Perspektive

Die Kontroverse in den USA um den Zugang von Transgendern zu öffentlichen Toiletten

Am 13. Mai teilte die Obama-Regierung allen staatlichen Schulen des Landes mit, dass sie Transgendern erlauben müssen, die Toilette ihrer Wahl zu nutzen. Damit eskaliert ein anhaltender politischer und medialer Streit über die gesetzliche Bestimmung des Bundesstaats North Carolina, dass Transgender die Toilette benutzen müssen, die dem in der Geburtsurkunde angegebenen Geschlecht entspricht.

Der vom Bildungs- und Justizministerium gemeinsam verfasste Brief nannte Richtlinien, die damit begründet wurden, dass „Transgender an der Schule nicht diskriminiert werden dürfen“. Schulen, die diese Richtlinien missachten, können staatliche Zuschüsse verlieren.

Das fragliche Gesetz von North Carolina (House Bill 2, HB2), das der republikanische Gouverneur Pat McCrory im März unterzeichnete, setzt eine Entscheidung des Stadtrates von Charlotte City außer Kraft, die es Transgendern erlaubt, die Toilette des Geschlechts zu nutzen, dem sie sich zugehörig fühlen. HB2 ist reaktionär und muss abgelehnt werden, ebenso die jüngsten Bestrebungen der von Republikanern dominierten Parlamente der Bundesstaaten, Gesetze zugunsten „religiöser Freiheit“ zu verabschieden, um Fanatismus zu schüren und Intoleranz gegen Schwule und Transgender-Personen zu legalisieren.

Dennoch: Wenn die Obama-Regierung und ein guter Teil der Medien die Frage des Zugangs zu öffentlichen Toiletten für Transgender als die wichtigste aktuelle Frage darstellen, dann handelt es sich um eine maßlose Übertreibung und einem politischen Ablenkungsmanöver. Die amerikanische und die Weltbevölkerung steht vor großen und drängenden Problemen – wachsende Kriegsgefahr, Zunahme von Armut und Ungleichheit, Militarisierung der Gesellschaft, diktatorische Bestrebungen. Diese Fragen werden im US-Wahlkampf entweder totgeschwiegen oder verharmlost.

Es ist doch bemerkenswert, dass die Obama-Regierung nur gegen eine der zahlreichen Bestimmungen des North Carolina-Gesetzes zu Felde zieht. HB2 geht unter dem Deckmantel der Verteidigung „religiöser Freiheit“ noch weiter und hebt lokale Gesetze auf, die die Einwohner vor Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, Hautfarbe, Religion, Nationalität, Geschlecht und körperlicher Behinderung schützen. Ebenso untersagt North Carolina per Gesetz den Mindestlohn im gesamten Bundesstaat. Diese Tatsache taucht in praktisch keinem Medienbericht auf.

HB2 ist eines aus einer ganzen Reihe ähnlicher antidemokratischer und diskriminierender Gesetze gegen Schwule und Transgender, die in jüngster Zeit in ganz Amerika beraten oder verabschiedet wurden, so beispielsweise in Georgia, Indiana, Arkansas, Kentucky, West Virginia, South Dakota und weiteren Staaten. Sie stützen sich auf das reaktionäre Hobby Lobby-Urteil des Supreme Court von 2014 zugunsten der „religiösen Freiheit“ von Unternehmen, Beschäftigten eine Krankenversicherung zu verweigern, die Verhütungsmittel abdeckt. Hobby Lobby ist eine amerikanische Heimwerker- und Geschenkartikelkette.

Am empörendsten ist wohl eine Gesetzesvorlage in Mississippi, die bestimmte Formen der Diskriminierung explizit erlaubt, etwa die Verweigerung von Stipendien, staatlichen Leistungen, Heirats- und anderen Urkunden und Bescheinigungen, Einbehaltung von Diplomen und akademischen Graden, Strafsteuern, betriebliche Sanktionen einschließlich Kündigungen. Das Gesetz von Mississippi beschränkt sich nicht auf Schwule oder Transgender, sondern erlaubt auch die Diskriminierung jeder Person, die „sexuelle Beziehungen“ außerhalb einer heterosexuellen Ehe unterhält. In mehr als der Hälfte der US-Bundesstaaten darf ein Unternehmer ganz legal einen Beschäftigten entlassen, weil er schwul ist.

