Perspektive

Was treibt die Börsenpanik an?

In aller Welt beobachten Banken, Hedgefonds und Regierungen den Börsenhandel mit Unruhe und Furcht. Zwar blieben am Montag, dem Martin Luther King Day, die amerikanischen Märkte geschlossen, doch hinter den Kulissen fanden zweifellos intensive Beratungen zwischen der Federal Reserve, der Obama-Regierung, den Wall Street Banken und ihren internationalen Bankkollegen statt. Sie alle hatten gerade die schlimmsten zwei Jahresauftakt-Wochen der Geschichte hinter sich.

In diesen zwei Wochen wurden weltweit 5,7 Billionen Dollar an Aktienwerten vernichtet. Höhepunkt waren die Panikverkäufe vom Freitag, die die Börsen von China erschütterten und sich über Europa bis in die USA fortsetzten. An diesem Tag sank der Dow Jones um 391 Punkte und unterschritt die 16 000 Punkte-Marke.

Die akute Verkaufswelle hat die Aktienmärkte in den USA und Europa in den so genannten Korrekturbereich gedrückt. Sie mussten also ein Minus von über zehn Prozent gegenüber dem jüngsten Höchststand hinnehmen. Die chinesischen Börsen sackten sogar in den Baisse-Modus, d.h. sie verzeichneten ein Minus von über zwanzig Prozent. Grund sind starke Anzeichen von Stagnation und Krise in der Realwirtschaft. In China hat sich das Wachstum dramatisch verringert, die Preise für Öl und andere Rohstoffe fallen ins Bodenlose, und das Wirtschaftswachstum in den USA geht zurück.

Die Stimmung auf dem Börsenparkett fand Eingang in eine Kundenempfehlung des Kreditteams der Royal Bank of Scotland: 2016 werde bestimmt ein „katastrophales Jahr“, heißt es da. Die Kunden sollten am besten „alles außer hochwertigen Anleihen verkaufen“.

Die Bankexperten warnten in ihrer Mitteilung: „In einer überfüllten Halle sind die Ausgänge schnell verstopft.“ Sie sagten voraus, dass die großen Börsen um zwanzig Prozent einbrechen könnten. Der Ölpreis, der jetzt schon bei unter dreißig Dollar pro Fass gefährlich niedrig steht, könnte bis auf sechzehn Dollar fallen. „In China hat eine starke Korrektur eingesetzt, und das wird einen Schneeballeffekt auslösen.“

Die bangen Vorahnungen sind nicht unbegründet. Zu den Wirtschaftsturbulenzen kommen verschärfte geopolitische Konflikte, Kriege und Regierungskrisen hinzu. In einem Land nach dem andern brechen scharfe soziale Spannungen auf. In den Vereinigten Staaten verschärft die Finanzkrise die politischen Verwerfungen, die mit der Präsidentschaftswahl einhergehen, und der kritische Zustand des amerikanischen Zweiparteiensystems verstärkt das allgemeine Unbehagen.

Die Turbulenzen zum Jahresbeginn gehen über kurzfristige Schwankungen der Märkte hinaus. Sie sind Ausdruck tiefer Widersprüche im kapitalistischen Weltsystem. Seit dem Wall Street Crash von 2008 haben Geldhäuser und Finanzmärkte Billionen-schwere Finanzgeschenke und Bailouts kassiert. Sieben Jahre lang haben die Zentralbanken und Regierungen der USA, Europas und Asiens sie praktisch zum Nulltarif mit Mitteln versorgt. Die Realwirtschaft dagegen hat sich vom Börsenkrach von 2008 niemals erholt, im Gegenteil: ihr geht es immer schlechter.

Die Arbeiterklasse gerät mit Massenentlassungen, Lohnsenkung und Sozialkürzungen schwer unter Beschuss, während die Reichen und Superreichen in Geld baden, das sie aus parasitären und gesellschaftlich verheerenden Finanzaktivitäten wie Aktienrückkäufen, Fusionen und Betriebsverkäufen schöpfen.

In den USA wurde am Freitag deutlich, wie die wirtschaftliche und soziale Lage hinter dem offiziellen Gerede von der Wirtschafts-„Erholung“ aussieht, als Walmart seine Absicht bekanntgab, 269 Supermärkte zu schließen und 16 000 Arbeitsplätze zu vernichten. In den USA will der Einzelhandelskonzern über hundertfünfzig Läden schließen und zehntausend Arbeitsplätze streichen. Nur drei Tage zuvor hatte Präsident Obama in seiner Rede zur Lage der Nation schönfärberisch erklärt: „Wer behauptet, die amerikanische Wirtschaft befinde sich im Niedergang, erzählt Geschichten.“

Die Schließung dieser Läden bringt für einige Gemeinden, wo Walmart der größte Arbeitgeber und wichtigste Einzelhändler ist, große Belastungen mit sich. Kurz vorher hatten schon Macys und Sears-K-Mart die Schließung zahlreicher Filialen bekanntgegeben. Die amerikanische Industrie steckt in der Rezession und das gleiche gilt für das Frachtgeschäft. Etwa 40 000 Bergarbeiter haben ihre Arbeit verloren und die Kohleförderung ist seit 2008 um fünfzehn Prozent gesunken.

