Eine weitere Anmerkung zum Tod des Sozialisten und Künstlers David King

Es war eine traurige Nachricht, von David Kings Tod am 11. Mai in London zu hören. Wie David North in seinem Nachruf auf der World Socialist Web Site schrieb, hat King „seine herausragende Begabung fast ein halbesJahrhundert der Aufgabe gewidmet, die Wahrheit über die russische Revolution von 1917 und ihre Folgezeit aus dem kolossalen Lügen- und Verbrechensgebäude des Stalinismus hervorzuholen“.

King war ein genialer Grafiker, Fotograf, Illustrator, Archivar, Forscher, Herausgeber, Historiker und Kunstsammler. Ich glaube, es ist keine Übertreibung festzustellen, wie ich es 2005 tat, dass King „eine der beachtenswerteren künstlerischen und intellektuellen Persönlichkeiten unserer Zeit“ war.

In Werken wie Roter Stern über Russland, Stalins Retuschen – Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion, Trotsky : a photographic biography [Eine Bildbiographie Leo Trotzkis], Russische revolutionäre Plakate und How the GPU Murdered Trotsky [Wie die GPU Trotzki ermordete] setzte King seine enormen Fähigkeiten für das dringlichste Problem unserer Zeit ein – die Tatsachen der entscheidenden Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts richtigzustellen.

Und das heißt keineswegs, die Bedeutung der Werke herabzumindern, die er gestaltet oder an denen er mitgewirkt hat. In ihnen ging es um spezielle künstlerische oder kulturelle Fragen. Dazu gehören Bücher über John Heartfield, Alexander Rodschenko, Wladimir Majakowski, frühe Sowjetfotografen, über angewandte Kunst in der UdSSR, revolutionäre mexikanische Fotografie und antizaristische Karikaturen aus der Russischen Revolution von 1905. In all diesen Werken ging es letztlich ebenfalls darum, ein Bild der gewaltigen Kämpfe des 20. Jahrhunderts zu vermitteln, die geführt wurden, um die Menschheit von der kapitalistischen Unterdrückung zu befreien. Wie er einmal bemerkte: „Mein Interesse war nie akademischer Natur.“

Die Reihe der veröffentlichten Bücher ist gewissermaßen als Nebenprodukt oder „Zwischenbericht“ des zentralen Projekts seines Erwachsenenlebens zu sehen: Die Zusammenstellung von 250.000 Plakaten, Fotografien, Illustrationen und anderen Dokumenten über Russland, die Sowjetunion und die„kommunistischen Bewegungen überall“, die jetzt der Tate Modern in London gehören. Diese Sammlung ist einzigartig. Kein Museum oder Archiv weltweit, geschweige denn eine Einzelperson, hat so unermüdlich daran gearbeitet, diese stürmische Zeit in Bildern zu bewahren.

Als Joanne Laurier und ich King im November 2010 zu Hause in seinem Atelier in London besuchten, erzählte er kurz von einigen Abenteuern, die er bei seiner Sammelarbeit erlebte. So z. B. wie er unersetzliche Exemplare der Arbeiter Illustrierte Zeitung fand (in der viele der Fotomontagen aus der Zeit der Weimarer Republik von John Heartfield veröffentlicht wurden). Sie lagen knöcheltief versteckt und verstreut im Keller eines Schweizer Buchladens. Oder wie eines Tages ein mysteriöser Russe bei ihm anrief und ihm für 800 Dollar eine unbezahlbare Trotzki-Büste anbot, die dann mit der normalen Post in einer kleinen Schachtel bei ihm eintraf usw.

