Noch einmal zum Thema Sanders und Sozialismus

Der Demokratische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders, der sich selbst als „demokratischen Sozialisten“ bezeichnet, wurde bei einer Veranstaltung der TV-Sender MSNBC und Telemundo in Las Vegas von einem der Moderatoren gefragt, was er unter „Sozialismus“ verstehe.

Sanders hat unter der arbeitenden Bevölkerung und unter Jugendlichen große Unterstützung bei seiner Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur gewinnen können, weil er soziale Ungleichheit und die politische Dominanz und Kriminalität der Wall Street anprangert. Dass er sich als Sozialisten bezeichnet, hat viele Arbeiter und Jugendliche nicht etwa abgeschreckt, sondern für seinen Wahlkampf begeistert – ein Indiz dafür, dass sich antikapitalistische Stimmungen ausbreiten. Laut einer Umfrage vom letzten Freitag liegt er unter den Wählern der Demokratischen Partei landesweit nur noch drei Prozentpunkte hinter der ehemaligen Außenministerin Hillary Clinton.

Auf die Frage nach seiner Vorstellung von Sozialismus antwortete Sanders: „Was ich meine, wenn ich von demokratischem Sozialismus spreche? Social Security, eines der am weitesten verbreiteten und wichtigsten Programme in diesem Land, entwickelt von FDR [Franklin D. Roosevelt], um Rentnern Würde und Sicherheit zu geben... Wenn ich von demokratischem Sozialismus rede, meine ich Medicare, die staatliche Krankenversicherung für Ältere. Und meiner Ansicht nach sollten wir dieses Konzept für alle Menschen verfügbar machen...“

„Wenn ich von demokratischem Sozialismus spreche, schaue ich nicht nach Venezuela oder Kuba. Ich blicke auf Länder wie Dänemark und Schweden...“

Diese Antwort verdient eine genauere Betrachtung. Sie macht deutlich, dass Sanders trotz seinem Gerede von einer „politischen Revolution“ gegen die „Milliardärsklasse“ kein Gegner des kapitalistischen Systems oder des politischen Zweiparteienmonopols ist, mit dem die amerikanische Wirtschafts- und Finanzelite seit mehr als 150 Jahren regiert.

Nichts an Sanders' „Sozialismus“ ist antikapitalistisch. Sozialismus ist keine Reform des Kapitalismus, sondern sein Gegenteil. Er basiert auf der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, d.h. der Großindustrie, des Transport- und Telekommunikationswesens und der Banken, und deren Umgestaltung in öffentliches Eigentum unter der demokratischen Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung. Er ersetzt Produktion zum privaten Profitstreben auf der Grundlage des Mehrwerts aus der Ausbeutung der Arbeiter, wie sie unter dem Lohnsystem herrscht, durch Produktion zum Wohl der gesamten Gesellschaft. Er ersetzt die Anarchie des Marktes, indem die Wirtschaft auf Grundlage rationaler Planung organisiert wird.

Er überwindet die Widersprüche zwischen globalisierter Produktion und dem politischen Nationalstaat, auf dem der Kapitalismus basiert, durch die weltweite Vereinigung der Arbeiter im Kampf für eine weltweite sozialistische Föderation. Diese revolutionären Veränderungen erfordern die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse und die Bildung einer Arbeiterregierung.

Sanders lehnt all das ab. Er argumentiert im Namen des Sozialismus, die bestehende wirtschaftliche und politische Ordnung könne nach dem Vorbild der Programme reformiert werden, die in den 1930ern (Social Security) und den 1960ern (Medicare) eingeführt wurden. Diese Programme waren zwar bedeutende Errungenschaften der arbeitenden Bevölkerung, doch keines von ihnen stellte die grundlegenden Klasseninteressen der amerikanischen herrschenden Elite in Frage. Und gerade weil die wirtschaftliche und politische Macht der herrschenden Klasse unangetastet blieb, sind diese Programme ständigen Angriffen ausgesetzt. Sie wurden zunehmend verwässert und stehen jetzt vor ihrer endgültigen Abschaffung.

Die andere Frage ist: wo kamen diese Programme her? Die herrschende Klasse Amerikas hat sie nicht aus Freigiebigkeit eingeführt. Sie wurden der herrschenden Elite durch erbitterte und blutige Kämpfe der amerikanischen und nicht zuletzt der internationalen Arbeiterklasse abgerungen. Der wichtigste Faktor für die Einführung der Sozialreformen der 1930er und 1960er Jahre in den USA war die Russische Revolution von 1917, die zur Gründung des ersten Arbeiterstaates der Welt geführt hatte.

Dieses Ereignis veränderte die ganze Welt. Es gab den Kämpfen der Arbeiter in den USA und auf der ganzen Welt einen starken Anstoß und erfüllte die herrschenden Klassen aller kapitalistischen Länder mit der Angst, es könnte ihnen ähnlich ergehen. Der Beginn der Großen Depression 1929 diskreditierte den Kapitalismus in den Augen von Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Die Krise führte zu einem Anwachsen von Klassenkämpfen, die in den USA 1934 in den Generalstreiks in Toledo, San Francisco und Minneapolis mündeten.

