Berlinwahl 2016

Hartz-IV-Empfänger unterstützen Streiks in Frankreich und Belgien

Die Streiks, die sich zurzeit in Frankreich und Belgien ausbreiten, werden von Arbeitern in ganz Europa mit großer Anteilnahme beobachtet. Die französischen und belgischen Arbeiter kämpfen gegen die Einführung von Sparprogrammen und Arbeitsmarktreformen, wie sie in Deutschland in Form der so genannten Hartz-Gesetze schon längst Wirklichkeit sind.

In Berlin diskutieren Teams, die Unterschriften für die Teilnahme der PSG an der Abgeordnetenhauswahl sammeln, an vielen Jobcentern mit Menschen, die seit Jahren von Hartz-IV-Geld leben müssen. Viele begrüßen die Streikbewegung begeistert und berichten über ihre eigenen Erfahrungen mit dem System, das in Frankreich gerade eingeführt wird. Ihre Schilderungen zeigen, wie berechtigt der Kampf der belgischen und französischen Arbeiter ist.

Ariane, eine Pflegehelferin, ist als alleinerziehende Mutter mit fünf Kindern von Hartz IV abhängig. In Berlin ist schon fast jedes dritte Kind in dieser Situation, wie eine Studie vor kurzem ans Licht brachte. Bundesweit sind in Deutschland anderthalb Millionen Kinder unter fünfzehn Jahren von Hartz IV abhängig.

Ariane mit der sechzehnjährigen Annabelle und Garnet, ihrem Jüngsten

Zu der Streikwelle in Frankreich und Belgien sagt Ariane: „Richtig so! Diese Arbeiter haben hundertmal Recht. Einem solchen Kampf würde ich mich sofort anschließen, gar kein Thema. Irgendwann einmal muss ja was passieren.“

Ariane kommt gerade vom Jobcenter, wo man sie unter Druck gesetzt hat, wieder arbeiten zu gehen. Sie berichtet: „Mein Jüngstes ist jetzt fast zwei, und dann ist meine Elternzeit vorbei. Dann bin ich verpflichtet, mich wieder zu bewerben.“

Als Pflegehelferin könne sie nur im Schichtdienst arbeiten, wofür sie aber keine Kinderbetreuung hätte: „Die Kita ist von sieben Uhr früh bis maximal achtzehn Uhr offen, und was ist danach? Hätte ich Spätdienst, ginge das bis 22 Uhr, bei Nachtdienst die ganze Nacht. Wie soll das funktionieren? Ich müsste den Beruf wechseln, aber welchen Beruf soll ich ergreifen? Wo kann ich genug verdienen und dazu noch kinderfreundliche Bedingungen erwarten, die ich als alleinerziehende Mutter von fünf Kindern benötige?“

„Es ist nicht einfach, auch wenn ich froh und dankbar bin, dass ich sie alle habe“, fährt sie mit Blick auf ihre Kinder fort. „Diese Gesellschaft steckt uns in eine Schublade; das macht die ganze Sache so schwierig. Offiziell heißt es immer: ‚Jawohl, unsere Gesellschaft braucht mehr Kinder‘, aber die Bedingungen sind nicht danach.“

Im Jobcenter habe man schon mit Sanktionen gedroht: „Ich muss monatlich mindestens zehn Bewerbungen vorlegen. Andernfalls wird mir das Geld gekürzt. Dabei reicht es schon so hinten und vorne nicht“, fährt sie fort. „Es ist besonders für die Kinder schwierig. Sie leiden am meisten. Chancengleichheit – das gibt es nicht. Ich habe einen Sohn, dem hätte es gut getan, er hätte als Kleinkind in die Montessori-Schule gehen können, dort hätte er leichter lernen können. Aber so eine Privatschule hätte ich selbst finanzieren müssen. Das war nicht drin. Die Folge davon: mein Kind hat ein derart schlechtes Zeugnis, dass er praktisch keine Chancen hat, in der Oberschule unterzukommen. Das müsste alles nicht sein.“

Auch wenn die Kinder begreiflicherweise den Wunsch hätten, einmal in den Ferien gemeinsam wegzufahren, sei das nicht drin. „Einen gemeinsamen Urlaub – das kennen wir gar nicht, das ist für uns unmöglich. Seitdem mein erstes Kind kam, seit sechzehn Jahren, war ich nicht mehr in Urlaub. Für einen gemeinsamen Urlaub mit den Kindern müsste ich vier oder fünf Jahre Geld ansparen, aber in der Zwischenzeit würde das angesparte Geld auf dem Konto wieder mit meinem Hartz-IV-Geld verrechnet. Und schon heißt es: Sie brauchen diesen Monat kein Geld, sie haben ja genug auf dem Konto angespart.“