In Stalins Retuschen erzählt King die Geschichte des Bildbands „Zehn Jahre Usbekistan“. Dieser Fotoband wurde 1934 von den Sowjetkünstlern Alexander Rodschenko and Warwara Stepanowa zusammengestellt und enthielt Porträts von usbekischen Funktionären der Kommunistischen Partei. Drei Jahre später waren die meisten der in dem Buch Abgebildeten von Stalin verhaftet und ermordet worden, und das Buch selbst war verboten. Es zu besitzen, wurde zum Verbrechen. In seinem eigenen Exemplar, das King 1984 im Atelier des Künstlers entdeckte, hatte Rodschenko die Gesichter brachial geschwärzt. Es kostete King 12 Jahre, ein Exemplar des Buchs aufzutreiben, in dem die Gesichter unversehrt waren.

Es ist schon öfter erzählt worden, wie King, der damals Kunstredakteur der Sunday Times war, 1970 für einige Wochen nach Moskau reiste, um Material für einen Artikel zu Lenins 100. Geburtstag zu suchen. King schrieb später, dass dort „die Person, die ich vor allen Dingen finden wollte, nirgendwo auftauchte. Deshalb verbrachte ich viel Zeit damit zu fragen: ‚Ja in Ordnung, aber wo ist Trotzki?‘ oder ‚Das ist sehr interessant, und was ist mit Trotzki?‘“

James Woudhuysen bemerkt in einem Artikel von 1984 über King, dass der Künstler damals „mit 18 Monate dauernden neuen Nachforschungen begann, die ihn direkt zu alten amerikanischen Trotzkisten und Mexikanern führten, die ‚den Alten’ in den letzten Jahren vor seiner Ermordung gekannt hatten. Dort fand er Fotos in alten braunen Umschlägen. Das Ergebnis war eine Titelgeschichte für das Sunday Times Magazine „Trotzki, das Gewissen der Revolution“, die am 19. Dezember 1971 16-seitig in Farbeerschien.

Das ist eine überzeugende Schilderung, aber wie so viele nette, erfreuliche Geschichten, bedarf sie einer Korrektur. Wie King in seiner Einleitung zu Roter Stern über Russland klar machte, wurden zwar 1,5 Millionen Exemplare der Ausgabe des Sunday Times Magazine vom 19. September 1971 gedruckt, aber wegen eines Streiks nie ausgeliefert. „Die meisten Exemplare wurden eingestampft“, erklärte King. Der Artikel wurde dann jedoch zu einem Buch verarbeitet, der berühmten Bildbiografie von Trotzki, die 1972 erschien, gestaltet von King und mit einem Text von Francis Wyndham. Es wurde 25.000mal verkauft.

In seinem Beitrag von 1984 fuhr Woudhuysen fort: „Was die Massenkultur angeht, hat er [King] mehr getan als Trotzkis hervorragender polnischer Biograf Isaac Deutscher, um den Mann bekannt zu machen, der schon mit 26 Jahren Vorsitzender des Sowjets von Petrograd und mit 38 Oberbefehlshaber der Roten Armee war.“ Diese Einschätzung mag eine Übertreibung sein, aber sie verweist auf die entscheidende Rolle, die King vor allem in Großbritannien in dieser Hinsicht spielte.

Die Entwicklung eines Künstlers ist ein komplexer Prozess, aber, was King angeht, so zog er offensichtlich Ende der 1960er-Jahre zwei zusammenhängende Schlussfolgerungen: Erstens, dass die Oktoberrevolution das entscheidende Ereignis der modernen Geschichte war und zweitens, dass der Stalinismus der sozialistischen Bewegung enormen Schaden zugefügt hat. Fortan bestimmte diese Einsicht seine intellektuellen Arbeiten bis zum Ende seines Lebens. Die zentrale Bedeutung dieser Erkenntnis für seine künstlerische und archivarische Arbeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wie David North bemerkte: „Diese gelungene Verbindung von künstlerischer Form und historischem Inhalt verleiht seinem Werk bleibende Bedeutung. Es beruht auf einem historischen Verständnis, wie man es unter zeitgenössischen Künstlern selten antrifft.“

In Gesprächen mit Stefan Steinberg 1998 und mit mir 2008, die beide auf der WSWS veröffentlicht wurden, bekräftigte King seine Ansicht, dass Stalin der Totengräber der Russischen Revolution gewesen sei. Er lehnte die Auffassung ab, dass der Zusammenbruch der UdSSR das „Ende der Geschichte“ bedeutete. „Oh, das habe ich nie geglaubt“, erklärte er mir im Café des Tate Modern.

