Perspektive

Der 1. Mai 2016 und die Zukunft des Sozialismus

Am Sonntag, den 1. Mai, nahmen Arbeiter und Jugendliche aus der ganzen Welt an der dritten jährlichen Online-Maikundgebung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale teil. Sie war das weltweit einzige Ereignis, das der Arbeiterklasse als Reaktion auf die bedrohliche Ausbreitung imperialistischer Gewalt eine wirklich marxistische und sozialistische Perspektive bot.

Die Kundgebung zeigte eine deutliche Zunahme des politischen Einflusses des IKVI. Die Zahl der Teilnehmer stieg im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent auf 2.500, die Zahl der Herkunftsländer der Zuhörer von 80 auf 98. Die Größe des Publikums zeigte sich auch an den fast 750 Kommentaren, die während der Kundgebung gepostet wurden.

Diese Reaktion bestätigt andere Anzeichen für den zunehmenden politischen Einfluss der World Socialist Web Site. Laut Compete.com lag die Zahl der Besucher der WSWS im Februar und März bei fast einer Viertelmillion und damit deutlich höher als im Vorjahr.

Für dieses Anwachsen sind bedeutende objektive Faktoren verantwortlich. Zum einen war das letzte Jahr von einer enormen Verschärfung der geopolitischen Konflikte und wachsenden Sorgen von Arbeiter und Jugendlichen über die Kriegsgefahr bestimmt. Der „Krieg gegen den Terror“, der seit bald fünfzehn Jahren andauert, entwickelt sich zu einem globalen Kampf zwischen Großmächten. Im Mittelpunkt dieses Kampfes stehen die immer provokanteren Versuche der USA, Russland und China wirtschaftlich und militärisch einzukreisen. Die Möglichkeit eines Atomkriegs wird unter Regierungsvertretern und Geostrategen wieder offen diskutiert.

Zum anderen führen die anhaltenden Auswirkungen der Wirtschaftskrise von 2008 und die daraus resultierende Verschärfung der Klassenbeziehungen zu einem Anwachsen sozialer Militanz, die politische Formen annimmt. In den USA war das letzte Jahr politisch von einem Wahlkampf dominiert, in dem die Autorität der alten Parteien und ihrer traditionellen Vertreter zusammengebrochen ist. David North, Vorsitzender der Internationalen Redaktion der WSWS, erklärte in seiner Eröffnungsrede bei der Kundgebung:

„Überall auf der Welt mehren sich die Anzeichen für eine antikapitalistische Radikalisierung der Arbeiterklasse und der Jugend. Am bedeutsamsten ist vielleicht, dass in den jüngsten Vorwahlen Millionen amerikanische Arbeiter für einen Kandidaten gestimmt haben, der sich als Sozialist bezeichnet. Natürlich ist der 'Sozialismus' von Bernie Sanders kaum mehr als aufgewärmter Liberalismus. Aber der Grund dafür, dass Sanders Unterstützung gewinnt, liegt nicht in seinem Opportunismus, sondern darin, dass er von einer 'politischen Revolution' spricht und sich die Arbeiter davon einen Aufstand gegen die soziale Ungleichheit erhoffen.“

In allen Ländern entwickelt sich der Klassenkampf wieder zur dominanten politischen Kraft. In Frankreich nahmen im Verlauf des letzten Jahres hunderttausende von Arbeitern und Jugendlichen an Protesten gegen eine rechte Arbeitsmarktreform und den undemokratischen „Ausnahmezustand“ teil, den die amtierende Sozialistische Partei ausgerufen hat. In Indien und China streikten Autoarbeiter gegen Angriffe auf ihre Löhne und Arbeitsbedingungen. In ganz Europa herrscht starker Widerstand gegen die unablässigen Spardiktate der Banken.

Ein weiterer Grund für den zunehmenden Einfluss des Internationalen Komitees ist der immer deutlichere Unterschied zwischen echtem Marxismus und der Politik von Organisationen, die sich als „links“ bezeichnen, in Wahrheit aber die Interessen privilegierter Teile des Kleinbürgertums repräsentieren. In Griechenland kam Syriza im letzten Januar an die Macht und brach nach kurzer Zeit alle ihre Wahlversprechen. Ende 2015 setzte die „Koalition der Radikalen Linken“ die Spardiktate der EU um und übernahm eine zentrale Rolle bei dem brutalen Angriff auf Flüchtlinge in ganz Europa. Ein Teil der Arbeiter und Jugendlichen beginnt, auf der Grundlage der Analysen der WSWS Schlüsse aus dieser Erfahrung zu ziehen.

