Großeinsatz der Berliner Polizei: eine Bürgerkriegsübung zur Unterdrückung sozialer Unruhen

Am Abend des 13. Januar überfiel ein Aufgebot von fünf Hundertschaften der Berliner Polizei und zwei Sondereinsatzkommandos (SEK) das von der alternativen Szene bewohnte Haus in der Rigaer Straße 94 in Berlin Friedrichshain.

Während die nähere Umgebung zwischen Liebig- und Zellestraße durch dreihundert Polizisten abgesperrt wurde, drangen die zwei SEK-Sonderkommandos mit Hilfe einer Feuerwehrleiter über das Dach in das Gebäude. Danach stürmten weitere zweihundert Polizisten das Haus und durchsuchten es vom Keller bis zum Dach nach „gefährlichen Gegenständen“.

Die Polizei behauptete anschließend, dass sie bei dem Großeinsatz keine Wohnung betreten, sondern nur Hausflur, Keller und Dachboden des Vorder- und Hinterhauses durchsucht habe. Die Bewohner erklären hingegen in einer gemeinsamen Stellungnahme, dass Haus- und Wohnungstüren, Internetverbindungen, Möbel und Haushaltsgeräte zerstört worden seien.

Auch sei ihnen zu keiner Zeit der Grund des Polizeieinsatzes mitgeteilt worden. Sie berichten, dass die Polizisten auch Wohnungstüren aufbrachen und Einrichtungen wie Spiegel, Bücherregale und Plattenspieler mutwillig zerstörten und beschmutzten. Die Forderung, einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss vorzuzeigen, wurde demnach nur mit einem Lachen quittiert. Einige Bewohner seien vom SEK-Kommando gewaltsam aus dem Haus geführt worden, was nach Angaben der Mitbewohner sogar einige Mitglieder der Bereitschaftspolizei schockierte.

Als Vorwand für die brutale Aktion diente der Polizei der Überfall auf einen Streifenpolizisten am Mittag des gleichen Tages. Dieser sei laut Polizeibericht beim Ausstellen eines Strafzettels von vier Jugendlichen angegriffen und leicht verletzt worden. Diese seien daraufhin im Haus Nummer 94 verschwunden, das seit langem von Jugendlichen der autonomen und antifaschistischen Szene bewohnt wird.

Bei dem Großeinsatz wurde anscheinend klar, dass kein Bewohner in die mittägliche Auseinandersetzung mit dem Streifenpolizisten verwickelt war. Alle vorübergehend zur Überprüfung der Personalien festgenommenen Bewohner wurden noch am Abend freigelassen. Trotzdem erklärte die Polizei: „Das Haus dient offenbar als Rückzugsort für Gewalttäter.“ Damit kann praktisch jedes Haus in diesem Kiez, in dem die Haustüren der Altbauten durchweg unverschlossen sind, zu einem „Rückzugsort für Gewalttäter“ erklärt werden.

Angesichts der mehr als fadenscheinigen Begründung konnte die Polizei weder einen richterlichen Durchsuchungsbefehl einholen, noch „Gefahr im Verzug“ geltend machen. Polizeisprecher Stefan Redlich berief sich daher auf das Allgemeine Sicherheit- und Ordnungsgesetz (ASOG), als er noch vor Mitternacht vor die Presse trat. Die Polizei habe „gefährliche Gegenstände“ gefunden: Kleinpflastersteine, Krähenfüße, Feuerlöscher sowie Propangasflaschen.

Die Rechtfertigung eines solchen Überfalls mit dem ASOG und die gefundenen angeblich „deutlichen Beweise“ unterstreichen nur, dass es sich hier um eine illegale Aktion handelte, die dazu dienen sollte, ein ganzes Stadtviertel einzuschüchtern.

Ein Polizeihubschrauber flog stundenlang im Tiefflug über den Gebäuden, Polizeihunde kläfften, es war eine gespenstische Szene, die viele Nachbarn erschreckte. Anwohner des Straßenzuges wurden kontrolliert, Bewohner des Hauses am Betreten ihrer Wohnung gehindert.

Als eine Wohngemeinschaft in der benachbarten Liebigstraße 34 aus Solidarität die Straße mit lauter Punkmusik beschallte, stieg die Polizei über Hebebühnen auf den Balkon des ersten Stocks, schlug die Balkontür ein und beschlagnahmte die Lautsprecheranlage in der Wohnung.

Eine Mutter aus der Nachbarwohnung der Hausgemeinschaft beklagte, dass sie vom Betreten ihrer Wohnung abgehalten wurde, wo ihre Kinder in Panik vor dem massiven Polizeieinsatz verharren mussten. Sie bestätigte auch, dass die mittags vor dem Polizisten flüchtenden Jugendlichen, die sie gesehen hatte, keine Bewohner des Hinterhauses waren.

Die Bewohner der Rigaer Straße 94 kündigten an, rechtliche Mittel einzusetzen, „um zu verhindern, dass dieses Verhalten der Polizei zur Regel wird und dass die politischen Drahtzieher zur Verantwortung gezogen werden“. Die Hausbewohner sollten für Straftaten in Sippenhaft genommen werden, die sich in letzter Zeit in Friedrichshain zugetragen haben sollen.

Eine Gedenktafel am Hauseingang erinnert daran, dass in dem betroffenen Haus in den 1930er Jahren der parteilose Verwaltungssekretär Ernst Pahnke wohnte. Er hatte der Gedichte gegen den Nationalsozialismus verfasst, die er zusammen mit Freunden vervielfältigte und verteilte, wofür er von den Nazis zum Tode verurteilt und in Berlin-Plötzensee ermordet wurde.

Der nächtliche Großeinsatz der Polizei weckt beunruhigende Erinnerungen an diese Zeit. Er kann nicht mit dem mittäglichen Angriff auf den Polizisten erklärt werden. Tatsächlich handelt es sich um ein Übungsmanöver im Rahmen der systematischen Aufrüstung der Polizei.

Seit letzten Mittwoch wird das ganze Viertel täglich von mehreren Mannschaftswagen der Polizei befahren, Polizisten stehen demonstrativ an den Straßenecken und kontrollieren die Personalien von Passanten ohne einen konkreten Anlass. Zwei Jugendliche, die dem Aussehen nach der Punkszene zugehören und ihre Hunde ausführten, berichteten der WSWS, dass die Polizei während ihres einstündigen Rundgangs drei Mal ihre Personalausweise überprüft habe.

Während Hunderte von Neonazis am 11. Januar im alternativen Leipziger Stadtteil Connewitz ungestört mit Pyrotechnik und Steinwürfen Personen bedrohten, Panik bei den Anwohnern verbreiteten und einen Schaden von mehreren Hunderttausend Euro anrichten konnten, genügen vier Jugendliche in Berlin, um einen Polizeieinsatz von über 500 Mann mit Hubschrauber und Polizeihunden auszulösen.

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