V-Mann beschäftigte NSU-Terroristen

Es ist seit längerem bekannt, dass der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) die zehn Morde, die ihm zur Last gelegt werden, unter den Augen der Geheimdienste verübte und dass diese das Neonazi-Umfeld des NSU über V-Leute finanzierten. Nun sind neue Fakten ans Licht gelangt, die zeigen, dass V-Leute der Geheimdienste nicht nur das Umfeld des NSU, sondern auch diesen selbst betreuten.

Der Dokumentarfilm „Der NSU-Komplex“ von Stefan Aust und Dirk Laabs, der letzte Woche in der ARD lief, sowie ein zusätzlicher langer Artikel der beiden in der Welt belegen, dass Ralf Marschner, ein V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Uwe Mundlos nach dessen Untertauchen in seiner Baufirma beschäftigte. Möglicherweise haben auch die beiden anderen Mitglieder des NSU, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, für Marschner alias „Primus“ gearbeitet.

Es gibt außerdem Hinweise, dass die Firma von „Primus“ möglicherweise mehrere Mordanschläge des NSU logistisch unterstützte. Laut den Recherchen von Aust und Laabs war Mundlos von 2000 bis 2002 als Vorarbeiter in Marschners Baufirma tätig und dabei auch auf Baustellen in den Regionen Nürnberg und München im Einsatz, wo der NSU in diesem Zeitraum vier türkischstämmige Geschäftsleute ermordete. Die Firma mietete mehrmals Autos, die möglicherweise bei den Morden zum Einsatz kamen.

Ob „Primus“ seine Kontakte beim Verfassungsschutz über die Beschäftigung von Mundlos informierte, ob er aus eigener Initiative handelte oder dies mit dem Wissen oder gar der Unterstützung seiner Geheimdienstaufseher tat, konnten Aust und Laabs nicht klären.

Ralf Marschner war als führender Neonazi bekannt und arbeitete von 1992 bis mindestens 2002 als bezahlter Spitzel für den Inlandgeheimdienst. Gegen ihn wurde wegen Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime ermittelt. 2007 tauchte Marschner wie viele andere V-Leute aus dem NSU-Umfeld ab. Über Irland und Österreich gelangte er schließlich in die Schweiz, wo er heute wohnt. Er betreibt im benachbarten Lichtenstein ein Antiquitätengeschäft.

In den Jahren 2000 bis 2002 beschäftigte sein „Marschner Bau-Service“ in Zwickau sächsische Neonazis für Abbrucharbeiten. Uwe Mundlos war in dieser Zeit dort unter seinem Tarnnamen „Max-Florian Burkhardt“ als Vorarbeiter tätig. Der echte Burkhardt, ein früherer Neonazi, hat gestanden, den drei Untergetauchten 1998 für ein halbes Jahr seine Wohnung in Chemnitz und später Mundlos seine Identität überlassen zu haben, mit der er 13 Jahre im Untergrund lebte.

Der Bauleiter verschiedener Immobilienprojekte, Arne-Andreas Ernst, hat dem Fernsehteam in einer eidesstattlichen Versicherung bestätigt, dass es sich bei dem von Marschner beschäftigten „Burkhardt“ um Mundlos handelte. Dieser sei sein Ansprechpartner gewesen, wenn Marschner nicht da war.

Marschners Baufirma mietete häufig Leihwagen bei demselben Zwickauer Autoverleiher, bei dem auch das NSU-Trio nachweislich Tatfahrzeuge für Bankraube und Morde lieh. Am 13. Juni 2001, dem Tag an dem in Nürnberg das zweite Opfer des NSU, der Änderungsschneider Abdurrahim Özüdogru in seinem Laden erschossen wurde, mietete Marschner einen Mercedes Sprinter. Der ausgeliehene Transporter kam am nächsten Tag mit 980 gefahrenen Kilometern zurück. Am 29. August 2001, dem Tag, an dem der Münchner Gemüsehändler Habil Kilic als viertes NSU-Opfer erschossen wurde, mietete der Marschner Bau-Service einen Audi A2 und einen VW Golf.

Als Fahrer waren Marschner und bei der ersten Ausleihe sein damaliger Nazi-Kumpane Jens G. eingetragen. Jens G. wohnt noch heute in der Zwickauer Polenzstraße in Sichtweite des Hauses, in dem Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe sieben Jahre gelebt hatten und das Zschäpe am 4. November 2011 mutmaßlich in Brand setzte. Wer die Autos damals tatsächlich fuhr, wurde laut Welt vom Vermieter nicht überprüft. Es ist also möglich, dass Mundlos und Böhnhardt damit zum Tatort fuhren.

Aust und Laabs stützten ihre Recherchen unter anderem auf Vernehmungsprotokolle des Bundeskriminalamts (BKA), das Marschner zweimal, im Oktober 2012 und im Februar 2013, in der Schweiz vernommen hatte. Obwohl sich daraus zahlreiche neue Spuren ergaben, denen die beiden Journalisten relativ leicht folgen konnten, hatte sich das BKA nie bemüht, ihnen nachzugehen. Marschner wurde weder von den zahlreichen Untersuchungsausschüssen zum NSU-Komplex noch beim NSU-Prozess in München als Zeuge geladen.

Interesse für Marschner zeigte dagegen der Bundesverfassungsschutz. Obwohl er Marschner angeblich bereits 2002 als Quelle abgeschaltet hatte, nahm er wieder Kontakt zu ihm auf – „aus Fürsorgegründen“, wie sein V-Mann-Führer mit dem Decknamen „Richard Kaldrack“ im Mai 2013 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages erklärte. Seit November 2011 hatte er Marschner siebenmal telefonisch und einmal persönlich kontaktiert.