Diese Gesetze richten sich gegen Schwule und andere Einzelpersonen. Doch ihre Auswirkungen reichen viel weiter. Sie sind Teil eines Angriffs auf die demokratischen Rechte der ganzen Bevölkerung. Sie stehen im Zusammenhang mit der hartnäckigen Kampagne gegen die Trennung von Kirche und Staat, einem der Eckpfeiler der Bill of Rights, der ersten zehn Zusatzartikel zur US-Verfassung.

Die Grundlage dieser Offensive ist eine falsche Definition von religiöser Freiheit, womit ein wichtiges demokratisches Prinzip in sein Gegenteil verkehrt wird, nämlich in das „Recht“ einer Organisation oder eines Unternehmens, unter Berufung auf religiöse Freiheit den Beschäftigten Krankenversicherungen zu verweigern, die Verhütungsmittel abdecken, und Homosexuellen Dienstleistungen zu verweigern. Wenn ein Unternehmen einen Beschäftigten entlassen kann, weil er schwul ist, dann kann es grundsätzlich auch jeden entlassen, der Atheist, Farbiger oder Jude ist.

Diese reaktionären Gesetze sind nicht von der Allgemeinheit gewollt. Im Gegenteil: In den letzten Jahren war ein deutlicher Rückgang dieser Formen der Intoleranz in der Bevölkerung zu beobachten. Es handelt sich vielmehr um die Antwort der reaktionärsten und faschistischen Elemente in der herrschenden Elite und dem politischen Establishment auf die tiefe Krise des amerikanischen Kapitalismus und auf die wachsende soziale Opposition und antikapitalistische Stimmungen. Diese Elemente, die in der Republikanischen Partei ihre Heimat haben, appellieren an die rückständigsten Vorstellungen und hetzen die reaktionärsten gesellschaftlichen Kräfte auf.

Die Obama-Regierung und die Demokratische Partei widmen der Frage, welche Toiletten Transgender benutzen dürfen, unverhältnismäßig große politische Aufmerksamkeit. Nur wenige Personen sind direkt betroffen in einem Land, wo die demokratischen Rechte von Hunderten Millionen Menschen durch beide kapitalistische Parteien angegriffen werden.

Bei Demokraten wie Republikanern kann man in dieser Kontroverse viel politisches und wahltaktisches Kalkül und großen Zynismus beobachten. Die Wut der Massen über die soziale Ungleichheit und die Herrschaft der Wall Street über das politische System dominiert die Wahl. Beide Parteien möchten daher das Thema wechseln. Die Republikaner versuchen ihre Basis unter rückständigen, desorientieren und wirtschaftlich ruinierten Mittelschichten zu mobilisieren. Die Demokraten appellieren an Schichten der privilegierteren Mittelklasse, die auf diverse Formen der Identitätspolitik wie Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung fixiert sind.

US-Justizministerin Loretta Lynch verglich die Kampagne gegen die gesetzlichen Bestimmungen in North Carolina mit den Kämpfen der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre gegen das System der Rassentrennung. In einer Rede am 9. Mai sagte sie: „Nicht zum ersten Mal erleben wir Opposition gegen historische Fortschritte unserer Nation. Wir erlebten das bei den Gesetzen zur Rassentrennung [die so genannten Jim-Crow-Gesetze], die der Emanzipationserklärung folgten. Wir erlebten es in dem erbitterten und verbreiteten Widerstand gegen Brown v. Board of Education.“ – eine Anspielung auf das Urteil des Supreme Court von 1954, mit dem die Rassentrennung in staatlichen Schulen aufgehoben wurde.

So unangemessen dieser historische Vergleich ist, so verlogen ist der Versuch der Obama-Regierung, sich als Erbin der Bürgerrechtsbewegung darzustellen. Als der Supreme Court 2013 die Wahlrechtsgesetze (Voting Rights Act) von 1965 durch ein reaktionäres Urteil dramatisch verschlechterte, rührten die Demokraten keinen Finger. Dabei war dieses Gesetz wohl die wichtigste Reform aus den Kämpfen dieser Periode. Weder Repräsentantenhaus noch Senat haben ein Gesetz auf den Weg gebracht, um die Durchsetzungsvorschriften, die der Supreme Court aufhob, wieder in Kraft zu setzen. Die Kapitulation der Demokraten hat die von Republikanern regierten Bundesstaaten im ganzen Land ermutigt. Sie sind in die Offensive gegangen und haben eine undemokratische Wahlausweispflicht und andere Maßnahmen beschlossen, die die Arbeiterklasse, die Armen und Minderheiten benachteiligen.