Ich begegnete David King zum ersten Mal in den Jahren 1970/1971 zu einer Zeit, als die trotzkistische Bewegung in Großbritannien, die Socialist Labour League unter Führung von Gerry Healy, Teil einer breiten Radikalisierung der Arbeiterklasse und der Intellektuellen war. Sie war Anziehungspunkt für eine beträchtliche Anzahl von Künstlern, Schriftstellern und Schauspielern. Soweit ich mich erinnere, sprachen wir damals nicht miteinander, aber so ein Gesicht vergisst man nicht so leicht. Persönlich lernten wir uns 2008 und 2010 in London kennen und korrespondierten in den folgenden acht Jahren gelegentlich miteinander.

Ich behaupte nicht, dass wir enge Freunde waren, aber die wenigen Stunden, die ich in seiner Gesellschaft verbrachte, machten mir große Freude. David King war eine liebenswürdige Persönlichkeit, er war bescheiden und sprach ruhig und leise, ohne jegliche Überheblichkeit. Man fühlte sich sofort von ihm angezogen.

Es spricht für die Tiefe seines historischen und ideologischen Engagements, dass diese private Bescheidenheit und Zurückhaltung sich nicht auf seine öffentliche künstlerische Arbeit erstreckte. Mit anderen Worten, wenn die Grafik und das Design seiner Arbeiten so eindringlich, anspruchsvoll oder sogar im besten Sinne des Wortes vermessen sind, wenn sie Leser oder Betrachter, bildlich gesprochen, packen und schütteln, dann ist das nicht auf die Persönlichkeit Kings zurückzuführen, sondern auf seine Überzeugung und seinen Sinn für gesellschaftliche Dringlichkeit. Er wusste, dass das, was er tat, wichtig war.

Und wie viele ernsthafte Künstler behandelte er seine formalen Leistungen, die andere so oft hervorhoben und lobten, mit einer gewissen Gleichgültigkeit. „Ich bin viel mehr am Inhalt interessiert als an der Form. Man entwickelt einen Grafikstil, so wie man eine Handschrift entwickelt. Und wenn du das getan hast, dann kannst du ihn fast vergessen. Der Inhalt der Arbeit, vorausgesetzt, man ist überhaupt daran interessiert, ist dann alles, worauf man sich konzentrieren sollte“, meinte er in einem Interview mit Christopher Wilson 2003.

Der Künstler denkt in Bildern, behauptete Belinski, der russische Kritiker des 19. Jahrhunderts. Künstler oder Künstlerinnen beweisen die Wahrheit nicht, aber sie zeigen sie, meint Belinski. Darin liegt eine grundlegende Wahrheit. Was King aber so außergewöhnlich machte, war, dass er die Wahrheit sowohl zeigte, als auch bewies. Er schuf eine außerordentliche Bildsprache und erklärte gleichzeitig ihre Bedeutung.

David King widmete sich lebenslang der Aufgabe, die Wahrheit der Russischen Revolution in einer visuellen Bildersprache „zu zeigen“. Das erklärte er 1984 gegenüber Woudhuysen: „Ich bin offensichtlich besessen von der Sowjetpolitik, aber all das begann mit der Notwendigkeit, Informationen visuell zu verbreiten. Es sind tausende Worte über die Sowjetunion geschrieben worden. [Der Historiker] E. H. Carr allein hat 13 Bände über das Thema geschrieben. Ich wollte die Worte visualisieren.“

Aber er schrieb auch Texte, polemisierte, griff verbal in die historische Debatte über den Charakter der Russischen Revolution ein. Seine Intervention wurde durch die Masse an Bildern und anderem Material, auf das er verweisen konnte, umso schlagkräftiger, geradezu unbestreitbar. Wer konnte das lebendige, atmende Bild der Revolution, das er zeichnete, „als falsch entlarven“?

