Perspektive

Wer ist für das Massensterben im Mittelmeer verantwortlich?

„Wir kamen, wir sahen, er starb“, rief Hillary Clinton am 20. Oktober einem Fernsehreporter zu. Zuvor hatte sich die damalige US-Außenministerin mit unverhohlenem Vergnügen ein grauenhaftes Video angesehen, das die Folter und Ermordung des libyschen Staatschefs Muammar Gaddafi zeigte.

Fast fünf Jahre später ist Clinton die führende Kandidatin der Demokraten in den amerikanischen Vorwahlen, und das Sterben geht weiter: in Libyen, Syrien, dem Irak und im Mittelmeer.

Die vergangene Woche war mit schätzungsweise bis zu 900 ertrunkenen Flüchtlingen die bisher tödlichste des Jahres.

Seit 2014 sind mehr als 8.000 Flüchtlinge bei dem Versuch umgekommen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Die meisten der Opfer haben ihre todbringende Reise an der libyschen Küste begonnen.

Weder Clinton, noch ihre Rivalen im Rennen um die amerikanische Präsidentschaft, der Demokrat und selbst ernannte „demokratische Sozialist“ Bernie Sanders und der Republikaner Donald Trump, verloren auch nur ein Wort über das anhaltende Massensterben im Mittelmeer.

Es sollte allerdings ein wichtiges Thema im amerikanischen Wahlkampf sein.

Der wichtigste Grund dafür ist, dass Washington, die beiden Parteien des Großkapitals und Clinton persönlich die entscheidende Verantwortung für das Chaos tragen, das Millionen Menschen dazu gebracht hat, in Todesangst aus ihrer Heimat zu fliehen.

Die Folgen der amerikanischen Militärinterventionen, Stellvertreterkriege und Aktionen für Regimewechsel des letzten Vierteljahrhunderts sind erschütternd. Jedes Land, das Opfer solcher Aggressionen wurde, trägt heute maßgeblich zur schwersten weltweiten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg bei.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen den Irak im Jahr 2003 und die Besetzung haben bisher mehr als eine Million Menschenleben gekostet. Die systematische Zerstörung der physischen und sozialen Infrastruktur sowie die bewusst betriebene Politik des Teilens und Herrschens haben zu erbitterten religiösen Auseinandersetzungen geführt. Sie haben außerdem den Islamischen Staat im Irak und Syrien (IS) und den aktuellen Bürgerkrieg hervorgebracht, der zu neuen und schrecklichen Massakern in ohnehin schon bluttriefenden Städten wie Falludscha und Mosul führt.

Für Afghanistan wird die Zahl der Todesopfer, die direkt auf den Krieg unter Führung der USA zurückgehen, bei vorsichtigen Schätzungen auf über 100.000 geschätzt. Allerdings hat der anhaltende Konflikt laut einer aktuellen Studie „die Auswirkungen von Armut, Unterernährung, schlechter Hygiene, fehlender medizinischer Versorgung und Umweltschäden verschärft“ und damit zu vielen weiteren vorzeitigen Todesfällen geführt. Mindestens drei Millionen Menschen sind mittlerweile zu Flüchtlingen geworden.

In Syrien wurden durch den Krieg für einen Regimewechsel, den Washington und seine wichtigsten regionalen Verbündeten angezettelt haben, mehr als eine Viertelmillion Menschen getötet und mehr als die Hälfte der Bevölkerung vertrieben. Alleine im Libanon, Jordanien, der Türkei und dem Irak leben vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Der IS und ähnliche Al Qaida-nahe islamistische Milizen dienten als Stellvertretertruppen für den Regimewechsel und terrorisierten die Bevölkerungen Syriens, des Iraks und weiterer Länder.

Auch afrikanische Staaten wie Nigeria und Somalia tragen zu dem Flüchtlingsstrom bei, seit die USA ihren „globalen Krieg gegen den Terror“ durch Einsätze von Spezialeinheiten und durch Drohnenangriffe auf diese Länder ausweiten.

