Cameron signalisiert baldiges EU-Referendum

Es sieht ganz so aus, als würde über die weitere Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union (EU) schon in näherer Zukunft ein Referendum abgehalten. Premierminister David Cameron und der Europäische Ratspräsident Donald Tusk haben sich am Dienstag auf eine Reihe von Vorschlägen für eine Veränderung der Bedingungen der Mitgliedschaft Großbritanniens geeinigt.

Die Vorschläge müssen noch von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union bei ihrem nächsten Gipfel am 18. und 19. Februar oder ggf. bei einem zweiten Sondergipfel im März angenommen werden. Die Rede ist von einem Referendum am 23. Juni. Die Möglichkeit eines Brexits rückt die Krise der gesamten EU in den Fokus.

Die für eine weitere Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs vereinbarten Regeln bestätigen sowohl den reaktionären Charakter der EU als auch das Scheitern ihrer erklärten Mission, den Kontinent zu einen.

Cameron stimmte einem Referendum über den Verbleib in der Union unter dem Eindruck tiefer Spaltungen innerhalb seiner Konservativen Partei in dieser Frage und zunehmender Wahlerfolge der United Kingdom Independence Party (UKIP) auf Kosten seiner Partei zu.

Er forderte von der EU mehr Möglichkeiten für das britische Parlament, EU-Gesetze zu blockieren, mehr Einflussmöglichkeiten für Nicht-Mitglieder der Eurozone, Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und eine Einschränkung der Sozialleistungen für in Großbritannien arbeitende Einwanderer aus anderen EU-Staaten. Sein Ziel dabei war Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu schüren, Ausnahmen von den geringfügigen EU-Menschenrechts- und Arbeitsschutzgesetzen durchzusetzen und die Londoner City vor der Konkurrenz der europäischen Rivalen, besonders aus Deutschland, zu schützen.

Die Zustimmung von Tusk zu diesen fremden- und arbeiterfeindlichen Maßnahmen widerlegen die Argumente derjenigen in der Labour Party und in den angeblich liberalen Medien, die die EU als Garanten einer fortschrittlicheren sozialen und politischen Agenda hinstellen. Die EU hat sich erneut als Instrument für die Durchsetzung von Austeritätspolitik und sozialer Reaktion erwiesen, die von allen nationalen Regierungen geteilt wird. Die Kompromisse, die gefunden werden, sind alle von den Interessen einzelner Nationen in der Union geprägt und drohen den Kontinent auseinander zu reißen.

Das größte Interesse der giftsprühenden britischen Presse galt der Einschränkung von Sozialleistungen von Migranten. Cameron warf sich in die abstoßende Pose eines Verteidigers des sozialen Wohnungsbaus, des National Health Service und des Sozialstaats.

Der Mann, der Großbritannien zu einem Land in permanentem „Austeritätszustand“ erklärte, ist ein unverschämter Lügner. Er porträtiert Migranten als Gefahr für den Sozialstaat, obwohl er Konzernen wie Google erlaubt, so gut wie keine Steuern zu zahlen. EU-Migranten erhalten nur 2,5 Prozent der Sozialleistungen und nur sieben Prozent der Steuergutschriften. EU- und Nicht-EU Migranten sind bei Arbeitslosenleistungen unterrepräsentiert. Von 2001 bis 2011 leisteten EU-Migranten einen positiven Saldo von 20 Mrd. Pfund (26 Mrd. Euro) zu den Sozialkassen, Nicht-EU-Migranten von 5 Mrd. Pfund (6,5 Mrd. Euro).

Tusks Angebote an Cameron sehen so aus:

Zuwanderung: Sozialleistungen für Arbeitende werden erst über vier Jahre schrittweise wirksam. Eine Notbremse greift, wenn ein EU-Mitgliedsstaat durch sie „unter Druck“ gerät. Das müsste allerdings vom Europäischen Rat gebilligt werden. Damit steht jetzt die Tür für die Verweigerung von Leistungen in der ganzen EU offen.

Schutz für Nicht-Euro-Staaten: Cameron verlangte auch eine offizielle Bestätigung, dass die EU mehr als eine Währung haben soll. Aber eine solche Bestätigung hat er nicht erhalten. Stattdessen heißt es, dass „nicht alle EU-Mitglieder den Euro als Währung haben.“ Mitglieder der Eurozone werden „die Rechte und Kompetenzen der nicht teilnehmenden Mitgliedsstaaten respektieren“, aber es wird kein Veto und keine Vertragsänderungen geben. Die Steuerzahler von Nicht-Euro-Ländern müssen sich nicht an Rettungsaktionen der Eurozone beteiligen.

Souveränität: Cameron wollte die Verpflichtung Großbritanniens kippen, auf eine „immer engere Union“ hinzuarbeiten und eine Garantie der britischen parlamentarischen Souveränität. Tusk schreibt, dass EU-Mitglieder nicht verpflichtet sind, Schritte zur „politischen Integration“ mitzugehen, sie werde darin ansonsten aber voranschreiten. Ein System „roter Karten“ ermöglicht es nationalen Parlamenten, die mehr als 55 Prozent der Stimmen des Europäischen Rates repräsentieren, ihr Veto gegen EU-Gesetze einzulegen. Außerdem werde die Verpflichtung zu einer „immer engeren Union“ nicht dazu genutzt, die Reichweite des europäischen Rechts zu erweitern.

