„Das ist eine Sache, die mich beunruhigt“

Ein Interview mit Ulrich Chaussy über seine Recherchen zum Oktoberfestattentat

Am 28. November erhielten der Journalist Ulrich Chaussy und der Regisseur Daniel Harrich für ihre Fernseh-Dokumentation zum Oktoberfest-Attentat 1980 in Münchenden Preis der „Deutschen Akademie für Fernsehen“ in der Sparte Fernseh-Journalismus. Daniel Harrichhat zudem die Recherchen Chaussys zum Bombenattentat auf das Münchener Oktoberfest in seinem sehenswerten Spielfilm „Der blinde Fleck“verarbeitet.Wir sprachen mit Ulrich Chaussy.

Ulrich Chaussy

Dietmar Henning: Herr Chaussy, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zu ihrer Auszeichnung. Sie freut uns sowohl für Sie beide persönlich und Ihre Arbeit als auch für das Thema selbst, bei dem noch so viele Fragen offen sind. Was können Sie über die sonstigen Reaktionen auf Ihre Recherchen berichten, insbesondere nach Wiederaufnahme der Ermittlungen 2014?

Ulrich Chaussy: Vielen Dank. Wir haben den Preis für die halbstündige Dokumentation bekommen, die am 4. Februar 2015 gesendet wurde. Diese Dokumentation hat nach der Ausstrahlung so interessante neue Hinweise erbracht, dass wir sie aktualisiert und auf das Doppelte verlängert haben. Die aktualisierte Dokumentation, die am 13. Oktober im Bayerischen Fernsehen gelaufen ist, berührt ganz neue Spuren. Es verdichtet sich der Eindruck, dass in der Tatnacht am 26. September 1980 so gravierende Ermittlungsfehler und/oder Vertuschungen geschehen sind, dass die anschließende Fahndung ganz große Möglichkeiten verschenkt hat, den Fall aufzuklären.

So meldete sich nach unserer gestern ausgezeichneten Doku dem 4. Februar 2015 auch ein ehemaliger Polizist, der in der Tatnacht am 26. September 1980 außerhalb seines normalen Dienstes hinzukam, um den Tatort abzusichern und bei der Tatortarbeit zu helfen. Wir wussten schon seit Jahren, dass das Fragment einer menschlichen Hand am Tatort zurückgeblieben war. Wir wussten das von einem Polizisten, der beim Regeln des Verkehrs auf etwas Schwammiges, Weiches getreten war und plötzlich ein Handfragment vor sich liegen sah. Er hat es nur sehr undeutlich beschrieben, weil es dunkel war. Er sah mehrere Fingernägel schimmern und eine große kompakte Hand. Er rief dann einen Kollegen, der dieses Handfragment sichern sollte.

Dieser Kollege hat sich jetzt gemeldet. Er hatte die Hand tatsächlich gesichert, aufgehoben und zur Einsatzzentrale der Polizei gebracht, die provisorisch in einem Großraumbus der Feuerwehr München errichtet worden war. Er gab dieses Handfragment dort ab, unter Angabe des genauen Fundorts, seines Namens und seiner Dienststelle. Er wurde aber während der gesamten Ermittlung nie wieder zu diesen Dingen befragt.

Interessant ist, dass dieser Polizist eine präzise Beschreibung geben konnte: eines Handtellers mit vier Fingern, die Haut auf beiden Seiten unversehrt, nicht mit Schmauchspuren versehen und mehr oder minder auf Höhe des Handgelenks abgetrennt, wahrscheinlich aber ohne Daumen.

Dieser Befund hat die Bundesanwaltschaft, die seit dem 12. Dezember 2014 wieder ermittelt, sehr interessiert. Ich habe versucht herauszubekommen, warum sich die Behörde so sehr dafür interessiert. Das Handfragment war doch immer im Gespräch gewesen.

Der Hintergrund war, dass die Behörde bei der Suche nach dem verschwundenen Handfragment, hinter dem ich immer her war, jetzt doch noch etwas gefunden hat. Nicht das Asservat selbst, sondern eine Fingerabdruckkarte, also eine Fingerspur, die man von dem Handfragment hatte nehmen können, und eine äußere Beschreibung. Aus diesen Unterlagen geht hervor, dass es deswegen nur einen Fingerabdruck gab, weil das „Handfragment“ eben nur aus einem einzelnen verkohlten Leichenfinger bestand. Da verstand ich dann das starke Interesse der Bundesanwaltschaft an dem neuen Fund. Es muss zwei sogenannte Handfragmente gegeben haben.

Die Geschichte ist deswegen so makaber, weil in den Vermerken, die nach dem Einsatz am Tatort gemacht wurden, ganz eindeutig der Versuch unternommen wurde, das zweite Handfragment aktenmäßig komplett verschwinden zu lassen. Die beiden Fragmente – der Finger und die Hand – haben nur eine Gemeinsamkeit: Beide sind – im Besitz der Ermittlungsbehörde - aus dem Ermittlungsgang verschwunden.