Libyen selbst, von wo aus die überfüllten Flüchtlingsboote ihre unglücksselige Reise nach Europa antreten, ist seit dem Nato-Krieg von 2011 zum Sturz der Regierung von Muammar Gaddafi wirtschaftlich und sozial zerstört und in einen blutigen Bürgerkrieg verstrickt. Fast fünf Jahre nach dem Ende dieses Kriegs hat das Land drei Regierungen, von denen eine vor kurzem mit Unterstützung des Westens eingerichtet wurde, um eine weitere Militärintervention abzusegnen. Keine von ihnen kontrolliert einen nennenswerten Teil des Landes. Die katastrophalen Auswirkungen des verbrecherischen Kriegs von 2011 werden jetzt von Washington und seinen Nato-Verbündeten als Rechtfertigung für eine weitere Intervention benutzt. Amerikanische und britische Spezialeinheiten sind bereits mit Bodenpersonal im Land aktiv.

Hillary Clinton war eine der führenden Befürworterinnen der US-Interventionen in Libyen und Syrien. In beiden Fällen wurden imperialistische Plünderungskriege und Kriege zur Errichtung von Washingtons Vorherrschaft über strategisch wichtige Gebiete der Welt mit dem schmutzigen und heuchlerischen Argument der „Menschenrechte“ begründet.

Unter dem fadenscheinigen Vorwand, libysche und syrische Zivilisten zu schützen, wurde Hunderttausende Menschen abgeschlachtet und weitere Millionen aus ihrer Heimat vertrieben.

Eine ganze Schar von pseudolinken Organisationen auf der ganzen Welt, von der International Socialist Organization in den USA, über die Neue Antikapitalistische Partei in Frankreich bis hin zur Linkspartei in Deutschland, unterstützten Washingtons „Menschenrechts“-Propaganda. Manche gingen sogar so weit, diese von der CIA organisierten Operationen als „Revolutionen“ zu bezeichnen, um mehr Rückhalt unter den privilegierten Schichten des Kleinbürgertums zu gewinnen. Auch sie sind strafrechtlich verantwortlich für die derzeitige humanitäre Krise.

Keins dieser historischen Verbrechen des US-Imperialismus wird bei den derzeitigen US-Wahlen diskutiert. Genauso wird ein Mantel des Schweigens über die Vorbereitungen für noch größere Blutbäder gebreitet, die zu einem dritten Weltkrieg führen können. Es ist steht außer Frage, dass sich der weltweite Ausbruch des amerikanischen Militarismus deutlich verschärfen wird, sobald die Wahl vorbei ist.

Abgesehen von Trumps faschistoiden und idiotischen Forderungen nach dem „Bau einer Mauer“ gab es auch keine wirkliche Debatte über Flüchtlinge, obwohl dies ein wichtiges Thema für die USA und Europa ist. Die Verbreitung von Fremdenfeindlichkeit und chauvinistischer Hetze gegen Zuwanderer hat zu den erschreckenden Todesraten im Mittelmeer beigetragen. Und auch die Politik der USA hat zu ähnlichen Ergebnissen geführt. Während die Abriegelung der Balkanroute durch die Europäische Union die Flüchtlinge wieder auf die viel gefährlichere Route durchs Mittelmeer zwingt, hat das Vorgehen an der amerikanisch-mexikanischen Grenze viele Immigranten gezwungen, über immer gefährlichere Wüstengebiete in die USA zu kommen. Viele von ihnen sterben dabei an Entkräftung.

Auch diese Politik wird von beiden Parteien des Großkapitals unterstützt: vom voraussichtlichen Republikanischen Präsidentschaftskandidaten Trump, über die realen Mauern, die Obama errichtet hat, bis zu Hillary Clintons Unterstützung für die Abschiebung von Flüchtlingskindern aus Mittelamerika.

Die Verteidigung von Flüchtlingen und Zuwanderern ist untrennbar mit dem Kampf gegen Krieg verbunden. Im herrschenden Establishment Europas und Amerikas ist niemand daran interessiert, in dieser Hinsicht irgendetwas zu unternehmen. Die anhaltenden und immer schlimmeren Blutbäder, zu denen auch die Tragödie im Mittelmeer gehört, lassen sich nur durch den Aufbau einer neuen unabhängigen Massenbewegung der internationalen Arbeiterklasse beenden. Diese bedarf eines sozialistischen Programms und einer revolutionären Strategie zur Abschaffung des Kapitalismus.

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