Perspektive

Sanders und der Sozialismus

Der US-Präsidentschaftswahlkampf hat bereits zu ungewöhnlichen Entwicklungen geführt und die tiefe Krise des amerikanischen politischen Systems enthüllt. Der bedeutsamste Faktor ist allerdings die breite und immer noch wachsende Unterstützung für den Präsidentschaftsaspiranten und selbsternannten „demokratischen Sozialisten“ Bernie Sanders.

Der Senator aus Vermont macht keinen Hehl daraus, dass sein Wahlkampf ein Versuch ist, die schwache Unterstützung für die Demokratische Partei wieder in Schwung zu bringen und ihre Chancen für die Wahl 2016 zu verbessern. Er hat die Frage der sozialen Ungleichheit und der Machenschaften der Wall Street ins Zentrum seiner Auseinandersetzung mit der ehemaligen Außenministerin Hillary Clinton um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten gestellt. Das hat in der Öffentlichkeit offenbar einen Nerv getroffen – und zwar viel stärker, als irgendwer in den Medien oder im politischen Establishment einschließlich Sanders selbst erwartet hatte.

Nur wenige Tage vor den ersten Nominierungsversammlungen am 1. Februar in Iowa hat Sanders in diesem Staat Umfragen zufolge mit Clinton gleich gezogen oder sie sogar überholt. Die bisherige Favoritin hat viele Millionen Dollar ausgegeben und hatte den Sieg für sich schon fest verbucht. In New Hampshire, wo eine Woche später eine Vorwahl stattfinden wird, führt Sanders mit zweistelligem Vorsprung von Clinton. Der Vorsprung scheint immer noch größer zu werden.

Die Welle der Unterstützung für Sanders ist umso bemerkenswerter, als nach den Anschlägen von Paris und San Bernardino systematisch eine zweimonatigeAngstkampagne vor Terroranschlägen entfesselt wurde. Es ist noch nicht lange her, dass Mediengrößen sich vor Freude fast darüber verschluckten, dass Sanders Wahlkampf „jetzt erledigt“ sei, weil das Thema wirtschaftlicher Ungleichheit niemanden mehr interessiere und alle nur noch auf den „Krieg gegen den Terror“ starrten.

Die Unterstützung für Sanders hat mehrere Fiktionen über die amerikanische Bevölkerung und die amerikanische Politik platzen lassen. In den USA war die Feindschaft gegenüber Sozialismus fast ein Jahrhundert lang buchstäblich Staatsreligion. Sozialistische Ideen waren aus dem politischen Diskurs ausgeschlossen und aus den Medien verbannt. Sozialistische Gegner der etablierten Parteien wurden durch antidemokratische Wahlgesetze von den Wahlzetteln ferngehalten. In diesem Land stellt sich plötzlich heraus, dass sozialistische Ideen enorm populär sind.

Kürzlich hat eine Umfrage aufgezeigt, dass eine Mehrheit Demokratischer Wähler in Iowa sich als Sozialisten verstehen und nicht als Anhänger des Kapitalismus. Besonders unter Jugendlichen findet Sanders Verdammung sozialer Ungleichheit und der Wall Street eine machtvolle Resonanz. Eine Umfrage von YouGov unter Demokraten in Iowa zeigte, dass Sanders unter 18 bis 29-jährigen Wählern mit erstaunlichen 74 Prozent zu 14 Prozent vor Clinton liegt.

In einem Land, in dem das ganze politische, mediale und akademische Establishment von Fragen der Hautfarbe, des Geschlechts und der sexuellen Orientierung besessen ist und Klassenfragen unterdrückt werden, stellt sich heraus, dass die große Mehrheit der Menschen vor allem an grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Fragen interessiert ist, die Fragen der Identitätspolitik überlagern und der ganzen arbeitenden Bevölkerung gemeinsam sind.

Breite Schichten von Arbeitern und Jugendlichen sind durch Jahrzehnte sozialer und wirtschaftlicher Reaktion radikalisiert worden. Das hat sich unter Obama, dem Apostel von „Hoffnung“ und „Wandel“, nur noch verstärkt. Sie sind angewidert von den andauernden Kriegen und der Vergeudung riesiger Mittel für Tötungs- und Raubmaschinerien im Ausland sowie die Ausplünderung der Wirtschaft im Inland durch eine kriminelle Bande von Wirtschaftsfürsten und Finanzaristokraten.

Nachdem ihnen von den Politikern und Medien seit Jahren nur Lügen aufgetischt werden – angefangen mit der Behauptung, dass Amerika sich im wirtschaftlichen Aufschwung befinde – reagieren sie mit einer Mischung aus Überraschung und Hoffnung darauf, dass ein prominenter Präsidentschaftskandidat die Dinge anspricht, die sie interessieren.

Die wachsende Unterstützung für Sanders erfüllt die herrschende Elite zunehmend mit Sorge und Furcht – und zwar nicht so sehr wegen Sanders selbst, sondern wegen der deutlichen Linkswende in der Bevölkerung und der wachsenden sozialen Opposition, die seinen hohen Umfragewerten zugrunde liegen.

In der letzten Woche wurde in den Medien und dem Establishment der Demokratischen Partei eine heftige Kampagne initiiert, die dem Aufstieg von Sanders entgegenzuwirken versucht. Prominente Clinton-Anhänger greifen Sanders an, weil er Afro-Amerikaner nicht ausreichend unterstütze, andere verlegten sich auf antikommunistische Hetze. Am Montag ging Obama fast so weit, Clinton seine Unterstützung zu geben. In einem Podcast von Politico sagte er, er lehne Vergleiche mit seinem Sieg über Clinton bei den Vorwahlen in Iowa 2008 und dem Umfragehoch von Sanders in diesem Bundesstaat ab. Er lobte Clinton, weil ihre Politik „einen wirklichen Unterschied für die Menschen in ihrem täglichen Leben“ bedeuten würde.