Es existiert noch immer eine große Kluft zwischen dem Niveau des politischen Bewusstseins und den Gefahren, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist. An der Kundgebung nahmen zwar tausende Menschen teil, aber keine Hunderttausenden oder Millionen. Doch es werden mehr werden. Die wachsende Leserschaft der WSWS und die Reaktion auf die Maikundgebung deuten auf eine größere Hinwendung der Arbeiter auf der ganzen Welt zu sozialistischer Politik hin.

Hier ist die Frage der politischen Führung von entscheidender Bedeutung. Eine sozialistische Revolution entwickelt sich aus der Interaktion zwischen der objektiven Bewegung der Arbeiterklasse und der Intervention der revolutionären Partei.

Das bemerkenswerte an der Maikundgebung war die gemeinsame, politisch zusammenhängende Perspektive aller Redner. Führungspersönlichkeiten des IKVI aus den USA, Großbritannien, Deutschland, Sri Lanka und Australien hielten Reden über einige der wichtigsten politischen Themen, mit denen die internationale Arbeiterklasse konfrontiert ist, darunter die Folgen eines Vierteljahrhunderts fast ununterbrochener Kriege; die Folgen des „Pivot to Asia“ der Obama-Regierung für Indien, Australien und die ganze Pazifikregion; das Anwachsen des deutschen Militarismus; die Krise in Europa und die imperialistische Kampagne gegen Russland; die Brexit-Kampagne in Großbritannien; die Flüchtlingskrise in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika; die Folgen der amerikanisch-chinesischen Spannungen für Lateinamerika und die politische Krise in den USA.

Der Kampf zur Vereinigung der Arbeiterklasse aller Länder und zum Aufbau einer politischen Führung für die bevorstehenden Kämpfe gegen Krieg, soziale Ungleichheit und Angriffe auf demokratische Rechte war ein wichtiges Thema aller Reden. Wije Dias, Generalsektretär der Socialist Equality Party von Sri Lanka, erklärte in seiner Rede: „Die wichtigste Aufgabe ist, die entstehende Rebellion der Arbeiter weltweit mit einem Programm und einer Perspektive auszurüsten, die ihre objektiven Interessen als globale Klasse und Protagonist einer neuen sozialen Ordnung ohne Not und Krieg artikuliert.“

Das IKVI geht diesen Weg mit großem revolutionärem Optimismus. Die Krise des Kapitalismus bringt nicht nur Krieg hervor, sondern auch die Bedingungen für eine sozialistische Revolution. David North erklärte dazu in einer Analyse der politischen Situation in den USA: „Der grundlegende Mythos über die politische Sonderstellung Amerikas – dass sich die Arbeiterklasse dort niemals dem Sozialismus zuwenden werde – wurde in der Praxis widerlegt. In der Geschichte des amerikanischen Klassenkampfs wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen. Der Sozialismus, der in den USA so lange unterdrückt wurde, wird sich nun hier, im Zentrum des Weltimperialismus, in Windeseile ausbreiten.“

Das hat eine sehr weitreichende, internationale Bedeutung. Die zunehmende Unterstützung für den Sozialismus wird sich nicht als nationaler, sondern als internationaler Prozess entwickeln.

Eine geschichtliche Periode neigt sich dem Ende zu und eine neue beginnt. Das Vierteljahrhundert politischer Verwirrung und Desorientierung, die der Stalinismus, die Auflösung der Sowjetunion und der Rechtsruck der „linken“ Politik geschaffen hat, weicht einer Zeit der politischen Radikalisierung und des Kampfs.

Die Maikundgebung war ein wichtiges Ereignis in der Geschichte des IKVI und des Kampfs zum Aufbau einer internationalen Bewegung der Arbeiterklasse und der Jugend gegen imperialistischen Krieg und das kapitalistische System. Wir verstehen die Maikundgebung als wichtigen Meilenstein, sehen aber auch die immensen Herausforderungen, die noch vor uns liegen.

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