Berliner Flüchtlingselend: „Senatsverantwortliche haben sich strafbar gemacht“

Die Bilder gehen inzwischen um die Welt: Schlangen erschöpfter und verzweifelter Menschen, darunter Frauen, Kinder, Alte und Kranke, die die ganze Nacht anstehen müssen, notdürftig mit Decken gegen Kälte und Regen geschützt; Massenlager in Turnhallen und Flughafenhangars, wo Tausende unter unwürdigen Bedingungen zusammengepfercht sind.

Die Kritik am Umgang mit Flüchtlingen in Berlin wächst. Die Worte „Lageso“ für das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales und „Hangars“ für menschenunwürdige Sammellager mitten in der Hauptstadt sind zum Inbegriff von Behördenwillkür und Fremdenfeindlichkeit geworden.

Anfang Dezember stellten 40 Rechtsanwältinnen und -anwälte Strafanzeige gegen den bisherigen Amtsleiter des Lageso, Franz Allert, gegen Sozialsenator Mario Czaja (CDU) sowie weitere Verantwortliche „wegen Körperverletzung und Nötigung im Amt“. Die im Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) und in der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) organisierten Juristen verweisen auf den massiven staatlichen Rechtsbruch am Lageso. „Verletzungen und Erkrankungen, Hunger und Obdachlosigkeit von Geflüchteten werden in Berlin zum Regelfall“, heißt es in der Pressemitteilung vom 7. Dezember.

Rechtsanwältin Christina Clemm, Vorstandsmitglied im RAV, verwies gegenüber der WSWS auf zahlreiche Körperverletzungen, darunter ein Beinbruch, Hämatome und Schwächeanfälle. Dies belege allein schon die hohe Zahl der Krankenwageneinsätze. Hinzu kämen Hunger und Obdachlosigkeit, weil das Lageso nur für eine Woche Hostel-Gutscheine ausgibt und die Flüchtlinge zwingt, sich erneut in die Warteschlange zu stellen, um eine Verlängerung zu erhalten.

Wenn das Lageso nicht weiter bezahlt oder die Zahlung verzögert, so Clemm, setzten die Hostelbetreiber die Menschen nach einer Woche rigoros vor die Tür. Ganze Familien ständen auf der Straße, ohne Dach über dem Kopf und ohne Geld, um sich selbst zu verpflegen. „Diese Situation haben Czaja, Allert und andere billigend in Kauf genommen und sich damit strafbar gemacht“, betonte die Rechtsanwältin.

Wie die WSWS inzwischen erfuhr, bleiben über Weihnachten viele Hostels leer. Das Lageso, das über die Weihnachtstage geschlossen bleibt, obwohl 400 neue Flüchtlinge pro Tag erwartet werden, hat offensichtlich noch offene Rechnungen zu begleichen. Der RBB berichtete von Millionenbeträgen, die den Betreibern noch nicht erstattet wurden.

Leben im Hangar

Für die Flüchtlinge bleibt keine andere Chance, als in Notunterkünfte und Sammellager wie die düsteren, unwohnlichen Flughafenhangars zu wechseln. Der Senat und sein im Sommer gegründeter „Koordinierungsstab Flüchtlingsmanagement“, an dessen Spitze der ehemalige Polizeipräsident Klaus Keese steht, arbeiten gezielt in diese Richtung.

In seiner Regierungserklärung vom 12. November kündigte der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) an, alle sieben Flughafenhangars in Tempelhof würden in wenigen Wochen mit bis zu 6000 Menschen belegt, und noch vor wenigen Tagen hieß es, bis Weihnachten müssten bereits 4000 einquartiert sein.

Die Lebensbedingungen der Flüchtlinge in den Flughafenhangars sind katastrophal: wochenlang keine Duschen, kaum Waschmöglichkeit, keine Privatsphäre, weil mehr als zehn Menschen in ein Zelt oder einen Container gepfercht werden, schlechtes Essen, düsteres Licht und noch düsterere Perspektiven, jemals wieder menschenwürdig zu leben.

