Perspektive

Das britische EU-Referendum und der Mord an Jo Cox

Der Mord an der Labour-Abgeordneten für Batley and Span in West Yorkshire, Jo Cox, hat Millionen Menschen in Großbritannien und weltweit schockiert und in Trauer versetzt. Die brutale Ermordung der 41-jährigen zweifachen Mutter ist der erste Mord an einem Abgeordneten in Großbritannien seit mehr als 25 Jahren. Cox‘ Mörder griff sie direkt vor ihrem Wahlkreisbüro an, stach mehrmals mit einem Jagdmesser auf sie ein und schoss dreimal auf sie.

Ein großer Unterschied besteht zwischen der Abscheu, die diese schreckliche Tat bei der einfachen Bevölkerung hervorruft, und der Heuchelei des politischen Establishments und in den Medien. Ihr gespieltes Entsetzen zielt darauf ab, von ihrer eigenen Komplizenschaft abzulenken: Sie haben zu der vergifteten Atmosphäre beigetragen, die diese Tragödie erst möglich machte.

Als Cox’ Attentäter wurde der 52-jährige Tommy Mair identifiziert. Er wird als „ruhiger Einzelgänger“ beschrieben, der schon in psychiatrischer Behandlung war. Allerdings geht sein kranker Geisteszustand offenbar mit extrem rechten und chauvinistischen Ansichten einher.

Wie mehrere Augenzeugen des Geschehens übereinstimmend sagten, hat Mair bei seinem Angriff mehrfach „Britain First” (Britannien zuerst) gerufen. Die Parole deutet darauf hin, dass er im bevorstehenden Referendum das „Austritts”-Lager unterstützt. Am 23. Juni wird in Großbritannien über die weitere EU-Mitgliedschaft abgestimmt, und Cox war als prominente Befürworterin des Verbleibs in der EU bekannt.

Als Oxfam-Mitglied hatte sie sich außerdem öffentlich für die Verteidigung syrischer Flüchtlinge und ihre Aufnahme in Großbritannien eingesetzt. Im Januar verurteilte sie auf Twitter eine Demonstration für den EU-Austritt in der Nähe ihres Wahlkreises, die von der neofaschistischen und ausländerfeindlichen Organisation „Britain First“ organisiert worden war.

Am Freitag entdeckte die Polizei in Mairs Wohnung Nazi-Devotionalien und extrem rechte Literatur. Mehrere Personen, die mit der Untersuchung zu tun hatten, sagten aus, ihrem Eindruck nach habe der Täter auf der Lauer gelegen und auf Cox gewartet, um seinen Mordanschlag auszuführen.

Offenbar hat Mair auch bei der amerikanischen Neonazi-Gruppe National Alliance Bücher bestellt. William Pierce, der Gründer dieser Gruppe, ist der Autor der berüchtigten Turner Diaries, eines rassistischen Traktats. Dazu gehören Handbücher über die Herstellung von Sprengstoff und Gewehren und ein Exemplar von „Ich kämpfe“, einem Handbuch, das Hitlers NSDAP damals neu hinzugekommenen Parteimitgliedern überreichte. Auch hatte Mair die Zeitschrift der südafrikanischen Rassisten, S.A. Patriot, abonniert.

Der Mord an Cox ist das Ergebnis einer nationalistischen und fremdenfeindlichen Kampagne, die besonders durch die pro-Brexit-Kampagne verbreitet wird. Nur Stunden vor Cox’ Ermordung veröffentlichte Nigel Farage, der Führer der rechtsextremen UKIP (UK Independence Party), das neuste Plakat des pro-Brexit-Lagers, dessen Sprecher er ist. Es zeigt eine riesige Menge ankommender Flüchtlinge mit dem Slogan: „Grenze der Belastbarkeit. Die EU hat uns im Stich gelassen.“

Die offizielle Kampagne gegen den Austritt unter Führung des konservativen Premierministers David Cameron und des Labour-Führers Jeremy Corbyn hat in den letzten Tagen versucht, die Kontrolle zurückzugewinnen. Davor hatten Umfragen eine Mehrheit für das Verlassen der EU angezeigt. Seither fahren die Politiker ihre eigene einwandererfeindliche Demagogie sogar noch hoch. Führende Mitglieder der Labour Party, wie Alan Johnson, Ed Balls und Tom Watson, versicherten in den Medien, die Festung Europa und eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit seien die besten Mittel, die Einwanderung zu stoppen.