Es besteht eine Kontinuität in Inhalt und Form zwischen den ersten und den späteren Arbeiten von King. Das ist bei vielen Persönlichkeiten der letzten Jahrzehnte nicht der Fall. So viele reuige ex-linke Intellektuelle und Künstler haben, um es mit André Breton zu sagen, „ihre Meinungen radikal geändert und ihre Überzeugungen auf masochistische und exhibitionistische Weise widerrufen. Sie sind zu Verfechtern einer Sache geworden, die in völligem Gegensatz zu der steht, der sie einmal mit großer Geste gedient haben.“ Ganz anders David King.

Wenn man die Seiten der Bildbiografie über Trotzki von Anfang der 1970er-Jahre aufblättert oder das Buch von 2015 John Heartfield: Laughter is a Devastating Weapon [Lachen ist eine verheerende Waffe], dann öffnet sich Kings intellektuelles und künstlerisches Universum. Es geht immer um die Orientierung auf die Probleme der sozialen Revolution unserer Zeit und das Bemühen, einem breiten Publikum komplexe historische Themen zugänglich zu machen. Dieses Anliegen findet seinen grafischen Ausdruck in fetten Überschriften, präzise beschnittenen und arrangierten Fotografien oder Kunstwerken und „einer leicht erkennbaren Mischung explosiver Sans-Serif-Typografie, soliden Flächen lebhaften Farben und klaren Regeln“ (Wilson).

Der rechte Kolumnist Andrew Stuttaford, ein erbitterter Gegner von Kings sozialistischen Sympathien, sah sich 2010 im New Criterion gezwungen zuzugeben, dass „Der Kommissar verschwindet. Die Fälschung von Fotografien und Kunstwerken in Stalins Sowjetunion [Die erste Auflage erschien in Deutschland unter dem Titel Stalins Retuschen. Foto und Kunstmanipulation in der Sowjetunion] zu den besten und ungewöhnlichsten Werken der Sowjetologie gehört, die jemals erschienen sind und „dass keine Seite von Roter Stern über Russland eine zu viel gewesen ist.“

In demselben bereits zitierten Interview von 1984 meinte King: „Ich bin möglicherweise der meistgehasste Designer in Großbritannien. Jedenfalls fühlt es sich manchmal so an.“ Die Feindschaft des britischen Establishments King gegenüber resultierte vor allem daraus, dass er an den Prinzipien und dem Beispiel der Revolution von 1917 festhielt und darauf bestand, dass es eine Alternative zum Stalinismus gab, die von Trotzki und seinen Anhängern repräsentiert wurden.

Es war typisch für ihn, was er bei unserem letzten Austausch von E-Mails Ende Januar, anlässlich einer Rezension seines Buchs über John Heartfield, die auf der WSWS veröffentlicht wurde, und über ein neues Projekt von ihm schrieb, mit dem er „fieberhaft beschäftigt“ war:

„Ich danke Dir sehr für die Übersendung des Links für die Heartfield-Rezension, und danke ihm [dem Autor] bitte sehr dafür, dass er so eine großartige Rezension geschrieben hat. Er schreibt sehr gut und hat sicher eine große Zukunft vor sich. … [Das neue Buch] heißt Print and Revolution [Druck und Revolution]. Das ganze Buch – 400 Seiten, im gleichen Format und Druck – besteht aus bisher nicht verwendetem Material aus meiner Sammlung. Es ist ein schwieriges Projekt, aber ich hoffe, es zu schaffen! Beste Grüße, David.“

Sein Tod ist ein ungeheuer großer Verlust.

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