Unter dem Druck der wachsenden Kritik an der Berliner Flüchtlingspolitik hat sich der SPD-CDU-Senat Anfang des Monats zu einem ersten Bauernopfer entschieden. Am 9. Dezember entließ Müller den Behördenchef des Lageso, Franz Allert. Auch dessen Dienstherr, Sozialsenator Mario Czaja (CDU), gerät zusehends unter Druck.

Die Grünen, derzeit Oppositionspartei, fordern Czajas Rücktritt. Sie nutzen das Flüchtlingselend in Berlin für ihren Wahlkampf zum Abgeordnetenhaus im kommenden Jahr. Grünen-Politikerin Renate Künast warf Czaja auf Spiegel Online vor, für „ein kluges und effizientes Krisenmanagement“ nicht geeignet zu sein.

Am Dienstag musste sich Czaja in der Senatssitzung außerdem Vorwürfen stellen, er habe jahrelang aus Rücksicht auf Interessen von Parteifreunden die Errichtung neuer Flüchtlingsunterkünfte verhindert. Die Lokalzeitung B.Z. hatte am Wochenende Geheimdokumente des Lageso veröffentlicht, die belegen, dass der Sozialsenator die Nutzung geeigneter Gebäuden blockiert hat, weil CDU-Abgeordnete und teilweise auch SPD-Abgeordnete um ihren jeweiligen Wahlkreis oder auch um den Wert ihres Immobilienbesitzes fürchteten.

So schreibt eine Lageso-Mitarbeiterin in einer der veröffentlichten Emails, dass der heutige stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Stefan Evers im Gespräch über eine mögliche Unterkunft im ehemaligen Hostel an der Nikolsburger Straße signalisiert habe, „welche CDU-Mitglieder im Umkreis des Jugendgästehauses Eigentum besitzen“. Ferner habe er darauf hingewiesen, „dass es sich um den Wahlkreis einer SPD-Abgeordneten handelt, die zur Bundestagswahl 2013 antritt“. Diese Eigentümer „sehen einen Wertverlust ihrer Immobilien und werden […] entsprechende politische Wege gehen, um dieses Vorhaben zu verhindern“.

Ebenfalls 2013 soll Czaja ein „Akquiseverbot“ für ein Gebäude am Kirchhainer Damm erteilt haben. Später brüstete sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Jan-Marco Luczak, in dessen Wahlkreis die Asylunterkunft geplant war, öffentlich damit, das Heim beim Senat verhindert zu haben.

Flüchtlingsfamilie

Am Montag schob die B.Z. einen weiteren Vorwurf nach. Czaja hätte einigen gemeinnützigen Heimbetreibern geholfen, ihre hohen Tagessatz-Vorstellungen durchzusetzen, die das Lageso pro Flüchtling zahlen muss. Im Juni hatte der Landesrechnungshof dem Lageso Geldverschwendung vorgeworfen. Bereits im März berichtete der RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg) über die Millionenzahlungen an private Heimbetreiber für die Unterbringung von Flüchtlingen. In die Kritik geriet dabei unter anderem die Firma Gierso Boardinghaus, an deren Spitze der Patensohn des Behördenchefs Allert stand.

Trotz der wachsenden Wut in der Bevölkerung über den menschenunwürdigen Umgang mit Flüchtlingen hat sich an der Lage der verzweifelten Menschen nichts geändert. Die kosmetischen Veränderungen, wie das Aufstellen zweier weiterer Wärmezelte am Lageso, die nun auch nachts geöffnet sind, oder die versprochene Krankenversorgung während der Feiertage sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Allein auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor werden in den nächsten Tagen mehr Wärmezelte und medizinische Infopoints aufgebaut, um die bald anreisenden Silvestertouristen zu betreuen, als für die seit Wochen wartenden Flüchtlinge am Lageso zur Verfügung stehen.

Es wird immer klarer, dass die schrecklichen Zustände am Lageso und in den Massenunterkünften gewollt sind und der Abschreckung weiterer Flüchtlinge dienen sollen. Hier ist sich der Senat mit der Bundeskanzlerin einig, die nach ihrer heuchlerischen „Willkommenskultur“ zur Wortführerin der EU für Abschottung und Abschiebungen geworden ist.

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