Landgericht Detmold eröffnet Prozess gegen SS-Wachmann in Auschwitz

Am Donnerstag, den 11. Februar, begann vor dem Landgericht Detmold der Prozess gegen den früheren SS-Wachmann im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, Reinhold Hanning. Der 94-Jährige ist der Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen angeklagt.

Hanning war als Jugendlicher in die Hitlerjugend eingetreten und hatte sich im Alter von 19 Jahren freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Laut der Anklage der Staatsanwaltschaft Dortmund war Hanning als Angehöriger des SS-Totenkopfsturmbanns von Januar 1943 bis Mitte Juni 1944 als Teil der Wachmannschaft im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz stationiert. Zu seinen Aufgaben gehörten die Suche nach Flüchtigen, die Bewachung von Selektionen an der Rampe und die Begleitung von Gefangenen zu den Gaskammern.

Allein zwischen Mai und Juli 1944 wurden während der sogenannten Ungarn-Aktion hundertausende ungarische Juden in Viehwaggons nach Auschwitz-Birkenau gebracht und an der Verladerampe selektiert. (Siehe auch: „Prozess gegen früheren SS-Mann Oskar Gröning beginnt in Lüneburg“) „Fast alle wurden unmittelbar danach vergast“, sagte Oberstaatsanwalt Andreas Brendel, Leiter der nordrheinwestfälischen Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen in Dortmund dem WDR. „Wir gehen davon aus, dass die anwesenden Wachleute dabei Unterstützungshandlungen geleistet haben.“

Der wichtigste Grund, warum dieser Prozess und einige wenige andere erst 71 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Untergang der Nazi-Diktatur stattfinden, liegt darin, dass die deutsche Politik und Justiz, in denen viele alte Nazis nach dem Krieg ungehindert weiter Karriere machten, eine juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Hintergründe systematisch verhindert haben.

Von den vielen Tausend NS-Verbrechern wurden nur relativ wenige vor Gericht gestellt. Seit Kriegsende ermittelte die deutsche Justiz zwar in über 100.000 Fällen, aber nur 6500 Beschuldigte wurden verurteilt. Gemessen an den monströsen Verbrechen, an denen sie beteiligt waren, erhielten sie meist recht milde Strafen. In der Regel beriefen sich die Täter auf „Befehlsnotstand“, was die Gerichte anerkannten.

Von den 6500 SS-Leuten, die im Vernichtungslager Auschwitz ihre mörderische Arbeit verrichteten und den Krieg überlebten, wurden in der Bundesrepublik laut einem Bericht des Spiegels nur 29 verurteilt, in der DDR etwa 20.

Bis vor wenigen Jahren bestanden deutsche Gerichte darauf, dass den ehemaligen SS-Wachleuten eine direkte Beteiligung an den Morden in den Vernichtungslagern nachgewiesen werden müsse, um sie anzuklagen und zu verurteilen, was mangels überlebender Zeugen sehr schwierig war. Dies änderte sich erst mit dem Demjanjuk-Prozess vor fünf Jahren.

2011 verurteilte das Landgericht München den inzwischen verstorbenen früheren SS-Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk, wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Juden zu fünf Jahren Haft. Seither muss Angeklagten keine konkrete Tatbeteiligung an einem Mord mehr nachgewiesen werden. Das ist einer der Gründe, warum jetzt wieder Prozesse gegen noch lebende ehemalige SS-Leute geführt werden.

Nach dem Demjankuk-Urteil nahm die Zentrale Stelle der Landesjustiz-Verwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg neue Ermittlungen auf. Alte Sold- und Bekleidungslisten lieferten Hinweise auf den jetzt in Detmold angeklagten Mann sowie auf drei weitere mutmaßliche ehemalige Wachleute der SS in Auschwitz. So sollen in Kiel, Hanau und Neubrandenburg noch drei weitere Männer angeklagt werden. (Siehe auch: „Neubrandenburger Auschwitzprozess droht zu platzen“)

Der Prozess gegen den früheren SS-Wachmann Reinhold Hanning stößt auf so großes öffentliches Interesse, dass die Verhandlungen des Landgerichts Detmold in den Saal der Industrie- und Handelskammer verlegt wurden. Am ersten Verhandlungstag am 11. Februar verliest Oberstaatsanwalt Brendel die Anklage. Wie Oskar Gröning wird auch Hanning Beihilfe zum Mord an Tausenden ungarischen Juden zur Last gelegt.

Hannings Einheit, eine Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns, war zur Bewachung des Lagers Auschwitz I, des sogenannten Stammlagers, eingesetzt. Die Anklage zählt daher auch alle dort begangenen Tötungsverbrechen auf. Dazu gehören: Massenerschießungen an der „Schwarzen Wand“ im Hof des Lagergefängnisses „mit einer insgesamt unbekannten Zahl von Opfern“; die Selektionen im Häftlingskrankenblock, „bei denen kranke und schwache Gefangene aussortiert und überwiegend zur Tötung in die Gaskammern verbracht wurden“; und „Vernichtung durch Lebensverhältnisse“, das heißt vor allem schwerste Arbeit bei unzureichender Kleidung und Ernährung, kastrophalen hygienischen Verhältnissen und fehlender medizinischer Versorgung.

Hanning will sich zunächst nicht zu dem in der Anklageschrift ausführlich geschilderten Verbrechen, „die vieltausendfach geschehenen Tötungen der Lagerinsassen durch die Haupttäter“, die er durch seine Wachdiensttätigkeit gefördert oder zumindest erleichtert habe, äußern. Aufgrund seines hohen Alters und seines Gesundheitszustands ist die Verhandlungszeit pro Prozesstag auf zwei Stunden begrenzt.