Blick in das Jobcenter Lichtenberg

Sie berichtet, dass das Jobcenter einfach alles mit einplant, jede Zuwendung, egal von welcher Seite. Auch das Unterhaltsgeld oder das Kindergeld wird an die Leistungen angerechnet. Und falls die Kinder auf ihrem eigenen Konto zu viel Taschengeld angespart haben, wird auch das wieder angerechnet. „Das ist wirklich ungerecht“, so Ariane. Sie fährt fort: „Sogar wenn die Tochter aus der Schule raus ist, wenn sie einen Abschluss hat und ihr eigenes Geld verdient, dann wird das bei uns mit angerechnet. Das ist für junge Menschen extrem entmutigend, das raubt ihnen doch jede Motivation.“

Ariane empfindet diese Bevormundung als entwürdigend: „Es schafft ein Gefühl der Ungerechtigkeit. Man fühlt sich nicht mehr als Mensch beachtet und behandelt. Oft kommt man sich ganz klein vor und weiß nicht, wie man aus der Situation jemals wieder hinauskommt.“

Arianes Fazit lautet: „Ich werde nie mehr von Hartz IV loskommen, auch nicht wenn ich Arbeit finde. Die Löhne sind zu gering. Heute schon weiß ich, dass ich als Rentnerin definitiv, bis ich in der Kiste liege, am Jobcenter hängen werde.“

Wie Ariane geht es zahlreichen jungen Frauen mit Kindern, die durch die Hartz-Gesetze zu einem frustrierenden Leben in Armut verurteilt sind. Gleichzeitig wird auch ihr soziales Umfeld, Schulen, Kindergärten, Spielplätze etc. immer mehr der Verwahrlosung überlassen.

Jutta, die im Einzelhandel arbeitet, hat eine schulpflichtige Tochter. Sie berichtet: „Bei uns wurden schon vor Jahren mehrere Schulen und Kitas geschlossen. Auch der Zweitsitz von unserer Schule wurde 2005 abgerissen. Das hat zur Folge, dass meine Tochter jetzt ab der fünften Klasse einen weiten Schulweg hat. Die Schulen sind in einem schlechten Zustand. Auch die Spielplätze sind marode, das ist Katastrophe pur. Meine Tochter hat sich am Spielplatz gerade wieder den Fuß an einen rostigen Nagel aufgerissen. Meiner Meinung nach sollte man in Deutschland öfter auf die Straße gehen und viel mehr machen. Gerade wenn es auch Kinder betrifft.“

Auf die Streiks in Frankreich angesprochen, sagt Jutta: „Man hört sehr wenig darüber. Offenbar wollen die da oben unterbinden, dass dasselbe in Deutschland passiert. Sie wollen nicht, dass die Deutschen Mut fassen und selbst streiken. Die Politiker wollen die Menschen klein halten.“

Gerne leistet Jutta, wie viele andere an diesem Tag, eine Unterschrift für die Kandidatur der Partei für Soziale Gleichheit bei der Senatswahl im September.

Am Jobcenter in der Allee der Kosmonauten unterschreibt eine junge Frau mit Kind. Sie sagt, unter allen etablierten Parteien sei keine, die man wählen könne: „Man kann gar nicht sagen, wen man wählen soll. Mir fällt auf, dass sie uns nicht alles sagen, was in der Welt los ist: vermutlich aus dem Grund, damit keine Panik aufkommt und die Leute sich nicht gegen diese Parteien wenden. Auch versuchen sie die ganze Zeit, die Probleme auf andere abzuwälzen, z. B. auf die Flüchtlinge.“

Die schlechte Behandlung der Flüchtlinge ist vieldiskutiertes Thema. Mehrere Jugendliche, die vorbeikommen, sind erst zu einer Unterschrift bereit, nachdem wir ihre Frage: „Was denkt ihr über die Flüchtlinge?“ zufriedenstellend beantwortet haben. Die PSG verteidigt die Flüchtlinge und lehnt die Kriegseinsätze ab, deren Opfer sie ja sind. Als eine Frau heftig über Flüchtlinge herzieht, kehrt sich eine andere Frau, die schon vorbeigegangen war, demonstrativ um und kommt zurück, um für die PSG-Kandidatur zu unterschreiben.

