Vier Thesen zu Axel Honneths „Die Idee des Sozialismus“

Den folgenden Text verteilte die Hochschulgruppe der International Youth and Students for Social Equality an der Berliner Humboldt-Universität am 5. Juli 2016 an die Besucher der VeranstaltungDie Aktualität des Sozialismus“, auf der das Buch „Die Idee des Sozialismus“ von Axel Honneth vorgestellt wurde. Honneth ist Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main und damit offizieller Vertreter der Frankfurter Schule.

1. Die Hochschulgruppe der IYSSE an der HU begrüßt die Diskussion über die Aktualität des Sozialismus. Ihre Dring­lichkeit ergibt sich aus der tiefen Krise des Kapitalismus. 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion brechen alle ungelösten Fragen des 20. Jahrhunderts wieder auf: Die soziale Ungleichheit ist mit der Finanzkrise von 2008 auf ein nie dagewesenes Maß gestiegen, die Europäische Uni­on bricht auseinander, Militarismus und Nationalismus sind überall auf dem Vormarsch, mit der Aufrüstung der Groß­mächte wächst die Gefahr eines Dritten Weltkriegs. Der Widerstand dagegen nimmt auf der ganzen Welt zu. Unter diesen Bedingungen erhält die Perspektive des Sozialismus, wie sie insbesondere von Marx und Engels begründet wur­de – einer internationalen Bewegung der Arbeiter für eine egalitäre Gesellschaft und eine demokratisch geplante Wirtschaft – entscheidende Bedeutung.

Honneths Buch wendet sich explizit gegen eine solche Perspektive und verteidigt den Kapitalismus. Es erwähnt weder die sozialen Angriffe der letzten 25 Jahre, noch die Kriegsgefahr oder den wachsenden Nationalismus. Er setzt sich nicht mit der Idee des Sozialismus auseinander, wie sie sich tatsächlich historisch entwickelt hat, sondern jonglie­rt mit völlig abstrakten Begriffen und Konzepten. Das Buch gibt sich akademisch und weicht allen konkreten politi­schen Fragen aus – aber am Ende ist es eine ideologische Rechtfertigung der rechten Politik der SPD, der Linkspartei und Syrizas und ein gezielter Angriff auf den Marxismus.

2. Obwohl Honneth sein Buch „Die Idee des Sozialismus“ nennt, ignoriert er die über 200-jährige Geschichte dieser Idee. Er geht nicht auf die heftigen Debatten ein, die Ge­nerationen von Sozialisten beschäftigten und die ganze Bibliotheken füllen. Dabei ging es nicht nur um abstrakte, theoretische Fragen; die unterschiedlichen Konzeptionen wurden in der Praxis erprobt – mit Folgen, die das Schicksal von Millionen auf Jahrzehnte beeinflussten.

Der Sozialismus war nicht einfach eine Theorie, sondern eine lebendige Bewegung. Unter dem Banner des Sozialis­mus kämpften Generationen von Arbeitern für ihre sozia­len und demokratischen Rechte. Als die Idee des Sozialis­mus die Massen erfasste, kam es zu den größten Triumphen der Menschheitsgeschichte. In Deutschland entwickelte sich die SPD im 19. Jahrhundert zur ersten sozialistischen Massenpartei. In Russland ergriffen die Arbeiter 1917 in der Oktoberrevolution die Macht. Umgekehrt war der Angriff auf die materialistischen Grundlagen des Sozialismus mit katastrophalen Niederlagen der Arbeiterbewegung verbunden.

Honneth verweist in einer Fußnote zwar lobend auf Eduard Bernstein. Er verliert aber kein Wort darüber, dass Bernsteins „Revisionismus“, wie er damals allgemein ge­nannt wurde, maßgeblich zum historischen Verrat der So­zialdemokratie beitrug, die 1914 ihr eigenes Programm verriet, den Ersten Weltkrieg unterstützte und Millionen ihrer Anhänger in die Schützengräben von Verdun und in den sicheren Tod schickte. Ohne diesen historischen Verrat bleiben die Katastrophen der deutschen Geschichte völlig unverständlich. Er stellte die Weichen für die Spaltung der Arbeiterbewegung, für den Aufstieg des Nationalsozialis­mus und schließlich für den Zweiten Weltkrieg und den Ho­locaust.