Wer dagegen reden will, sind die Zeugen und Nebenkläger in diesem Prozess, die wenigen, die das Grauen von Auschwitz überlebt haben oder ihre Angehörigen. Vierzig von ihnen aus dem In- und Ausland nehmen an dem Prozess teil.

Am ersten Verhandlungstag spricht Leon Schwarzbaum, geboren in Hamburg, aufgewachsen in Bedzin in Polen, wohin die Familie wegen des Heimwehs der Mutter gezogen war. Er schildert eine glückliche Kindheit und Jugend bis „das Unheil über uns“ hereinbrach. „1943 wurde ich mit meiner Familie von Polizei und SS zur Deportation bestimmt. Aus einem mir nicht bekannten Grund wurde ich am 22. Juni von meinen Eltern getrennt, die mit einer großen Zahl Bedziner Juden nach Auschwitz-Birkenau transportiert wurden, wo sie beide an einem der drei folgenden Tage vergast wurden.“

Vier Wochen später wurde er selbst nach Auschwitz verschleppt. 35 Mitglieder seiner Familie wurden ermordet. Er schildert, wie er mit ansehen musste, wie ein SS-Mann einer 17-Jährigen in den Kopf schoss. „Man ahnte, was in Auschwitz geschah. Die Maurer, die dort Gaskammern bauten, erzählten davon. Eltern warfen daraufhin ihre Kinder aus den Zügen in der Hoffnung, dass wenigstens diese überlebten.“

Schwarzbaum musste als Laufbursche des Lagerältesten, eines Kriminellen arbeiten. Dann leistete er Arbeit für Siemens im Nebenlager Bobrek. Es folgen noch weitere Schilderungen der grausamen Lebensumstände in Auschwitz, die für die allermeisten Gefangenen mit dem Tod endeten.

„Jeden Tag verfolgen mich die Bilder aus Auschwitz. Die SS war grausam und sadistisch.“ Wer versuchte zu fliehen, wurde von Hunden zerfleischt. „Im Lager setzte man diese Toten dann auf Stühle, und wir sollten vorbeigehen. Zwecks Abschreckung.“

Zum Schluss richtet er sich direkt an den Angeklagten: „Herr Hanning wir sind fast gleich alt. Wir stehen bald vor dem höchsten Richter. Sprechen Sie darüber, was Sie und Ihre Kameraden getan und erlebt haben!“

Am Freitag, dem 12. Februar, dem zweiten Verhandlungstag, schildern die Zeugen Justin Sonder (91 Jahre) und Erna de Vries (92 Jahre) ihre Erlebnisse.

Sonder kommt aus Chemnitz. Seine Eltern waren im Januar 1943 von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert worden. Seine Mutter wurde im Alter von 42 Jahren sofort von der Rampe in die Gaskammer geschickt. Sein Vater überlebte aufgrund der harten Zwangsarbeit, die er verrichten musste, Auschwitz nur um vier Jahre und starb mit 50 Jahren.

Sonder schildert die bereits unmenschlichen Transporte nach Auschwitz und wie mit der Ankunft an der Rampe die eigene Identität verloren ging. „Kinder schrien nach ihrer Mama, Frauen nach ihren Männern.“ Er sagt: „Wenn man in Auschwitz drei oder vier Monate überlebt hatte, gehörte man schon zu den älteren Häftlingen.“

Er schildert die Todesangst bei den immer wieder durchgeführten Selektionen und Bilder, die sich im eingebrannt haben: Wie jeden Mittag von der Zentrale der Buna-Werke ein LKW mit Erschossenen, Erschlagenen, Zusammengebrochenen kam. Wie die Häftlinge die Nacht stehend verbringen mussten, wenn beim Appell die Zahlen nicht stimmten. Wie die Erschöpften aus dem Schlaf gerissen wurden, um auf Befehl der SS Sport zu machen. (Zitiert nach SpiegelOnline)

Erna de Vries kommt aus Kaiserslautern und lebt heute im Emsland. Sie ist Halbjüdin, und hat darauf bestanden, ihre jüdische Mutter zu begleiten, als diese 1943 von der Gestapo erst ins Gefängnis gesteckt und dann nach Auschwitz deportiert wurde. Sie musste erst in Auschwitz lebensgefährliche Zwangsarbeit leisten und hat diese nur mit viel Glück überlebt. Sie wurde später nach Ravensbrück gebracht und überlebte, aber um den Preis, dass sie sich in Auschwitz für immer von ihrer Mutter verabschieden musste.

Am Ende des zweiten Prozesstages kündigen die Verteidiger des Angeklagten Hanning an, im weiteren Verlauf des Verfahrens eine Erklärung für ihren Mandanten abgeben zu wollen, zu der er möglicherweise ergänzend Stellung nehmen wird.

Für den Prozess in Detmold sind bis zum 20. Mai zwölf Verhandlungstage angesetzt.

„Für die Überlebenden von Auschwitz ist dies ein weiterer Akt später Gerechtigkeit, der noch einmal die Verbrechen von Auschwitz und die Bilder ihrer dort ermordeten Angehörigen in das Licht unserer Tage rückt“, sagte Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees dem WDR zur Bedeutung des Prozesses. „Es darf keinen Schlussstrich geben.“

Oberstaatsanwalt Brendel sagte zum hohen Alter des Angeklagten: „Beihilfe zum Mord verjährt nicht.“ Und: „Wenn ich das Alter des Angeklagten und die ihm vorgeworfenen Taten in Relation setze, spielt das Alter für mich keine Rolle.“

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