Helin mit ihrem zweijährigen Scheran

Auch Helin unterstützt die Kampagne. Interessiert hört sie zu, was wir über die Streiks in Westeuropa berichten. „Davon habe ich bisher wenig gehört“, sagt sie. „Aber ich finde, sie haben recht. Hoffentlich gelingt es ihnen, gegen diese Verarmung zu kämpfen.“ Helin hat zwei Kinder, und sie mussHartz IV immer wieder neu beantragen. „Es ist schwer, mit dem Geld auszukommen. Wenn man sich sehr bemüht, dann schafft man das, aber sehr oft erlebe ich, dass das Geld nicht reicht. Das ist sehr bitter, vor allem, wenn es die Kinder betrifft.“

„Es ist ein ständiger Kampf“, setzt Helin hinzu. „Dabei müssten doch alle Kinder die gleichen Chancen haben. Sie müssten gute Schulen besuchen und ein Studium oder eine Ausbildung machen können, das finde ich sehr wichtig.“

Eine Sozialhelferin berichtet, das Amt sorge regelrecht dafür, dass Kinder mit vierzehn aus der Schule geworfen würden. „Man kümmert sich nicht um die strukturellen Ursachen und untersucht nicht, warum bestimmte Kinder mehr Probleme machen als andere, geschweige denn, wie man diese Kinder weiter bringen kann. Nein, man schmeißt sie aus der Schule und schickt sie in die Beschäftigungsmaßnahmen, wo sie als billige Arbeitskraft eingesetzt werden. Verkauft wird das als Aktivierungshilfe. Es betrifft aber immer nur die Kinder aus benachteiligten Familien. Die haben dann einfach das Nachsehen. So sieht’s aus.“

Die Ursache sei die mangelnde Unterstützung durch das Jugendamt, fährt sie fort. „Dort wurde das Personal stark ausgedünnt, und die kommen gar nicht mehr dazu, sich über Strukturen und Hintergründe Gedanken zu machen. Man hat deutlich Stellen abgebaut und die Familienhilfe zusammengestrichen.“

Ein junger Mann, dem sie am Jobcenter alle Leistungen gestrichen haben, kommentiert die Streiks in Frankreich mit den Worten: „Ich kann nur sagen: Diese Arbeiter sollten auf jeden Fall fest bleiben und weiter streiken, bis sie gewonnen haben. Wenn das System erst einmal installiert ist, dann kommst du da nicht mehr raus. Ich erfahre das gerade wieder am eignen Leib: Ich habe einen Termin am Jobcenter verpasst, und schon haben sie mir alle Leistungen gestrichen, ohne mich zu informieren. Der Fehler wird zwar korrigiert, aber ich bin erst einmal wochenlang völlig mittellos, und auf dem Amt behandeln sie mich wie Dreck.“

Viele Arbeiter bleiben noch aus einem andern Grund stehen: Weil die Kriegsfrage sie umtreibt. Eine von ihnen ist Frau Bachmann, die aus dem ausdrücklichen Grund für die PSG-Wahlteilnahme unterschreibt, weil hier eine Partei offen gegen die Kriegsvorbereitungen auftritt. Frau Bachmann sagt: „Offenbar soll es wieder als normal gelten, dass die Bundeswehr in den Krieg zieht. Das macht mich wütend.“

Vor dem Marzahner Arbeitsamt berichtet ein Mann von Bekannten, die in Afghanistan als Soldaten eingesetzt waren und verstört und psychisch zerrüttet zurückkamen. „Sie dürfen zwar nicht berichten, was sie erlebt haben, aber ich habe den Eindruck, dass sie dort auch Grausamkeiten begehen mussten. Darunter leiden sie sehr.“ Im Nachhinein sei es jetzt schwer, den Afghanistan-Einsatz als Grund für ihre Berufsunfähigkeit anerkannt zu bekommen. „Losgezogen sind sie in der Hoffnung auf gute Bezahlung und sozialen Aufstieg. Zurückgekommen sind sie als psychische Wracks. Darunter leiden nicht nur ihre Familien, sondern sie haben auch große materielle Sorgen.“

Astrid mit ihrem Kleinen

Astrid hat zwei Kinder, ein Fünfjähriges und eins von einem Jahr. Sie ist alleinerziehend und ist auf Hartz IV angewiesen. „Ich denke viel über alles nach“, sagt sie. „Warum müssen die Reichen so wenig bezahlen? Deutsche Gesetze sind teilweise extrem ungerecht. Die Reichen, denen es nichts ausmachen würde, die es gar nicht merken würden, werden verschont. Warum ist so etwas möglich? Die Politiker holen es immer bei den Armen, die sowieso schon jeden Cent umdrehen müssen.

Das fängt schon im Kindergarten an. Wenn die andern ein neues Spielzeug haben, was oft vorkommt, dann muss man dem Kind erklären: Es geht nicht. So ist unsre Situation. Sie müssen es schon von ganz klein auf lernen. Man muss sich über die einfachsten Dinge den Kopf zerbrechen, das ist ein Unding.“

Als „Schwachsinn“ bezeichnet sie „das Gerede von der Chancengleichheit. Das ist alles gelogen, so etwas existiert nicht. Mein Großer kommt nächstes Jahr zur Schule, aber auch dort gibt es diesen krassen Unterschied zwischen den vielen, die Hartz IV beziehen, und all den andern. Da kommst du nicht mehr raus. Um das zu ändern, muss man das ganze System ändern.“

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