Neujahrsbotschaft am Berliner Lageso: Es wird schlimmer!

 

Flüchtlinge stellen sich für Kleidung an

Es ist minus 7 Grad und hat gerade angefangen zu schneien, als WSWS-Reporter am 6. Januar vormittags auf dem Lageso-Gelände eintreffen. Wir wollen wissen, ob sich die Lage für die geflüchteten Menschen in Berlin gebessert hat. „Ein klares Nein“, sagt uns Christiane Beckmann von der Unterstützerinitiative „Moabit hilft“.

Ohne die ehrenamtlichen Helfer, die Tag und Nacht im Einsatz sind, hätte es längst Tote gegeben. Der Wintereinbruch verschärft die Lage für die inzwischen rund 40.000 Flüchtlinge in Berlin; es gibt die ersten Erfrierungen, weil trotz zwei weiterer Wärmezelte Hunderte in der Kälte stundenlang Schlange stehen müssen.

Interview mit Christiane Beckmann von „Moabit hilft!“

Vor Haus D, in dem „Moabit hilft“ einen Raum zur Verfügung hat, stellen sich gerade Flüchtlinge für warme Kleidung an, die von der Berliner Bevölkerung gespendet wurde. Die Helfer teilen Plastikcapes gegen den Schneefall aus, ermöglicht von privaten Spendern.

„Wir sind nicht nur Helfer“, betont Christiane B. „Wir verstehen uns auch als politische Kraft, als Sprachrohr für die geflüchteten Menschen“. Egal aus welchem Grund sie geflüchtet seien, ob vor dem Krieg oder vor Armut, so die Sprecherin von „Moabit hilft“, hätten sie das Recht, als Menschen behandelt zu werden.

Gerade in Berlin, wo die Lebensbedingungen der Berliner Bevölkerung „in Grund und Boden gespart“ wurden, widerspiegele die Situation für die Flüchtlinge die gesamte Situation, so Christiane weiter. „Die Flüchtlinge sind wie ein Katalysator, sie zeigen die Probleme in Gänze“. Man müsse inzwischen „nicht nur von Refugees, sondern auch von Non-Refugees“ sprechen. Dazu gehörten auch die Mitarbeiter des Lageso, die „bis zum Anschlag“ arbeiteten. Verantwortlich für die Zustände seien nicht sie, sondern der Senat.

Ein Sprecher der Lageso-Pressestelle bestätigte zahllose Überstunden der Mitarbeiter. Dies sei auf die vergangenen Stelleneinsparungen im Berliner Öffentlichen Dienst zurückzuführen. Allein in dieser Behörde seien in der Regierungszeit von Wowereit und der Linken 500 Stellen weggefallen. Insgesamt sei der Öffentliche Dienst Berlins seit der Wende von 200.000 auf 108.000 Stellen geschrumpft.

„Wohnungen statt Lager“

Immer kritischer wird die Unterbringungssituation. Während die Solidarität in der Berliner Bevölkerung ungebrochen ist und Hunderte ihre Privatwohnungen zur Verfügung stellen, verfolgt der Senat seine eigene Agenda. Der zuständigen Stelle des Lageso, der BUL, die bisher die Unterbringung bearbeitet hat, wurde vergangenen Juni ein neu geschaffener Koordinierungsstabs des Senats (LKF) vorgesetzt, der die Schaffung von „Notunterkünften“ in Turnhallen, Messehallen und in den Flughafenhangars des ehemaligen Tempelhofer Flughafens forciert.

In diesen Unterkünften hebelt der Senat systematisch die rechtlichen Bestimmungen aus. So stehen den weit über 2.000 Menschen in den Tempelhofer Hangars nur etwa zwei Quadratmeter Wohnfläche pro Person zur Verfügung. Dies widerspricht dem Berliner Bau- und Wohnungsaufsichtsgesetz und den daran angelehnten Lageso-Qualitätsstandards für Gemeinschaftsunterkünfte, die eine Mindestfläche von sechs bis neun Quadratmetern für erwachsene Personen und vier Quadratmeter für Kinder unter sechs Jahren vorschreiben. Auch ein Strafgefangener muss mindestens sechs Quadratmeter zur Verfügung haben!

Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) treibt dennoch seinen Plan voran, ein Massenlager mit bis zu 15.000 Menschen am Tempelhofer Flughafen zu errichten. Er will alle sieben Hangars belegen – obwohl in einem bereits die Heizung ausgefallen, in einem anderen das Dach undicht und die sanitären und medizinischen Bedingungen untragbar sind. Zusätzlich sollen Traglufthallen auf dem Tempelhofer Feld entstehen. Müller und sein Sozialsenator Mario Czaja (CDU) behaupten, sie wollten damit die Obdachlosigkeit von Flüchtlingen verhindern. Dies ist die offizielle Lesart, die auch die Pressesprecherin des Lageso Silvia Kostner gegenüber WSWS äußerte.

Allerdings entpuppen sich die sogenannten Notunterkünfte, in denen die Menschen angeblich nur kurzzeitig untergebracht werden, immer mehr als Dauerlager.

Davon kann Yilma, ein 33-jähriger Flüchtling aus Afghanistan, den die WSWS im medizinischen Zelt von Vivantes trifft, ein Lied singen. Er kam mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern nach einer 26 Tage langen Flucht aus Kabul, wo Yilma ein kleines Geschäft hatte, am 10. November nach Berlin. „Seitdem leben wir in einer Turnhalle an der Wrangelstraße“, berichtet er. „Zusammen mit über 200 Menschen“.

