Perspektive

Das Massaker von Orlando und die US-Wahlen 2016

Während das Ausmaß des Massakers im Pulse-Nachtclub in Orlando, Florida, noch immer schwer fassbar erscheint, ist eines unübersehbar: Die beiden großen Parteien haben keine Zeit verloren, diese Tragödie für extrem reaktionäre Zwecke auszunutzen.

Das Blut der Opfer ist noch nicht getrocknet und das Zusammenwirken der religiösen, rechtsgerichteten, homophoben und sonstigen Motive des Schützen Omar Mateen, der in einem Kugelhagel der Polizei starb, ist im Einzelnen noch weitgehend unklar. Aber das hat die Demokratin und den Republikaner, die voraussichtlich für das Präsidentenamt kandidieren werden, nicht davon abgehalten, am Montag in einer Rede nach der anderen eine aggressivere Kriegsführung im Ausland und härtere Unterdrückungsmaßnahmen im Inneren zu fordern.

Hillary Clinton von den Demokraten bezeichnete das Massaker an 49 Unschuldigen in dem Schwulen-Nachtclub als Beispiel für die „Barbarei, die wir von radikalen Dschihadisten zu erwarten haben“. Donald Trump von den Republikanern erklärte gegenüber seinen Anhängern, das Massaker sei das Ergebnis „des Eindringens von radikalem islamischem Terrorismus in den Westen durch ein gescheitertes Einwanderungssystem“.

Die Informationen, die über den Täter bekannt wurden, haben mit der Rhetorik und den Rezepten der beiden Kandidaten sehr wenig zu tun.

Zunächst einmal war er ein in New York geborener Bürger der USA und kein Einwanderer. Kollegen und Familienangehörige berichten, dass er nicht nur auf Schwule einen krankhaften Hass hegte, sondern auch auf Afroamerikaner. Er bezeichnete sie regelmäßig mit dem „N-Wort“ und erklärte, sie sollten alle umgebracht werden. Diese Art von Rassismus geht nicht auf den IS oder al-Qaida zurück, sondern auf weiße Rassisten innerhalb der USA selbst, die für viele homophobe Übergriffe verantwortlich sind.

Kollegen haben Mateen auch als psychisch krank und emotional instabil beschrieben. Das sind Eigenschaften, die gleichermaßen auf alle zutreffen, die an derartigen Gräueltaten beteiligt waren. Wie könnte es auch anders sein, bei solchen zutiefst krankhaften, asozialen und willkürlichen Taten.

Dass er mitten in dem Massaker die Notrufnummer der Polizei wählte, um sich zum IS zu bekennen, wird nicht einmal vom FBI und der Polizei als Beleg für einen tatsächlichen Kontakt zu der islamistischen Miliz gewertet. Am Montagabend wurden darüber hinaus Berichte bekannt, dass Mateen selbst regelmäßig den Pulse-Nachtclub besucht hat, viel trank und aktiv in der Schwulen-Chat- und Partner-App Jack’d aktiv war.

Die umfassendere Tragödie besteht darin, dass sich solche Gräueltaten in den USA mit erschreckender Häufigkeit ereignen. Massenschießereien gibt es buchstäblich mehr als täglich.

Vor diesem Hintergrund kann man eine Tragödie wie das Massaker in Orlando nicht verstehen, wenn man nur die individuellen Motive des Täters betrachtet. Wenn eine Gesellschaft eine erhebliche Anzahl von Menschen hervorbringt, die aufgrund traumatischer psychischer Probleme Massenmorde begehen, dann kann das nur Ausdruck von etwas zutiefst Krankhaftem in dieser Gesellschaft selbst sein.

Die Häufigkeit solcher Vorfälle hat parallel zu den ständigen Kriegen der USA seit dem ersten Golfkrieg 1991 und zum Anwachsen der sozialen Ungleichheit zugenommen.

Der blutigste war der Bombenangriff, den Timothy McVeigh im April 1995 mit einem Lastwagen auf ein Bundesgebäude in Oklahoma City verübte. Der zutiefst verstörte Veteran aus dem Golfkrieg hatte sich mit rechten Milizkreisen eingelassen. Bei diesem Anschlag wurden 168 Menschen getötet und Hunderte verletzt.

Unter den zahlreichen weiteren Massakern, die sich seither ereigneten, stechen die folgenden durch die hohe Zahl an Todesopfern hervor:

  • Columbine High School in Colorado, 1999: Zwei Schüler töten 13 Menschen und verwunden 24.
  • Virginia Tech, 2007: Ein Student tötet 32 Menschen und verwundet 17 weitere, bevor er sich selbst umbringt.
  • Die American Civic Association in Binghamton, New York, 2009: Ein 42 Jahre alter vietnamesischer Einwanderer tötet 13 Menschen und verwundet vier weitere, bevor er sich selbst umbringt.
  • Fort Hood, Texas, ebenfalls 2009: Nidal Malik Hasan, ein Armeepsychologe, ermordet 13 Menschen und verwundet 30.
  • Sandy-Hook-Grundschule in Newtown, Connecticut, 2012: Adam Lanza tötet 26 Menschen, die meisten von ihnen kleine Kinder, bevor er sich selbst umbringt.
  • Die Marinewerft in Washington, 2013: Ein ehemaliger Marinereservist tötet 12 Menschen, bevor ihn die Polizei erschießt.
  • Das Kirchenmassaker in Charleston, South Carolina, Juni 2015: Ein 21-jähriger weißer Killer ermordet neun Afroamerikaner während eines Gottesdienstes; er erklärt später, er habe gehofft, einen Rassenkrieg auszulösen.
  • Inland Regional Center in San Bernardino, Kalifornien, Dezember 2015: Syed Farook, 28, und Tashfeen Malik, 27, töten 14 Menschen, bevor sie bei einer Schießerei mit der Polizei ums Leben kommen.