In diesem Kontext sah sich US-Präsident Franklin D. Roosevelt, ein resoluter Verteidiger des Kapitalismus und der Interessen der amerikanischen herrschenden Klasse, dazu gezwungen, eine Reihe von Sozialreformen in Kraft zu setzen. Das grundlegende Ziel hinter diesen Reformen, zu denen auch die Einführung von Social Security gehörte, war es, eine soziale Revolution in den USA zu verhindern.

Die nächsten großen Sozialreformen, Medicare und Medicaid, staatliche Gesundheitsprogramme für Senioren und Arme, wurden vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Kämpfe und wachsender politischer Unzufriedenheit eingeführt. Es war die Zeit der Massenbewegung für Bürgerrechte, die im Wesentlichen eine Weiterführung der Klassenkämpfe war, die in den 1930ern zum Aufstieg der Industriegewerkschaften geführt hatten und von einem egalitären Anspruch angetrieben waren. Sie ging einher mit den antikolonialen Kämpfen in Asien und Afrika. Begleitet wurde sie von Rebellionen in Amerikas Großstädten, militanten Streiks der Industriearbeiter und den ersten Regungen der Antikriegsbewegung.

Doch der amerikanische Kapitalismus konnte selbst auf dem Höhepunkt seiner weltweiten wirtschaftlichen Vorherrschaft die endemische Armut, Arbeitslosigkeit und Unterdrückung nicht überwinden. 1964 rief Lyndon Johnson den „Krieg gegen die Armut“ aus, der jedoch schnell zusammenbrach, nachdem der amerikanische Kapitalismus von seinen internationalen und inneren Widersprüchen überrumpelt wurde. Seither sind die Demokratische Partei und die herrschende Klasse insgesamt immer stärker nach rechts gerückt und haben alle liberalen Reformbestrebungen aufgegeben.

Die letzten 30 Jahre waren von einer unablässigen Offensive der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterklasse dominiert. Nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus im Jahr 2008 wurde diese Offensive unter der Obama-Regierung drastisch verschärft. Sanders weist oft darauf hin, dass die reichsten 20 Personen Amerikas heute über mehr Vermögen verfügen als die unteren 50 Prozent der Bevölkerung, d.h. mehr als 150 Millionen Menschen. Trotzdem unterstützt und lobt er den Präsidenten, der für die historisch größte Umverteilung von Reichtum aus der Arbeiterklasse an die Reichen verantwortlich ist.

Am Donnerstagabend erklärte Sanders: „Unterm Strich, denke ich, hat der Präsident außerordentlich gute Arbeit geleistet. Ich habe mit ihm bei einer Frage nach der anderen zusammengearbeitet.“

In den letzten Tagen haben Ökonomen aus Clintons Lager wie Paul Krugman und Jared Bernstein Sanders‘ Reformvorschläge wie kostenlosen Besuch öffentlicher Hochschulen und allgemeine staatliche Krankenversicherung als zutiefst unpraktisch und unrealisierbar kritisiert. Obwohl diese Kritik an Sanders von rechts auf der üblichen Lüge basiert, es sei kein Geld für Sozialprogramme da, haben Krugman und andere in einem wichtigen Punkt recht: Sanders akzeptiert und verteidigt das bestehende Wirtschaftssystem ebenso wie seine Kritiker aus Clintons Lager. Von diesem Standpunkt aus sind seine Reformvorschläge tatsächlich utopisch.

Wirklich fortschrittliche Veränderungen lassen sich nur durch einen Massenkampf gegen die Grundlagen der kapitalistischen Herrschaft erreichen.

Sanders' angeblich „sozialistische“ Vorbilder Dänemark und Schweden haben in den letzten zwei Jahrzehnten die Sozialsysteme zu zerstören begonnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden, und der Arbeiterklasse immer härtere Sparmaßnahmen aufgezwungen. Ihre brutalen Angriffe auf Flüchtlinge verdeutlichen ihren Kurswechsel auf soziale und politische Reaktion. Schweden hat im letzten Monat die Ausweisung von 80.000 Flüchtlingen aus den Ländern im Nahen Osten angekündigt, die von imperialistischen Kriegen verwüstet wurden. Dänemark hat Pläne bekanntgegeben, die Wertgegenstände von Asylbewerbern zu beschlagnahmen.

Sanders repräsentiert nicht den wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse gegen Ungleichheit, Krieg und Unterdrückung. Er ist kein Sprachrohr für die wachsende antikapitalistische Stimmung unter den Massen. Er repräsentiert eine Reaktion der herrschenden Klasse auf diese Entwicklungen. Seine zentrale politische Aufgabe ist es, das Entstehen einer unabhängigen politischen Bewegung der Arbeiterklasse zu verhindern, indem er den sozialen Widerstand erneut vor den Karren der Demokratischen Partei spannt.

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