Die Armut von Hartz-IV-Empfängern nimmt deutlich zu

Die ohnehin niedrigen Hartz-IV-Regelsätze verlieren Jahr für Jahr an realem Wert. Bei der Berechnung der Regelsätze für 2016 hält sich die Bundesregierung weder an ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2014 noch an eigene Gesetze.

Mit dem neuen Jahr ist der so genannte Eckregelsatz für alleinstehende Erwachsene um 5 Euro auf nun 404 Euro im Monat angehoben worden. Kinder erhalten 237 bis 306 Euro pro Monat, das sind drei bis vier Euro mehr als im letzten Jahr. Dieser leichte Anstieg könne jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, „dass Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger heute faktisch weniger zum Leben haben als zum Start des Hartz-IV-Systems Anfang 2005“, heißt es in einer Studie des Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB).

Die 2005 von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Grüne) – in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften – eingeführten Hartz-IV-Sozialleistungen erhalten Erwachsene, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, sowie ihre Familien. So genannte „aufstockende Leistungen“ erhalten Arbeiter, die weniger als diese Mindestsicherung verdienen und Senioren, deren Renten darunter liegen. Im November 2015 erhielten über sechs Millionen Menschen Hartz IV. Millionen leben über Jahre hinweg in dieser staatlich verfügten Armut. Fast jeder zweite Hartz-IV-Empfänger im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) ist bereits vier Jahre oder länger im Hilfebezug.

Der Regelsatz soll angeblich den laufenden und einmaligen Bedarf für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Strom (ohne Heizung) und für die Bedürfnisse des täglichen Lebens decken, darunter auch die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben.

Die Gewerkschaftsdachorganisation stellt nun die Entwicklung der Hartz-IV-Regelsätze im Vergleich zur Entwicklung der allgemeinen Verbraucherpreise und speziell zu den Nahrungsmittelpreisen gegenüber. Bei der Berechnung der Regelsätze stützt sich die Bundesregierung auf die Ausgaben des ärmsten Fünftels der Einkommenshaushalte. Doch diese verfügen durchschnittlich immer noch über mehr Geld als die Hartz-IV-Empfänger. Diese müssen mit ihrem Geld vor allem Nahrungsmittel und Getränke kaufen.

Der angerechnete Anteil von Nahrungsmitteln (inklusive alkoholfreier Getränke) am Regelsatz beträgt mehr als ein Drittel (35,5 % oder 143,42 Euro, also 4,78 Euro am Tag). „Während die Regelsätze seit 2005 bis 2015 um 15,7 % gestiegen sind, stiegen die Preise für Nahrungsmittel um 24,4 %“, schreibt der DGB. Bei den Verbraucherpreisen insgesamt sei die Differenz geringer, hier würden sich höherpreisige Verbrauchsgüter (z. B. Elektronik) dämpfend auswirken, die seltener konsumiert werden.

Besonders deutlich würden die Hartz-IV-Bezieher bei den Energiepreisen (Haushaltsstrom) abgehängt, den sie selbst zahlen müssen. „Die Stromkosten eines Haushalts haben sich seit 2005 um etwa 54 % erhöht“. Die Hartz-IV-Empfänger haben also in den letzten zehn Jahren einen hohen realen Kaufkraftverlust erlitten.

Besonders betroffen sind Kinder. Etwa jedes sechste Kind unter 15 Jahren in Deutschland ist auf Hartz IV Leistungen angewiesen, rund 1,7 Millionen Kinder. Das sind 15,6 % dieser Altersgruppe deutschlandweit, 1,5 % mehr als im Vorjahr. In den Ballungszentren oder einigen ostdeutschen Gebieten ist der Anteil armer Kinder höher. In Berlin und Bremen lebt etwa jedes dritte Kind in Familien, die Hartz-IV-Leistungen beziehen.

Das Deutsche Kinderhilfswerk hatte daher schon vorher die Erhöhungen der Regelsätze für Kinder in diesem Jahr als völlig unzureichend kritisiert. „Zwei Euro mehr Kindergeld und drei Euro Regelsatzerhöhung für Kinder im Hartz IV-Bezug sind ein Hohn. Rund drei Millionen von Armut betroffene Kinder und Jugendliche [bis 18 Jahre] in Deutschland sind eine Schande für unser Land“, betonte der Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes Thomas Krüger.

Er verwies auch auf die wachsende soziale Ungleichheit. „Durch die steuerlichen Kinderfreibeträge ist die monatliche Nettoentlastung für Spitzenverdiener bereits jetzt wesentlich höher als das Kindergeld.“ Hier klaffe eine Lücke von annähernd 100 Euro. „Wenn wir einem 5-jährigen Kind im Hartz IV-Bezug täglich 2,94 Euro für Essen und Trinken zugestehen und einem 13-jährigen 19 Cent für Gesundheitspflege, hat das mit einem soziokulturellen Existenzminimum nichts zu tun“, erklärte Krüger.

Die Almosen des Hartz-IV-Systems hatten noch nie das Existenzminimum in Deutschland gesichert. Sie waren 2005 relativ willkürlich festgelegt worden. Maßgabe war, die Arbeitslosen auszuhungern, damit sie jede noch so schlecht bezahlte Arbeit annehmen. Dies verschärfte nicht nur die Armut der Arbeitslosen, sondern schuf im Folgenden auch einen riesigen Billiglohnsektor. Der 2015 eingeführte Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde (oder rund 1400 Euro Monatsbrutto) eliminierte im Übrigen nur einige der krassesten Ausbeutungsbedingungen.

2010 hatte das Bundesverfassungsgericht die Regelsätze als verfassungswidrig erklärt und deren Neuberechnung verlangt. Die Bundesregierung berechnete neu und kam durch verschiedene Rechentricks auf keine spürbare Erhöhung der Leistungen. Im Juli 2014 hatte das oberste Gericht dann geurteilt, die Regelsätze würden „noch“ das Existenzminimum absichern. Allerdings mahnte es gerade bei den Haushaltsstromkosten an, der Gesetzgeber müsse bei kurzfristigen Preissteigerungen eine Anpassung der Regelsätze vornehmen. Die Regierung hat darauf bis heute nicht reagiert.

Bei der jetzigen Erhöhung der Regelsätze interpretierte die Bundesregierung erneut ihre eigenen Gesetze zu Ungunsten der Hilfebedürftigen. Die Berechnung muss alle fünf Jahre jeweils anhand der Daten der aktuellen Einkommens- und Verbrauchsstatistik (EVS) neu erfolgen. Dazwischen richtet sich die jährliche Anpassung zu 70 Prozent nach der „Preisentwicklung regelsatzrelevanter Güter“ und zu 30 Prozent nach der Entwicklung der Nettolohnsteigerungen gegenüber dem Vorjahr.

Den Regelsätzen für die Jahre 2011 bis 2015 lagen die Daten der EVS aus dem Jahr 2008 zugrunde. Anfang September 2015 veröffentlichte das Statistische Bundesamt die Ergebnisse der EVS 2013. Laut Sozialgesetzbuch (§ 28 SGB XII) hätte die Bundesregierung die Regelsätze auf Grundlage dieser neuen Daten neu ermitteln müssen. Das geschah nicht. Es wurde erneut die pauschal berechnete Erhöhung erlassen.

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