Entscheidend ist dabei Folgendes: Wir stellen uns vor, die Ermittler hätten nach der Tatnacht versucht herauszufinden, was mit den Toten und Verletzten des Anschlages sei, die sich in der Gerichtsmedizin und in den Krankenhäusern in und um München befanden. Eine simple Abfrage, ob dort Verletzte seien, denen eine Hand abgerissen wurde, hätte ergeben müssen: ‚So jemand ist hier nicht erschienen. Wir müssen die Suche ausdehnen, wir müssen bundesweit nach einer Person forschen, die eine solche Verletzung aufweist, aber sich nicht von sich aus als Opfer registrieren und behandeln lässt.‘ Aber nichts dergleichen ist geschehen.

Zu meinem großen Erstaunen sieht die Ermittlungsgruppe den Polizisten, der sich jetzt gemeldet hat, nach seiner Vernehmung als nicht glaubwürdig an. Wir stehen vor dem Rätsel, dass man einen Anlass hat, die Vorkommnisse der Tatnacht innerhalb der Ermittlungsgruppe kritisch zu untersuchen. Aber ganz offenkundig existiert bis heute eine Art Korpsgeist gegenüber den Beamten der eigenen Institution, der die Ermittler des Landeskriminalamtes daran hindert, in die gebotene kritische Überprüfung der Ermittlungen ihrer ehemaligen Kollegen einzutreten.

Das ist eine Sache, die mich schon einigermaßen beunruhigt. Denn im Umfeld dieser Behörde sind die Asservate verschwunden, d. h. die Möglichkeit, die Hintergründe aufzuhellen. Die Asservate und ihre Spuren sind unwiederbringlich – oder genauer gesagt: bislang unwiederbringlich – vertan.

Für mich ergibt sich daraus zwingend die Notwendigkeit, der Frage nachzugehen, wer in der Tatnacht auf Seiten der ermittelnden Behörden was getan hat, auf wessen Anweisung. Wenn man dem nicht nachgeht, kommt man nicht darauf, was damals eigentlich mit den Ermittlungen los war.

Ihre Dokumentation und auch der Spielfilm zeigen, wie Ermittlungen sabotiert oder vertuscht worden sind. Man einigte sich schnell auf die Alleintäterthese und das Verfahren wurde dann schnell beendet, im November 1982. Sie haben immer wieder versucht, Hintermänner zu finden. Da kommt immer wieder die Wehrsportgruppe Hoffmann zur Sprache.

Ja, Karl-Heinz Hoffmann hat für Gundolf Köhler [den angeblichen Alleintäter, der beim Attentat ums Leben kam; DH] eine Rolle gespielt. Er hatte sich als 16-Jähriger brieflich an Hoffmann gewandt und sein Interesse bekundet, an Wehrsportübungen teilzunehmen. Dazu ist es ja auch gekommen. Er hatte auch sein Interesse bekundet, in seinem Wohnort Donaueschingen eine Wehrsportgruppe nach dem Muster von Hoffmann zu begründen. Hoffmann sagt immer, er habe ihm davon abgeraten.

Die Orientierung auf Hoffmann war Mitte bis Ende der 70er Jahre nicht weiter verwunderlich. Er war die Adresse schlechthin, wenn es um Überlegungen ging, wie man rechtsextreme Politik mit einer Art von Miliz flankiert. Da waren diese Gruppen entstanden, die den alten NPD-Kameraden vorwarfen, das parlamentarische Spiel mitzumachen und ausschließlich Mandate erringen zu wollen. Dies sei ein Weg, der allein nicht zum Erfolg führe, man müsse auch auf der Straße präsent sein und diese Politik militärisch flankieren. Für dieses Modell stand Karl-Heinz Hoffmann. Er hatte gesagt, man treffe sich nicht zu Versammlungen, um über politische Programme zu diskutieren, sondern um mit der Waffe, um Partisanentechniken, um Bürgerkriegstechniken zu üben.

Als ich in den 70er Jahren als Hörfunkjournalist in der Szene der Neonazis zu recherchieren begann, die sich rechts von der NPD entwickelte, konnte ich nie verstehen, warum man nicht erkennen wollte, dass die Personen, die sich an Hoffmann wandten, ganz grundsätzlich aus der rechtsextremen Szene kamen. Überall dort, wo sich Splittergruppen rechts von der NPD gebildet hatten, befanden sich die Militantesten. Die Analogie, die sich ein jeder mit ein wenig Phantasie hätte bilden können, war offensichtlich. In der Weimarer Republik hatte die NSDAP ihre Politik mit der SA militärisch flankiert.