Der Leitartikel des Wall Street Journals vom 20. Januar mit dem Titel „Sanders ernst nehmen“ warnte die Wirtschafts- und Finanzelite vor den gefährlichen Implikationen von Sanders’ Wahlkampf. Der Artikel übertrieb den Radikalismus von Sanders’ Reformvorschlägen stark. So behauptet er zum Beispiel, dass Sanders „die Produktionsmittel mithilfe der Regierungsmacht kontrollieren“ wolle. Aber der Artikel machte auch klar, dass die Finanzelite keine der im historischen Maßstab bescheidenen Maßnahmen dulden werde, mit denen Sanders die Banken an die Kandare nehmen und die soziale Ungleichheit verringern will.

Die Zeitung zitierte eine Umfrage im Auftrag von Wall Street Journal/NBC, die zeigt, dass Sanders den führenden Kandidaten der Republikaner Donald Trump in einem hypothetischen Wettstreit mit 15 Prozent Abstand schlagen würde. Sie äußerte sich besorgt über die Möglichkeit einer Spaltung der Republikanischen Partei und über einen „extremen Wahlausgang“.

Aber Arbeiter und Jugendliche, die von Sanders angezogen werden, weil sie sich mit den sozialistischen Idealen wirtschaftlicher Gleichheit und menschlicher Solidarität identifizieren, müssen sich einige Fragen stellen, die durch den Wahlkampf des Senators aus Vermont aufgeworfen werden. Im Zentrum steht die Frage: Was ist Sozialismus und wer sind die wirklichen Sozialisten?

Sanders empört sich über die Gier und den verbrecherischen Charakter der Wall Street, aber er unterstützt die imperialistischen Kriege der Obama-Regierung im Interesse eben dieser Finanzelite. Wie ist es möglich, die Machenschaften der „Klasse der Milliardäre“ (wie Sanders sie nennt) im eigenen Land abzulehnen und zu unterstützen, was sie weltweit tut? Innen- und Außenpolitik sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Die globale Strategie der amerikanischen herrschenden Klasse und die Kosten in Billionenhöhe, die für Rüstungsgüter und Krieg vergeudet werden, müssen letztendlich von der Arbeiterklasse getragen werden. Es gibt keinen Kampf für den Sozialismus ohne einen Kampf gegen imperialistischen Krieg.

Sanders behauptet, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung in Amerika zu vertreten. Aber er vertritt wirtschaftlichen Nationalismus und Chauvinismus. Er stellt sich hinter die Gewerkschaften, um die Wut der Arbeiter über Entlassungen und Lohnkürzungen von der amerikanischen Wirtschaftselite abzulenken und sie stattdessen gegen die Arbeiter in China, Mexiko und anderswo zu richten. Aber Sozialismus basiert seit seiner Entstehung auf Internationalismus. Er kämpft für die internationale Einheit der Arbeiterklasse und gegen Nationalismus.

Sanders will Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei werden, der ältesten kapitalistischen Partei in den Vereinigten Staaten. Er hat noch nie erklärt, wie sein „Sozialismus“ mit einer Partei erkämpft werden kann, die von der Wall Street kontrolliert wird. Sozialismus ist nur auf der Grundlage der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von allen kapitalistischen Parteien und Politikern möglich. Das geht nicht mit Protestpolitik, die sich an die herrschenden Kräfte wendet. Vielmehr ist dafür ein revolutionärer Kampf der Arbeiterklasse um die politische Macht und für eine Arbeiterregierung notwendig.

Die von Sanders vorgeschlagenen Schritte wie die Zerschlagung der größten Banken, eine kostenlose Hochschulausbildung, ein allgemeine Krankenversicherung und ein Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde sind unvereinbar mit den bestehenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen, die Sanders akzeptiert und verteidigt. Der Leitartikel im Wall Street Journal macht klar, dass die herrschende Klasse die Einführung solcher Maßnahmen keinesfalls dulden und alles unternehmen wird, um sie zu blockieren. Die herrschende Elite und ihre beiden Parteien reagieren auf das Anwachsen sozialer Opposition mit der Militarisierung der Polizei und der Vorbereitung eines Polizeistaats, um eine ernsthafte Bedrohung ihrer Profite und ihrer Macht gewaltsam zu zerschlagen

Um Arbeitsplätze, Bildung, Wohnungen, Gesundheitsversorgung, eine sichere Rente und alle anderen Notwendigkeiten des Lebens zu gewährleisten, muss die Arbeiterklasse die Macht der Finanzoligarchie brechen, ihren Reichtum beschlagnahmen und die private Kontrolle über die Industrie, die Finanzwirtschaft und das Transportwesen beenden. Sozialismus ist nicht vom gesellschaftlichen Besitz der Produktionsmittel unter der demokratischen Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung zu trennen. Aber das lehnt Sanders ausdrücklich ab.

In dem Maße, in dem die Arbeiterklasse in große Klassenschlachten eintritt, wird sie mit Hilfe der World Socialist Web Site und der wahren sozialistischen Partei, der Socialist Equality Party, zu der Erkenntnis gelangen, dass Sanders und seine politischen Verbündeten Hindernisse für eine revolutionäre Massenbewegung sind, die bewusst überwunden werden müssen.

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