Umso zynischer ist die Reaktion der Politiker und der Medien auf den Mord an Cox. Sie haben alle Wahlkampfaktivitäten und öffentlichen Diskussionen über das Referendum bis zum Dienstag ausgesetzt, wenn das Parlament zu einer Sondersitzung zusammentritt, um Cox zu würdigen. Am Freitag traten Corbyn und Cameron in Cox’ Wahlkreis Birstall auf, wo sie Plattitüden über „Toleranz“ und „Demokratie“ von sich gaben.

Die Konservativen und Liberaldemokraten kamen überein, bei einer künftigen Nachwahl in Cox’ Wahlkreis keine Kandidaten aufzustellen und so ein Zeichen der Einheit auszusenden. Damit wollen sie angeblich die Wunden nach dem Referendums-Streit wieder heilen.

Die zur Schau gestellte offizielle Reaktion auf den Mord zielt vor allem darauf ab, die Verbindung zwischen dem Verbrechen und den rechten Kräften zu verschleiern, die das Lager der Austrittsbefürworter dominieren. Zu ihm gehören auch große Teile der Konservativen Partei und die Murdoch-Presse. Das gesamte Referendum ist selbst ein Ergebnis eines Manövers von Cameron. Er wollte damit verhindern, dass seine Partei Stimmen an Farage verliert. Gleichzeitig wollte er UKIPs einwandererfeindliche Politik nutzen, um die offizielle Politik nach rechts zu drücken.

Die Austritts-Gegner stützen sich auf den schmutzigen Deal, den Cameron mit der EU-Führung abgeschlossen hat. Damit sollen die Rechte von Zuwanderern aus der EU nach Großbritannien weiter eingeschränkt werden.

Wie die Abstimmung auch ausgehen wird – sie wird auf jeden Fall die rechtesten Fraktionen der herrschenden Elite stärken. Sie werden die soziale Lage und die demokratischen Rechte der Arbeiter und Jugendlichen weiter angreifen und die Kriegsvorbereitungen, besonders gegen Russland und China, noch verschärfen.

Die Arbeiterklasse ist mit grundlegenden Klassenfragen konfrontiert. Sämtliche etablierte Parteien, rechte wie „linke“, ermutigen jetzt das Anwachsen rechtsextremer, chauvinistischer und rassistischer Kräfte. Das ist kein rein britisches Phänomen. In ganz Europa und weltweit mobilisiert die herrschende Elite als Reaktion auf die Wirtschaftskrise nationalistische und faschistische Kräfte. Sie reagiert damit auch auf geopolitische Spannungen, die zu einem neuen Weltkrieg führen können.

Von der österreichischen FPÖ und der deutschen AfD über Frankreichs Front National, bis hin zu Donald Trumps Präsidentschaftskandidatur in den Vereinigten Staaten und dem autoritären Regime Rodrigo Dutertes auf den Philippinen – überall reagiert die Bourgeoisie mit Polizeistaatsmethoden auf das Anwachsen anti-kapitalistischer Stimmungen und den Widerstand der Arbeiterklasse. Überall versucht sie, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung in reaktionäre Kanäle zu lenken.

Der Mord an Jo Cox unterstreicht die Bedeutung der Kampagne der Socialist Equality Party (SEP) in Großbritannien für einen aktiven Boykott des EU-Referendums. Sie ist die einzige wirklich fortschrittliche Alternative zum reaktionären Nationalismus beider offizieller Lager. Nur die SEP artikuliert eine unabhängige Strategie für die Arbeiterklasse, die große Mehrheit der Bevölkerung in Großbritannien und Europa, und mobilisiert sie gegen die Diktatur der Banken und die Austeritäts- und Kriegspolitik der Europäischen Union.

Die SEP lehnt jede Art von Nationalismus, Chauvinismus und Rassismus ab. Sie kämpft für die Einheit der Arbeiter aller Länder und die Verteidigung ihrer gemeinsamen Interessen auf der Grundlage eines revolutionären sozialistischen Programms. Ihre Perspektive sind die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

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