Perspektive

Lehren aus dem Streik bei Verizon

Am Dienstagabend und Mittwochmorgen kehrten fast 40.000 Beschäftigte des Telekommunikationsunternehmens Verizon wieder an die Arbeit zurück. Damit endete einer der größten und längsten Streiks der jüngeren Geschichte der USA.

Die Umstände rund um den Abbruch des Streiks waren besonders übel. Nach zehntägigen Geheimverhandlungen unter der Aufsicht von Obamas Arbeitsministerium erklärten die Gewerkschaften Communications Workers of America (CWA) und International Brotherhood of Electrical Workers (IBEW), sie hätten während des verlängerten Wochenendes vor dem Memorial Day (am 30. Mai), an dem die Streikposten nicht besetzt waren, eine „Grundsatzvereinbarung“ ausgehandelt. Die Gewerkschaften schickten die Streikenden nach sieben Wochen Streik wieder an die Arbeit zurück, ohne ihnen einen vollständigen Vertrag vorzulegen oder sie darüber abstimmen zu lassen. Ein solcher Vertrag existiert bisher nicht einmal.

Am Mittwochmorgen riefen die Gewerkschaftsbürokraten den äußerst skeptischen Arbeitern zu: „Wir haben alles bekommen, was wir wollten!“ Das Verizon-Management versuchte, seinen Vorteil auszunutzen und ein Exempel an militanten Arbeitern zu statuieren: wer ein Streik-T-Shirt trug, wurde wegen „nicht angemessener Kleidung“ nach Hause geschickt. Ein Gewerkschaftsvertreter der CWA in Manhattan stellte sich sofort auf die Seite des Managements.

In Wirklichkeit hat die Kapitulation der Gewerkschaften dem Unternehmen all die „entscheidenden Veränderungen“ ermöglicht, die Verizon zur Steigerung seiner Wettbewerbsfähigkeit und Gewinne gefordert hatte. So formulierten es die Spitzenvorstände.

Das Abkommen wird aktiven und pensionierten Arbeitern zusätzliche Gesundheitskosten in dreistelliger Millionenhöhe aufbürden. Das zweitgrößte Telekommunikationsunternehmen der Welt wird außerdem freie Hand haben, seine Arbeitsabläufe durch die Konsolidierung von Kundendienst-Callcentern zu rationalisieren. Es wird die Grundlagen für die Ausgliederung der weniger profitablen Festnetztelefon-, Internet- und Kabelfernsehsparte schaffen, in der in den letzten Jahren bereits massiv Stellen abgebaut wurden.

Der Kampf bei Verizon ist noch lange nicht vorbei. Wenn die Folgen dieses Verrats bekannt werden, wird die Opposition wachsen. Bis zum 17. Juni soll über den endgültigen Vertrag abgestimmt werden. Außerdem ist der Kampf der Telekommunikationsarbeiter Teil des wachsenden Widerstands der gesamten Arbeiterklasse und der Radikalisierung der Arbeiter und Jugendlichen in den USA und auf der ganzen Welt. Im letzten Herbst hatten bereits die Autoarbeiter gegen den verräterischen Tarifvertrag der UAW gestreikt, und in Frankreich und Belgien entsteht eine massive Protest- und Streikbewegung gegen die arbeiterfeindlichen „Reformen“ des Arbeitsmarkts.

Eine sorgfältige Auswertung der wichtigsten Lehren für die Verizon-Beschäftigten und die ganze Arbeiterklasse wird damit umso wichtiger.

Zuerst muss man den Kampf bei Verizon im Kontext der Gesamtstrategie der herrschenden Klasse und ihrer politischen Vertreter in der Demokratischen und der Republikanischen Partei stellen. Nach dem Wirtschaftszusammenbruch von 2008 stellte die Obama-Regierung den Banken Billionen Dollar zur Verfügung, um das Finanzsystem zu stützen und den Reichtum der Wirtschafts- und Finanzelite zu sichern. Danach begann sie ein koordiniertes Vorgehen zur Senkung der Löhne, der medizinischen Versorgung und anderer Leistungen für die Arbeiterklasse.

Den Auftakt für den Angriff auf die Löhne bildete die Sanierung der Autoindustrie unter der Aufsicht des Weißen Hauses 2009. Ihre Grundpfeiler waren die Halbierung der Löhne für neu eingestellte Arbeiter und eine deutliche Senkung der Kosten für die medizinische Versorgung aktueller und pensionierter Arbeiter. 2010 folgte die Verabschiedung der fälschlicherweise als „Reform“ bezeichneten Obamacare, deren wesentlicher Zweck darin bestand, die Unternehmen und die Regierung von den Gesundheitskosten zu entlasten und sie den Arbeitern aufzubürden.

Durch diese Politik ist die soziale Ungleichheit seit 2009 auf ein Rekordniveau angestiegen. 95 Prozent aller Einkommenszuwächse gehen an das oberste Prozent der Bevölkerung. Doch diese Umgestaltung der Klassenverhältnisse ist noch lange nicht vorbei. Während der Widerstand der der Arbeiterklasse wächst und sich eine neue Wirtschaftskrise abzeichnet, drängt die herrschende Klasse zur Eile.

Die CWA machte zwar Werbung für Bernie Sanders und Hillary Clinton, doch die Genehmigung von Unterlassungsverfügungen zu Gunsten der Streikbrecher durch Obamas National Labor Relations Board und die Rolle der New Yorker Polizei unter Führung des angeblich progressiven Bürgermeisters Bill de Blasio zeigten den wahren arbeiterfeindlichen Charakter der Demokratischen Partei. Der Höhepunkt des Komplotts der Gewerkschaften und der Obama-Regierung waren die „Verhandlungen“ unter Aufsicht des Arbeitsministeriums, die mit dem erzwungenen Abbruch des Streiks endeten.