Hatte der Verfassungsschutz etwas zu verstecken? Hier stößt man wieder auf jene verdächtigen Verbindungen und Zusammenhänge, an denen der NSU-Komplex so reich ist und für die es keine unschuldige Erklärung gibt.

„Kaldrack“ war offenbar eine Schlüsselfigur zwischen Verfassungsschutz und NSU. Neben Marschner alias “Primus“ führte er mindestens zwei weitere wichtige Spitzel – Mirko Hesse alias „Strontium“ und Thomas Richter alias „Corelli“. „Corelli“ hatte 18 Jahre lang in der rechtsextremen Szene als V-Mann für den Verfassungsschutz gearbeitet und lebte nach seiner Enttarnung im Jahr 2012 in einem Zeugenschutzprogramm. Im April 2014, einen Tag bevor er vom Generalbundesanwalt zum NSU vernommen werden sollte, wurde der 39-Jährige tot in seiner Wohnung aufgefunden.

„Kaldracks“ Vorgesetzter beim Bundesverfassungsschutz war ein Beamter mit dem Tarnnamen „Lindner“. „Lindner“ war neben der Überwachung von Rechtsradikalen auch für die Beobachtung von Scientologen zuständig. Hauptauftraggeber von Marschners Bauservice war wiederum ein hochrangiger Scientologe und Immobilienunternehmer. „Lindner“ war es auch, der massenweise Akten von V-Leuten aus der rechtsradikalen Szene vernichten ließ, nachdem sich Beate Zschäpe im November 2011 gestellt hatte und der NSU aufgeflogen war.

Es gibt Hinweise, dass neben Mundlos auch die beiden anderen bekannten NSU-Mitglieder, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, von Marschner beschäftigt wurden. Das allerdings nicht so eindeutig dokumentiert wie im Falle Mundlos.

So berichtete Marschner den BKA-Vernehmern, er habe neben „Max Burkhardt“ (d.h. Mundlos) auch dessen Bruder beschäftigt. Das könnte Böhnhardt gewesen sein. Die beiden waren von Zeugen und Profilern immer wieder als „Zwillinge“ oder „Brüder“ beschrieben worden.

Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtete nach Ausstrahlung der NSU-Doku, einige Jahre später habe auch Zschäpe in einer von Marschner finanzierten Firma gearbeitet, dem Neonazi-Szeneladen „Heaven and Hell“. Die dpa berief sich dabei auf einen früheren Geschäftspartner Marschners.

Aus einem der dpa vorliegenden Vernehmungsprotokoll eines anderen Zwickauer Neonazis aus dem Jahr 2012 soll außerdem hervorgehen, dass die Behörden von Zschäpes Beschäftigung in dem Geschäft wussten. So habe ein Beamter den Neonazi in der Vernehmung mit der Aussage konfrontiert: „Es liegen Erkenntnisse vor, dass die Beate Zschäpe im Ladengeschäft ‚Heaven and Hell‘ gearbeitet oder wenigstens ausgeholfen hat.“

Der Dokumentarfilm von Aust und Laabs bestätigt auch viele bereits bekannte Tatsachen über die enge Verbindung zwischen Neonazi-Szene, NSU und Staat. So enthält er ein ausführliches Interview mit Tino Brandt, einer Führungsfigur der Thüringer Neonazi-Szene, der von 1994 bis 2004 als V-Mann für den Verfassungsschutz arbeitete und dafür 200.000 DM erhielt. „Politische Arbeit kostet Geld“, betont Brandt und bestätigt, dass der Verfassungsschutz bei Geldnöten eingesprungen sei.

Mario Melzer, der von 1995 bis 1997 Mitglied der Sonderkommission „Rex“ (Rechtsextremismus) des Landeskriminalamtes (LKA) Thüringen war, berichtet im Film, die Neonazi-Szene habe von Brandts V-Mann-Tätigkeit gewusst. Nur deshalb habe man sich ihm angeschlossen. Da sei die Gefahr, bei Straftaten überführt zu werden, nicht so groß gewesen. „Je tiefer ich da eingedrungen bin, desto fassungsloser wurde ich“, kommentiert Melzer die Rolle der Geheimdienste.

Uwe Kranz, von 1991 bis 1997 Präsident des LKA Thüringen, bestätigt das. Seine Beamten hätten sich bei Hausdurchsuchungen und Razzien bei Neonazis immer wieder über deren „ausgelassene Stimmung“ beschwert. Es sei nichts zu finden gewesen. Offensichtlich seien sie vorgewarnt worden.

Nach den neuen Enthüllungen stellt sich erneut die Frage, inwieweit der Staat nicht nur Mitwisser, sondern auch Mittäter bei den Morden des NSU war.

Der Münchner Rechtsanwalt Yavuz Narin sagte in einer ersten Reaktion auf die ARD-Dokumentation, für seine Mandanten sei schwer erträglich, „dass vom Staat bezahlte Spitzel möglicherweise an den Morden des NSU mitgewirkt haben“. Narin vertritt die Familie des im Juni 2005 erschossenen Theodoros Boulgarides. Er forderte die Bundesregierung auf, dies aufzuklären.

Doch Bundesinnenminister Thomas de Mazière (CDU) lehnte es „aus Gründen des Staatswohls“ ab, eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Martina Renner nach den Quellenmeldungen von Marschner alias „Primus“ zu beantworten. Das würde „negative Folgen für die künftige Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung der Nachrichtendienste sowie der daraus resultierenden Beeinträchtigung der Sicherheit der Bundesrepublik“ haben, begründete er seine Weigerung. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat inzwischen allerdings erklärt, die Akten würden doch freigegeben.

Die Dokumentation „Der NSU-Komplex“ hat gezeigt, dass man im Zusammenhang mit den NSU-Morden nichts ausschließen kann.

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