Welche Strukturen in den 70ern gewachsen sind an Gruppierungen außerhalb der militärischen Befehlskontrolle von Hoffmann ist natürlich heutzutage von großem Interesse. Denn wenn Herr Hoffmann sagt, er habe mit Köhler zum Zeitpunkt des Attentats schon längere Zeit nichts mehr zu tun gehabt, er sei auch kein formales Mitglied gewesen, mag das stimmen. Aber es haben sich überall Zellen gebildet. Man kann ja auch am NSU ablesen, dass es Aktivisten gibt, die bis zum Untertauchen in den Untergrund gehen; die aber nicht im luftleeren Raum existierten, sondern die sich aus Kameradschaften herauslösten, zu denen es vielfältige Beziehungen gibt. Die Haltung von Behörden, die Vernetzung der Rechtsextremisten ausschließlich nach den Gesetzen der Vereinsbildung, mit Protokoll, Schriftführer und Jahreshauptversammlung zu betrachten, das verrät schon eine – finde ich – gefährliche Naivität.

Im Umfeld des NSU sind 25 V-Leute bekannt. Inwieweit letztendlich einer oder mehrere der drei NSU-Mitglieder Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Kontakte zum Verfassungsschutz hatten, ist offen. Auch in der Wehrsportgruppe Hoffmann waren nachweislich V-Leute.

Ja, aber wir wissen noch viel zu wenig von der Durchdringung der Wehrsportgruppe Hoffmann durch den Verfassungsschutz. Das ist ein großes Manko, von dem Herr Hoffmann genüsslich Gebrauch macht. Er sagt: ‚Ich bin es nicht gewesen, der Staat ist es gewesen.’ Wobei es ein leichtes wäre, das zu widerlegen, wenn man die Parlamente, die Politik dazu drängt, endlich die Karten auf den Tisch zu legen. Wenn alle V-Leute offen gelegt würden, dann wäre mit der Durchdringung des Staates bei den Rechten Schluss, dann hätten wir wirklich eine „Stunde Null“ – Tabula rasa.

Wir beobachten aber, dass auf Biegen und Brechen daran gearbeitet wird, eine solche „Stunde Null“ nie entstehen zu lassen, die Uhren nie auf diesen Punkt zurückzudrehen.

Nun, gerade im Fall des Oktoberfestes werden nach wie vor Akten des Verfassungsschutzes zurückgehalten.

Ja, richtig. Das darf natürlich nicht so bleiben. Es gibt diese Organklage der Bundestagsfraktionen der Linken und der Grünen. Hier ist es schon schwierig, mit dem allgemeinen Staatswohl zu argumentieren, um die Herausgabe der Akten zu verweigern. Es fällt da nicht ganz so leicht. Vom Bundesverfassungsgericht kann man auch immer ganz gute Überraschungen erwarten.

Ähnlich wie beim NPD-Verbotsverfahren 2003?

Am 16. Dezember erscheint im Ch. Links Verlag die überarbeitete und ausführlich ergänzte Auflage des Buches „Oktoberfest. Das Attentat. Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann“ von Ulrich Chaussy.

Darauf spiele ich an. Das ist für mich so eine Art Peilung, dass unsere Verfassungsrichter in einer qualifizierten Mehrheit gesagt haben, wir brechen dieses Verbotsverfahren ab, weil wir nicht wissen, ob wir hier über eine authentische verfassungswidrige rechtsextremistische Partei urteilen oder über eine staatliche Veranstaltung. Die haben es auf den Punkt gebracht. Auf diesen Punkt schauen mir viel zu wenige.

Man darf die offene Frage, ob dann in Zukunft keinerlei Erkenntnisse über rechtsextreme Zellen mehr gewonnen werden können, nicht gering schätzen. Es kann mir aber niemand erzählen, dass man da nicht hellhörig werden kann, von wo Gefahr droht. Schon Mitglieder der ehemaligen neonazistischen FAP [Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei] fuhren zu einem Banküberfall, um sich Geld zu beschaffen. Wir schreiben das Jahr 1981. Ich kann nur sagen, Vertrauen in das bisherige System, dass V-Leute als Frühwarnsystem des Rechtsstaates und der Demokratie fungieren, kann kein Beobachter der Geschehnisse der letzten 35 Jahre haben. Ich hab es jedenfalls nicht.

Eine letzte Frage. Woran arbeiten sie gerade? Was haben wir noch zu erwarten?

Ich habe neue Hinweise zur Spur, die ich begonnen habe zu verfolgen, zur Spur der abgetrennten Hand. Auch andere Spuren muss ich noch durchrecherchieren. Aber was da im Augenblick genauer abläuft, das kann ich ihnen leider nicht erzählen, das geht nicht. Das würde die Recherchen gefährden.

Wir sind gespannt. Vielen Dank Herr Chaussy für dieses Gespräch.

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