Wettbewerbsfähigkeit: Tusk erklärt: „Die betreffenden EU-Institutionen und die Mitgliedsstaaten werden alles unternehmen, den Binnenmarkt zu stärken und ihn anzupassen, damit er mit der sich verändernden Umgebung Schritt hält.“

Die politische Debatte und die Presseberichterstattung in Großbritannien konzentrieren sich darauf, ob Cameron genügend Zugeständnisse herausgeholt hat. Innerhalb seiner Tory-Partei hat der Premierminister alle Hände voll zu tun, die Anti-EU-Gegner zu neutralisieren. Es ist ihm gelungen, Innenministerin Theresa May auf seine Seite zu ziehen, aber sein Hauptrivale, Londons Oberbürgermeister Boris Johnson, verlangt weiter, dass das Vereinigte Königreich ein Gesetz verabschiedet, um die Souveränität des Parlaments sicherzustellen. Mindestens vier Minister werden für einen Austritt in den Wahlkampf ziehen.

Labour unterstützt Camerons Wunsch nach Fortsetzung der britischen Mitgliedschaft in der EU. Deswegen kann Parteichef Corbyn die politische Krise Camerons nicht ausnutzen. Alles was ihm übrigblieb, war die Klage, dass Cameron seine Vereinbarung mit Tusk in einem Siemens-Werk in Chippenham bekanntgegeben habe. Das sei eine Beleidigung des Parlaments.

In der Fragestunde des Premierministers im Unterhaus am Mittwoch betonte Corbyn, dass Labour in der EU bleiben wolle. Er begrüßte den Vorschlag mit den „rote Karten“ für Nicht-Euro-Staaten und kritisierte, dass die „Notbremse“ bei Sozialleistungen keine Lösung gegen Ausbeutung und Niedriglöhne sei.

Cameron antwortete, dass er Labours Manifest gelesen habe. Viele der Fragen, die seine Verhandlungen bestimmt hätten, fänden sich darin wieder, darunter auch die Streichung von Sozialleistungen für EU-Immigranten in den ersten zwei Jahren. Caroline Flint von der Labour Party lobte Cameron, weil er die Frage der Sozialleistungen für EU-Immigranten gelöst habe.

Cameron liegt mit Führern der Regionalparlamente in Schottland, Wales und Nordirland im Streit, die eine Verschiebung des Referendums fordern. Er wies diese Forderung zurück, aber eine Abstimmung über den Austritt aus der EU hätte sicherlich Auswirkungen auf die Unabhängigkeitsbestrebungen im Falle Schottlands und würde die Gefahr eines Auseinanderbrechens des Vereinigten Königreichs wieder auf die Tagesordnung setzen.

Auffällig in der Debatte war die Tatsache, dass die tatsächlichen Folgen eines Brexit unter den Bedingungen einer allgemeinen Krise der EU von niemandem angesprochen wurden.

Der Brexit droht zu einem Zeitpunkt, in dem Europa von einer tiefen globalen Wirtschaftskrise getroffen wird. Jahrelange Austeritätspolitik hat die Klassenbeziehungen auf dem ganzen Kontinent zum Reißen angespannt. EU-Staaten liegen darüber im Streit, wer wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll. Überall werden die Grenzen wieder hochgezogen, Griechenland möglicherweise gar aus der Eurozone geworfen. Über der Tragfähigkeit der italienischen Wirtschaft hängt ein dickes Fragezeichen. Frankreich lebt unter dem Ausnahmezustand. EU-Regierungen sind zerstritten. Extrem rechte nationalistische Bewegungen wachsen und Bundeskanzlerin Angela Merkel kämpft um ihren Posten.

Gideon Rachman wies am 1. Februar in der Financial Times auf diese Gefahren hin und warnte: „Wenn der britische Premierminister nicht in die Gänge kommt, dann gibt es vielleicht bald keine EU mehr, die er verlassen könnte.“ Weiter erklärte er: „Ein feindliches und neuerdings wieder aggressives Russland jubelt innerlich über die Aussicht auf ein Scheitern des europäischen Projekts.“

Rachman meint, einen Brexit zu verhindern sei entscheidend für das Überleben der EU. Aber ein „Ja“ unter den angebotenen Bedingungen ist nur ein anderer Weg zur Spaltung und dem schließlichen Zusammenbruch.

Deutschland hat sich mit vielen Forderungen Camerons nur deswegen abgefunden, weil es Kurs auf ein „Kerneuropa“ nimmt. Viele ost- und südeuropäische Länder würden außen vor bleiben, während die Eurozone gestärkt würde. Aber ein Abkommen mit London, das dazu führt, Positionen auf beiden Seiten einer politisch, wirtschaftlich und selbst militärisch konsolidierten Spaltung des Kontinents einzunehmen, kann nur ein Schritt zu weiteren Konflikten in der Zukunft sein.

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