Weniger große Vorfälle, bei denen drei, vier oder fünf Menschen umkommen, bleiben weitgehend unbeachtet.

Weder die Politiker noch die Medien bemühen sich, die gesellschaftlichen Ursachen dieser langen Reihe von Massenmorden zu untersuchen.

Die zynischen und verlogenen Reden von Clinton und Trump am Montag waren kein Versuch, die Öffentlichkeit über die wirklichen Gründe für dieses Problems aufzuklären, sondern die politische Atmosphäre zu vergiften und die amerikanische Bevölkerung zu verdummen. Trotz gegenseitiger Beschimpfungen unterschieden sich ihre Äußerungen kaum.

Beide Reden waren darauf ausgelegt, die Tragödie der unschuldigen Opfer und ihrer Familien und Freunde auszuschlachten, um längst bestehende reaktionäre Pläne zu legitimieren. Beide Kandidaten riefen dazu auf, die militärischen Interventionen der USA und die Bombardierungen des Nahen Ostens „zu verstärken“, als ob die vom Krieg gezeichneten Völker dieser Region für den Anschlag im Nachtclub von Orlando verantwortlich wären. Ihr durchsichtiges Ziel bestand darin, die Tragödie von Orlando zu benutzen, um die Anti-Kriegs-Stimmung der Bevölkerung zu unterhöhlen und nicht nur die Kriege in Afghanistan, Irak und Syrien zu forcieren, sondern auch die Kriegsdrohungen gegen Russland und China.

Clinton sprach davon, innerhalb der USA selbst „unsere Verteidigung zu stärken“. Damit meint sie eine Verschärfung der Angriffe auf demokratische Rechte und den Einsatz von Polizeistaatsmethoden.

Trump seinerseits gab faschistisch anmutende Tiraden von sich, in denen er seinen Vorschlag wiederholte, Muslimen die Einreise in die USA zu verbieten, und erneut seinen fanatischen Chauvinismus zur Schau stellte: In demagogischer Manier brachte er Einwanderer nicht nur mit Terrorismus in Verbindung, sondern auch mit den sinkenden Löhnen und dem Zerfall der Infrastruktur. Die Muslime insgesamt in den USA, behauptete er, „wissen Bescheid“, was geplante Anschläge angeht, und müssten entweder „kooperieren“ oder mit „weitreichenden Konsequenzen“ rechnen.

Beide Kandidaten gaben sich zynischer Weise als die wahren Freunde der Homosexuellen aus – ein durchsichtiger Versuch, eine neue Wählerschaft für ihre reaktionären Vorhaben zu gewinnen.

Allerdings war es Clinton, die den aufschlussreichsten – und bedrohlichsten – Satz von sich gab. Sie erinnerte an den Terroranschlag vom 11. September 2001 und schlussfolgerte, es sei „Zeit, zum Geist jener Tage zurückzukehren, zum Geist von 9/12“.

Im „Geist von 9/12“ entfesselte Washington den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak, der auf Lügen basierte. Demselben „Geist“ verdanken wir den Patriot Act, das Gefangenenlager auf Guantanamo, das weltumspannende Netzwerk von „Geheimgefängnissen“ mit Folterzentren und die Rechtsanmaßung des Präsidenten, jeden Menschen, US-Bürger nicht ausgenommen, ohne Anklage oder Gerichtsverfahren auf unbegrenzte Zeit zu internieren. Hillary Clinton, die alle diese Maßnahmen unterstützt hat, will jetzt die 49 Toten in Orlando benutzen, um im Nachhinein ihre eigenen politischen Verbrechen zu rechtfertigen, die zum Tod, zur Verwundung und zur Vertreibung von Millionen geführt haben.

Clinton stellt es als erwiesen dar, dass eine direkte Verbindung zwischen dem Schützen von Orlando und dem „Völkermord“ des IS im Nahen Osten besteht – eine höchst fragwürde Behauptung. In diesem Zusammenhang muss man auf ihre eigene Verantwortung für den Aufstieg des IS verweisen: Mit Clintons aktiver und eifriger Unterstützung bereitete der US-Imperialismus den Boden, auf dem der IS wachsen konnte, indem er die Gesellschaften in Afghanistan, im Irak, in Libyen und Syrien zerstörte und Konflikte zwischen den Volksgruppen schürte.

Die Reaktion der beiden großen Parteien auf die schrecklichen Ereignisse von Orlando zeigt, welche Gefahren den Arbeitern und Jugendlichen in den USA drohen, gleichgültig, wer im November die Wahlen gewinnt.

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