Heute ist er, mit Unterstützung eines deutschen Freunds, zu einem Termin ins Lageso gekommen, um ein Taschengeld zu erhalten. Aber er kam nicht dran! „Man gab mir einen neuen Termin am 25. Januar. Wie meine Familie in den nächsten 19 Tagen leben soll, weiß ich nicht.“ Die Situation werde immer unerträglicher in der Turnhalle, sagt er. „Die Duschen funktionieren nicht, es gibt zu wenig Essen. Mit mehr als 200 Menschen zusammenzuleben, ist nicht einfach. Es gibt keine Privatsphäre.“

Yilma mit einem deutschen Freund

Hinter dem Zelt bildet sich gerade eine Schlange für die Essensausgabe. In diesem Moment gehen Sicherheitskräfte der Firma Gegenbauer, eine Firma, in der der Sozialsenator Mario Czaja selbst einmal Manager war, rabiat gegen einen vermutlich nordafrikanischen Flüchtling am Zelteingang vor. Sie schubsen ihn auf den Vorplatz, wo er sich verzweifelt auf den eiskalten Boden setzt. „Das kommt hier ständig vor“, sagt Yilma.

Auch die 24-jährige Mariyam aus Damaskus, die vor einigen Tagen ankam, wurde in eine Turnhalle an der Schönhauser Allee einquartiert. „Ich kann dort nicht leben“, sagt sie und weist auf ihr zweijähriges Kind. „Es gibt dort meist nur eine funktionierende Toilette, für 100 Menschen.“

Solche Verhältnisse rechnet der Senat ein. Mit den Worten des Regierenden Bürgermeisters, geäußert in einem Interview mit der Welt am 20. Dezember: „Wenn wir die Ansprüche reduzieren und auf große Massenunterkünfte setzen statt der eigentlich gewünschten kleinen und dezentralen Unterbringung, können wir noch viele Flüchtlinge unterbringen.“ Am 6. Januar legte der Senat einen Gesetzentwurf vor, mit dem das Bebauungsverbot für das Tempelhofer Feld und damit auch das Ergebnis eines Volksentscheids 2014 für den Erhalt dieses Erholungsgebiets rückgängig gemacht werden soll.

Berliner Flüchtlingsinitiativen, darunter Moabit hilft, protestierten Anfang Januar heftig gegen dieses Vorhaben. „Statt geflüchtete Menschen in Massenlagern zu ghettoisieren“, müsse der Senat Maßnahmen ergreifen, damit Flüchtlinge in geschlossene Wohneinheiten in Gemeinschaftsunterkünfte wechseln und baldmöglichst in normale Mietwohnungen ziehen können. Sie forderten die Schließung der Tempelhofer Massenunterkunft. Zuvor hatte bereits der Flüchtlingsrat Berlin e.V. zur Beschlagnahmung leerstehender Gebäude und Ferienwohnungen aufgefordert.

Das ginge nicht, sagte Pressesprecherin Kostner dazu: „Die Gebäude und Wohnungen befinden sich in privater Hand, die können wir nicht beschlagnahmen“. Bedauernd fügt sie hinzu, „wie einfach wir doch unmittelbar nach der Wende Flüchtlinge unterbringen konnten, beispielsweise aus Jugoslawien. Damals hatten wir noch leerstehende Seniorenheime und Kliniken, die in gutem Zustand waren.“ Doch diese wurden später vom Senat privatisiert und an Investoren verkauft. Man sollte hinzufügen, dass dies auch Zehntausende von Sozialwohnungen betrifft, die der Immobilienspekulation geopfert wurden.

Schlägerei in den Tempelhofer Hangars

Am 29. November brach sich die Verzweiflung der Flüchtlinge im Tempelhofer Massenlager Bahn. Bei der Schlange vor der Essensausgabe kam es zu Drängeleien, und es brach Streit aus. Darauf schloss der anwesende Manager der privaten Betreibergesellschaft
Tamaja GmbH, Michael Elias, die Essensausgabe für eine halbe Stunde. Dadurch eskalierte die Situation zu einer Prügelei. Der Betreiber ließ die Polizei rufen, die in Bürgerkriegsmontur mit weit über hundert schwer bewaffneten und behelmten Beamten anrückte – Medienberichte sprachen von rund 300 Polizisten – und die mehrere Flüchtlinge wie Schwerverbrecher abführte.

Ein Augenzeuge, der zu den Personen gehörte, die zur Wache mitgenommen, erkennungsdienstlich behandelt und wieder freigelassen wurden, berichtete gegenüber der Zeitung B.Z., der Manager habe die Flüchtlinge auf Arabisch mit obszönen Ausdrücken beschimpft. Auch habe es Angriffe seitens der Sicherheitskräfte gegeben. Nachdem er von der Polizei freigelassen wurde, sei er in den Hangars nicht mehr hereingelassen worden. Er konnte nicht einmal seine privaten Sachen holen und habe die Nacht darauf in der U-Bahn geschlafen.

Der Vorfall lässt erahnen, welche Zukunft den in Massenlagern hausenden Flüchtlingen droht, sobald die von der herrschenden Politik geforderten Abschiebungen von Menschen „ohne Bleiberecht“ zunehmen.

Nach dem Gewaltausbruch in Tempelhof meldete sich Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) mit einer Hetztirade zu Wort. Laut Tagesspiegel vom 30.11. drohte er: „Diese Rechtsbrüche sind unerträglich und nicht hinnehmbar. Es gibt Regeln in unserem Land. Wer sich nicht daran hält, für den gibt es bei uns auch andere Unterkünfte. Mit verriegelten Türen und Fenstern.“ Unwillkürlich kommt einem das Bild des SS-Konzentrationslagers Columbiahaus in den Sinn, das bis 1938 auf dem Gelände der Tempelhofer Hangars stand.

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