Die Frage des Zugangs von Transgendern zu öffentlichen Toiletten mit dem Kampf gegen die Rassentrennung zu vergleichen, lässt auch außer Acht, dass es dabei um sehr viel komplexere und heiklere kulturelle und rechtliche Fragen geht. Welche Gemeinschaftsduschen Transgender an der High School nutzen und welchen Sportmannschaften sie sich am besten anschließen, das sind Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Im Laufe der Zeit sollte man geeignete bauliche Lösungen und Umgangsformen finden. Das plumpe und übertriebene Verhalten der Regierung in dieser Frage verharmlost die Kämpfe über Fragen, die eine deutlich größere demokratische Bedeutung haben.

Die Wichtigtuerei der Regierung und der Demokratischen Partei wegen des „Toilettengesetzes“ zeigt, dass sie Identitätspolitik als Deckmantel für ihre rechte und antidemokratische Politik benutzen. Identitätspolitik, ob sie sich um Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung dreht, wird seit Jahrzehnten propagiert und ist aus dem ideologischen und politischen Arsenal der herrschenden Elite nicht mehr wegzudenken.

Identitätspolitik hat keineswegs die Interessen der großen Mehrheit der Frauen oder von Minderheiten gefördert, sondern geht bis heute einher mit den anhaltenden Angriffen auf den Lebensstandard aller Schichten der Arbeiterklasse und dem enormen Anstieg der sozialen Ungleichheit. Die Demokratische Partei hat zu dieser Offensive gegen die Arbeiterklasse nicht weniger beigetragen als die Republikaner.

Obama, von den Fürsprechern der Identitätspolitik als erster afroamerikanischer Präsident gefeiert, hat den stärksten Anstieg sozialer Ungleichheit in der amerikanischen Geschichte zu verantworten. Hillary Clinton, die Spitzenkandidatin der Demokraten im Kampf um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten 2016, die für sich selbst als die erste Frau im Präsidentenamt wirbt, unterstützte als First Lady ihren Mann, als er staatliche Sozialleistungen für die Armen abschaffte und reaktionäre Law-and-Order-Gesetze unterzeichnete, die zur Inhaftierung einer großen Zahl von armen und Minderheitenjugendlichen für gewaltlose Straftaten geführt haben.

Ob Clinton, Bush oder Obama: Demokratische und Republikanische Regierungen haben die Bürgerrechte immer stärker beschnitten. An Obama wird man sich speziell dafür erinnern, dass er die Polizei militarisiert und dem Präsidenten das Recht zugesprochen hat, jede beliebige Person auf der Welt zu ermorden und Folterer und Finanzverbrecher amnestiert hat. Korruption und Kriminalität grassieren, polizeistaatliche Überwachung der Bevölkerung wird in großem Stil vorangetrieben und Whistleblower werden verfolgt.

Gerade in Fragen von besonderer Bedeutung für Frauen, wie Geburtenkontrolle und das Recht auf Abtreibung, sind Obama und die Demokratische Partei immer wieder vor den Kirchen und der religiösen Rechten eingeknickt und haben kapituliert. Damit haben sie der rechten Mehrheit im Supreme Court Auftrieb gegeben, das „Recht“ von Unternehmen und anderen Organisationen zu schützen, aus religiösen Gründen zu diskriminieren.

Die kleinbürgerlichen „linken“ Individuen und Tendenzen, die Obamas politisches Manöver in der Frage des Toilettengesetzes unterstützen, treiben damit ihre zwanghafte Fixierung auf Fragen von Sexualität und Geschlecht ins Absurde. Die wichtigste politische Funktion aller Formen von Identitätspolitik besteht darin, die wesentlichen Klassenfragen in der Gesellschaft und Politik zu verschleiern und die politische Einheit der Arbeiterklasse auf revolutionärer sozialistischer Basis zu verhindern. Der Versuch, die „Toiletten-Frage“ der amerikanischen Bevölkerung als wichtigstes Thema zu verkaufen, wird nicht der letzte dieser Art sein.

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