Zum anderen ist es notwendig, die Rolle der Gewerkschaften klar zu verstehen. Sie sind keine „Organisationen der Arbeiterklasse“, sondern Werkzeuge der Konzerne und des Staates. Sie werden von begüterten kleinbürgerlichen Vorständen kontrolliert, deren Interessen denen der angeblich von ihnen repräsentierten Arbeiter entgegenstehen.

Eine Episode aus der jüngeren Vergangenheit ist besonders aufschlussreich. Im Juli 2015 traf sich Chris Shelton zusammen mit den Vorsitzenden der United Steelworkers, der United Auto Workers und anderer Gewerkschaften zu Diskussionen mit Präsident Obama im Weißen Haus. Zeitgleich warnten diverse Medien und regierungsnahe Denkfabriken, die Arbeiter könnten auf höhere Löhne drängen, um den Niedergang ihrer Reallöhne nach der vollständigen Erholung der Unternehmensgewinne, des Aktienmarktes und der Vorstandsgehälter nach der Großen Rezession wettzumachen. Da in den Jahren 2015 und 16 neue Tarifverträge für etwa fünf Millionen Arbeiter fällig sind, ging es bei dem Treffen im Weißen Haus zweifellos darum, wie diese Gefahr eingedämmt werden könnte.

Danach sabotierten die Gewerkschaftsbünde AFL-CIO und Change to Win systematisch alle gemeinsamen Kämpfe der Arbeiter gegen Obamas Wirtschaftspolitik. Die Tarifverträge der Verizon-Arbeiter liefen bereits im August 2015 aus, doch die CWA rief sie damals nicht zum Streik auf, hauptsächlich, weil gleichzeitig weitere Tarifverträge ausliefen, u.a. von 30.000 Stahlarbeitern und 140.000 Autoarbeitern. Durch eine Kombination aus verlängerten Verträgen, Lügen und Einschüchterungen hielten die Gewerkschaften die Arbeiter getrennt und setzten Tarifabkommen durch, die die Erhöhung der Arbeitskosten unter dem Niveau der Inflation hielten.

Als die CWA nach acht Monaten endlich zur Arbeitsniederlegung aufrief, hatten die Arbeiter ihre Ersparnisse für einen Streik aufgebraucht. Das Unternehmen hatte zudem genug Zeit, um eine kleine Armee von Streikbrechern einzustellen und auszubilden.

Trotzdem führten die Verizon-Arbeiter einen entschlossenen Kampf. Sie widersetzten sich der Gewalt der Streikbrecher und der Polizei, gerichtlichen Verfügungen und dem Schweigen der Mainstreammedien. Doch die Organisationen, die sie angeblich repräsentierten, die CWA und die IBEW, arbeiteten heimlich daran, den Streik zu isolieren und die Arbeiter auszuhungern. Um einen Streik der Telekommunikationsbeschäftigten an beiden Küsten zu verhindern, zwang die CWA 16.000 Beschäftigte von AT&T West, ohne einen Tarifvertrag weiterzuarbeiten. Einen Streik in San Diego würgten sie ab, bevor er sich auf ganz Kalifornien ausbreiten konnte.

Der Verizon-Streik hat gezeigt, dass die Arbeiter nicht nur gegen ein besonders rücksichtsloses Unternehmen wie Verizon kämpfen, sondern gegen die ganze Klasse der kapitalistischen Eigentümer und gegen das politische System, das sie verteidigt. Diese Kämpfe entwickeln sich immer mehr zu einem Konflikt zwischen den einfachen Arbeitern und den offiziellen Gewerkschaften.

In den USA widerlegt die Unterstützung für den selbst ernannten „demokratischen Sozialisten“ Bernie Sanders die Lüge, amerikanische Arbeiter und Jugendliche würden niemals eine politische Alternative zum kapitalistischen System suchen. Die amerikanische herrschende Klasse hat jedoch von Sanders nichts zu befürchten. Er versucht, die Wut der Bevölkerung in die harmlosen Kanäle der Demokratischen Partei zu lenken. Im Gegensatz dazu hat die Wirtschafts- und Finanzoligarchie allen Grund, das Wiederaufleben der Klassenkonflikte und die Ausbreitung antikapitalistischer Stimmungen unter Arbeitern und Jugendlichen zu fürchten.

Genau wie bei früheren Kämpfen die Autoarbeiter, Lehrer und andere Berufszweige, interessierten sich auch die Verizon-Arbeiter während des Streiks zunehmend für die World Socialist Web Site und ihren Newsletter. Aus diesem erfuhren sie die Wahrheit, konnten ihre Sorgen und Forderungen äußern und eine Strategie für die Ausweitung ihres Kampfes diskutieren. Tausende von Arbeitern verbreiteten den Newsletter, hunderte nahmen an Onlinekonferenzen teil und unterstützten eine Petition zur Rücknahme des Streikabbruchs, bis der Tarifvertrag vollständig veröffentlicht wird und die Basis darüber abgestimmt hat.

Die herrschende Klasse verliert zunehmend die Kontrolle. Die kommende Periode wird von zahllosen Kämpfen der Arbeiter zur Verteidigung ihrer Löhne, Krankenversicherung und anderer sozialer Rechte geprägt sein. Um diese Kämpfe zu führen und zu vereinen, sind neue Organisationen notwendig, die unabhängig von den pro-kapitalistischen Gewerkschaften sein müssen. Vor allem aber braucht die Arbeiterklasse eine neue Führung, die sie in einem politischen Kampf gegen das kapitalistische System mobilisiert. Diese Führung wird sie in der Socialist Equality Party finden.

Loading