias Döpfner forderte in der Welt eine „Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte“ und bezeichnete „die Flüchtlingskrise und nun die Terrorwelle von Paris“ als „Brandbeschleuniger eines Kulturkampfes“. Zur Verteidigung „unserer Werte“ gehöre ein neues „Einwanderungsgesetz“, das „Wirtschaftsflüchtlinge und Einwanderer aus sicheren Drittländern konsequent abweist“ und jeden, „der die Regeln unseres Rechtsstaates missachtet“, sofort ausweise.

Darüber hinaus gießen führende Regierungspolitiker seit einem Jahr Wasser auf die Mühlen rechtsextremer Gruppierungen, wie den selbsternannten „Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida), in dem sie diese als „besorgte Bürger“ verklären.

Der Vizekanzler und SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel hatte sich am 23. Januar in der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) mit Anhängern der Pegida getroffen. Vier Tage vorher hatten dort die Pegida-Initiatoren Lutz Bachmann und Kathrin Oertel auf Einladung von SLpB-Chef Frank Richter, der mit ihnen das Podium teilte, ihre rechte Hetze verbreitet. Zu diesem Zeitpunkt lief bereits ein Ermittlungsverfahren gegen Bachmann, weil er auf seiner Facebook-Seite Asylbewerber als „Dreckspack“, „Viehzeug“ und „Gelumpe“ bezeichnet hatte.

In seinen Kommentaren gegenüber Frontal 21 wäscht Gabriel nun die Hände in Unschuld. Auf die Frage, ob sein Besuch in der sächsischen Landeszentrale nicht im Nachhinein ein Fehler gewesen sei, antwortet der SPD-Vorsitzende: „Das, was wir heute sehen, sind offen Rechtsradikale, haben mit denen, die sich damals in der Landeszentrale für politische Bildung getroffen haben, nichts zu tun.“ Auf den Einwurf des Reporters, man habe absehen können, wofür Pegida stehe, erwidert Gabriel: „Wenn sie das alles wussten, sind sie ja viel klüger als ich...“

Auch CDU-Innenminister Thomas de Maizière wird im Bericht des Nachrichtenmagazins gefragt, ob er bereue, dass er „vor einem Jahr Verständnis für Pegida gezeigt“ habe. De Maizière erklärt daraufhin, dass sich die Beurteilung von Pegida „gewandelt“ habe. Es bleibe aber „richtig, dass Bürgerinnen und Bürger, die Sorgen haben, auch ernst genommen werden müssen“.

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