Ebenso schweigt sich Honneth über die epische Aus­einandersetzung zwischen der Stalin-Bürokratie und der trotzkistischen Linken Opposition in der Sowjetunion aus, die sämtliche Aspekte der „Idee des Sozialismus“ betraf, in der physischen Liquidation zehntausender revolutionärer Sozialisten im Großen Terror von 1937 gipfelte und schließ­lich das Schicksal der Sowjetunion besiegelte.

3. Honneths geschichtliche Blindheit hat System. Für den Professor aus Frankfurt sind diese Fragen belanglos, weil es ihm nicht um eine Aufarbeitung des Sozialismus, sondern um einen Angriff auf ihn geht. Während überall auf der Welt soziale Kämpfe ausbrechen und sich Arbeiter gegen die Angriffe auf ihre Rechte und die Kriegsentwicklung zur Wehr setzen, lehnt Honneth einen Sozialismus, der sich auf eine Bewegung der Arbeiterklasse, also der unterdrückten Massen, stützt, explizit ab. Er will den Sozialismus, oder was er dafür ausgibt, von jedem „sozialen Träger“ trennen. Viel­mehr seien es „institutionelle Errungenschaften“, die die materielle Grundlage des Sozialismus darstellten.

Honneth bestreitet sogar, dass der Sozialismus eine Überwindung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse voraussetzt. Einer seiner Vorwürfe gegen den Marxismus lautet, für ihn müsse „der Hebel zur Schaffung von solida­rischen Sozialverhältnissen die Reform oder revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Marktwirtschaft selbst sein“. (55) An die Stelle der Beseitigung des Kapitalismus stellt er einen „experimentellen Reformismus“, der die „so­ziale Freiheit“ erhöhen soll.

Honneth will also einen „Sozialismus“ ohne soziale Bewe­gung und ohne Revolution, unter Beibehaltung von kapi­talistischem Eigentum und Konkurrenz. Er wärmt die seich­ten und abgedroschenen Konzepte des Sozialreformismus wieder auf, die ihren Bankrott und ihre arbeiterfeindliche Stoßrichtung unzählige Male bewiesen haben. Er plädiert für einen „Sozialismus“, wie ihn die SPD, die französischen Sozialisten und Syriza in Griechenland vertreten, die der ar­beitenden Bevölkerung mit Worten über „soziale Freiheit und Gerechtigkeit“ auf den Lippen die Hartz-Gesetze, das El-Khomri-Gesetz und das Diktat der Troika aufzwingen.

In seiner Ablehnung – oder besser: seiner Angst – vor einer sozialistischen Bewegung der Massen erweist sich Honneth als wahrer Erbverwalter der Frankfurter Schule, deren Gründervä­ter Max Horkheimer und Theodor Ad­orno schon in ihrem Standardwerk „Di­alektik der Aufklärung“ den angeblich „autoritären Charakter“ der Arbeiter – und nicht das Versagen der sozialde­mokratischen und stalinistischen Füh­rer der Arbeiterparteien – für Hitlers Aufstieg verantwortlich machten. Er artikuliert damit die Interessen wohlhabender Mittelschichten, die eine Massenbewegung gegen den Ka­pitalismus weit mehr fürchten als die kapitalistische Reak­tion.

4. Honneth weist nicht nur eine unabhängige Bewegung der Arbeiter zurück, sondern wendet sich auch gegen jede Form der kritischen Gesellschaftsanalyse. Dem Marxismus wirft er einen „Determinismus“ vor, der zu einem „Attentis­mus“, also einem untätigen, abwartenden Verhalten führe. Das ist eine üble Verdrehung. Was Honneth tatsächlich kri­tisiert, ist die marxistische Analyse der Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Seins.

Marxisten gehen nicht davon aus, dass der Sozialismus automatisch aus dem Kapitalismus erwächst, sondern dass die inneren Widersprüche des Kapitalismus die Menschheit vor die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ stellen. Die­se historische Frage des 20. Jahrhunderts kehrt jetzt wieder auf die Tagesordnung zurück. Sie aufzuwerfen ist das ex­akte Gegenteil von Attentismus. Die Erkenntnis, dass sich der Klassenkampf aus den kapitalistischen Widersprüchen ergibt, stellt die Aufgabe wieder ins Zentrum, in der Arbei­terklasse für sozialistisches Bewusstsein zu kämpfen und eine revolutionäre Partei aufzubauen, die die Frankfurter Schule von jeher bewusst abgelehnt hat.

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