Nun drohen neue Rekordschulden in Form von Unternehmensanleihen in Schwellenländern, Junk-Bonds im Energiebereich und hochspekulative Wetten auf Währungen und Rohstoffe, zu implodieren. Das gleiche gilt für die aufgeblähten Börsenwerte. Ihnen allen liegt eine tiefe Krise der Realwirtschaft zugrunde. Im produktiven Sektor wird kein Kapital mehr investiert, ihm wird die Infrastruktur entzogen. So wird das Fundament des Finanzkartenhauses, das durch Spekulation, Verschuldung und offenen Betrug errichtet wurde, zusehends unterhöhlt.

Die Entscheidung der Federal Reserve, mit der Anhebung der Zinsen zu beginnen, hat die Schuldenkrise verschärft, obwohl die Zentralbank versprochen hat, schrittweise und selektiv vorzugehen. Ihre Aktion hat auf den internationalen Währungsmärkten neue Schockwellen ausgelöst, die schon darunter leiden, dass der Dollar seit 2011 um 35 Prozent im Wert gestiegen ist.

Noch weitreichender ist die Tatsache, dass die Profitraten unter Druck geraten. Am vergangenen Montag gab Alcoa einen Nettoverlust von 500 Millionen Dollar für das vierte Quartal 2015 bekannt. Die Gewinne der Standard&Poors500 Konzerne sind in dem gleichen Quartal um 4,7 Prozent gefallen. Für das ganze Jahr 2015 weisen die S&P500 Firmen wahrscheinlich überhaupt keine Gewinnsteigerung mehr aus.

Alle Aufmerksamkeit ist auf die wirtschaftliche Abschwächung und die Krise in China gerichtet. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist gleichzeitig das größte Billiglohnland. Besonders seit dem Krach von 2008 spielt China für den Weltkapitalismus eine wichtige Rolle. Die heutigen chinesischen Probleme sind jedoch Ausdruck einer globalen Krise, deren wirkliches Zentrum in den Vereinigten Staaten liegt.

Der Aufstieg Chinas zur globalen Wirtschaftsmacht hängt mit dem Absturz des amerikanischen Kapitalismus zusammen, dem eigentlichen Kern der Weltwirtschaftskrise. Das Reich der Mitte hat sich von einem maoistisch regierten Land in ein Land verwandelt, das den transnationalen Konzernen als Bastion für Billiglohnarbeit und Superausbeutung dient. Es ist das Gegenstück zum Niedergang der amerikanischen Wirtschaft, die in wachsendem Maß von Finanzspekulation durchdrungenen ist.

Seit Jahrzehnten heizt die Wall Street eine Spekulationsblase nach der anderen an. Von den asiatischen „Tigerstaaten“ über die dot.com-Blase bis hin zum Betrug mit den Subprime-Hypotheken sind sie alle geplatzt. In der gleichen Zeit ist die gesellschaftliche Infrastruktur immer mehr verrottet und die Arbeiterklasse immer tiefer im Morast wirtschaftlicher Prekarität und Armut versunken.

Ein Faktor, der das finanzielle Kartenhaus in besonderem Maß bedroht, ist der wachsende Widerstand der Arbeiterklasse. Das chinesische Regime, das korrupt ist bis auf die Knochen, ist zwar bereit, die vom internationalen Kapital verlangten Privatisierungen und Stellenstreichungen durchzusetzen, doch fürchtet es die sozialen und politischen Folgen.

Schon beginnt die riesige chinesische Arbeiterklasse sich zu regen. Im vergangenen Jahr hat sich die Zahl von Streiks und Arbeiterprotesten gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. Im Dezember gab es eine Rekordzahl solcher Kämpfe.

In den USA ist sich die herrschende Klasse völlig darüber im Klaren, dass die Arbeiterklasse bereit und fähig ist, Widerstand zu leisten. Erst zum Jahresende haben sich die Autoarbeiter gegen Tarifverträge zur Wehr gesetzt, die die Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) gewaltsam durchsetzen wollte. Seit einer Woche führen die Lehrer in Detroit, unabhängig von der Lehrergewerkschaft, ein organisiertes Krankfeiern durch. Die wachsende Militanz der Arbeiterklasse, ihre antikapitalistische Stimmung und die Tatsache, dass die rechten korporatistischen Gewerkschaften die Kontrolle verlieren, all dies ist für die Wirtschafts- und Finanzelite und ihre politischen Lakaien Grund zur Sorge.

Diese Sorge treibt sie dazu, das Leben und die demokratischen Rechte der Arbeiter immer brutaler anzugreifen. Die Antwort darauf muss eine politische Arbeiterbewegung sein, die den Kapitalismus abschafft und durch den Sozialismus ersetzt.

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