Corbyn weigert sich, Tony Blair als Kriegsverbrecher zu bezeichnen

Das Urteil der Financial Times über die Reaktion des britischen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn auf die Veröffentlichung des Chilcot-Berichts über den Irakkrieg 2003 lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: „zurückhaltend.“

Das Sprachrohr der City of London war darüber sichtlich angenehm überrascht. Die Zeitung schrieb, einige hätten damit gerechnet, dass Corbyn als Reaktion auf den Chilcot-Bericht „in einer elektrisierenden Rede im Unterhaus mit seinem Amtsvorgänger Tony Blair abrechnen würde. Einige rechneten sogar damit, dass der Oppositionsführer den ehemaligen Labour-Premierminister für seine Rolle im Irakkrieg als ‚Kriegsverbrecher‘ brandmarken würde.“

„Es war noch erstaunlicher, dass Corbyn Blair gar nicht erwähnte, als er sich überraschend zurückhaltend zu dem Chilcot-Bericht äußerte. Der Name Blair kam ihm nicht über die Lippen.“

Corbyns Reaktion war eine offene Zurschaustellung von politischer Feigheit und Opportunismus. Keiner war in einer besseren Position, für die Millionen Arbeiter zu sprechen, die Blair für einen nie angeklagten Kriegsverbrecher halten. Corbyn hatte gegen den Irakkrieg gestimmt und wurde teilweise aufgrund seines Versprechens gewählt, das Land in keine weiteren militärischen Abenteuer in Syrien und dem Irak zu führen.

Doch selbst nachdem der konservative Premierminister David Cameron Blair in einer Rede verteidigt und erklärt hatte, der Irakkrieg dürfe kein dauerhaftes Hindernis für weitere militärische Abenteuer sein, gab sich Corbyn so ausweichend wie möglich: „Wir wissen jetzt, dass das Parlament im Vorfeld des Kriegs getäuscht wurde. Und jetzt muss das Parlament entscheiden, wie es dreizehn Jahre später damit umgeht. Ebenso müssen alle, deren Entscheidungen durch den Chilcot-Bericht veröffentlicht wurden, die Folgen für ihr Handeln tragen, egal wie diese aussehen mögen.“

Später am gleichen Tag sprach Corbyn vor Familien von Militärangehörigen, von denen viele zuvor leidenschaftlich gefordert hatten, Blair und seine Anhänger anzuklagen. Er entschuldigte sich im Namen der Labour Party für deren Unterstützung des Krieges, nannte aber diejenigen nicht beim Namen, die angeblich das Parlament „getäuscht hatten“ und die jetzt „die Folgen für ihr Handeln tragen müssen.“

Oberflächlich ist Corbyns Schweigen eine Reaktion auf den Versuch von 80 Prozent der Labour-Abgeordneten unter Führung der Blair-Anhänger, ihn als Parteichef abzusetzen.

Das eindeutige Misstrauensvotum am 28. Juni und der Rücktritt der Mehrheit seines Schattenkabinetts sollten Corbyn dazu zwingen, entweder zurückzutreten oder eine Neuwahl des Vorsitzenden anzusetzen. Allerdings genießen seine Gegner an der Basis der Partei keinen Rückhalt, daher würde jeder Kandidat aus ihren Reihen gegen Corbyn verlieren. Ihre Drohungen haben mehr als 200.000 Menschen geradezu dazu animiert, der Partei beizutreten und die Mitgliederzahl mit 600.000 auf den höchsten Stand seit 50 Jahren zu erhöhen.

Laut dem New Statesman wurde dieser Wert erreicht, nachdem „an zwei Tagen in Folge mehr als 100.000 Menschen einen Antrag auf Aufnahme gestellt hatten.“ Die große Mehrheit der neuen und der alten Mitglieder unterstützt Corbyn.

Die Befürworter von Corbyns Rücktritt konnten sich hingegen damit rühmen, dass ihre Initiative „Saving Labour“ von bekannten Prominenten wie der Schriftstellerin JK Rowling unterstützt wurde. Sie präsentierten eine Reihe von Labour-„Granden“ wie Alastair Campbell, Jack Straw, Peter Mandelson und sogar Blair selbst, die allesamt aus dem Irakkrieg Blut an den Händen haben.

Wie üblich weigerten sich Corbyn, sein Schattenkanzler John McDonnell und ihre Untersützer in der Momentum-Gruppe, gegen ihre Gegner zu mobilisieren. Stattdessen betonte er wieder seinen Wunsch, die Einheit der Partei zu wahren.

Zu diesem Zweck hat Len McCluskey, der Vorsitzende der größten britischen Gewerkschaft Unite, die auch der wichtigste finanzielle Unterstützer der Labour Party ist, „Friedensverhandlungen“ mit den Blair-Anhängern organisiert. Diese Verhandlungen über eine Einigung und die Abwendung der angedrohten Abspaltung von Corbyns Gegnern begannen einen Tag vor der Parlamentssitzung zu Chilcots Bericht. Der Daily Telegraph schrieb, dass sich die „Labour-Rebellen auf dem Rückzug befinden, nachdem sie zugeben mussten, dass Jeremy Corbyn nicht abgesetzt werden kann und eine Neuwahl zum Parteichef ‚locker’ gewinnen würde.“

Der Telegraph schrieb außerdem, einer der größten Einzelspender der Labour Party, Assem Allam, habe den Labour-Abgeordneten Millionen Pfund als Unterstützung bei der Gründung einer neuen Partei angeboten. Der Telegraph schrieb, in diesem Jahr hätten bereits 310 große Spender den „Thousand Club“, die Vereinigung der großen finanziellen Unterstützer, verlassen. 86 Prozent davon würden die Führung als Grund angeben.

Laut dem Guardian, der sich zu einer Pinwand für die Putschisten gemacht hat, „erklärte eine Quelle aus den Diskussionen, der Prozess könnte zum Rücktritt Corbyns vor der Unterhauswahl 2020 führen, allerdings dürfe es keine Vorbedingungen geben.“

Erst im Mai erklärte ein Sprecher Corbyns, er stehe zu allem, was er während des Wahlkampfs um den Parteivorsitz darüber gesagt hatte, ob Blair wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden sollte: „Wenn er Kriegsverbrechen begangen hat, ja. Jeder, der ein Kriegsverbrechen begangen hat, sollte angeklagt werden… Ich glaube, es war ein völkerrechtswidriger Krieg, da bin ich mir sicher. Kofi Annan hat bestätigt, dass er völkerrechtswidrig war und deshalb muss er sich dafür rechtfertigen.“

Doch als Chilcots Bericht veröffentlicht wurde, schwieg Corbyn.

Ganz oberflächlich gesagt, ist es einer „Verhandlungslösung“ abträglich, wenn man den Anführer seiner Gegner als Kriegsverbrecher brandmarkt. Noch wichtiger ist jedoch, dass die Medien die Darstellung des Irakkriegs am liebsten auf die lächerliche Behauptung reduzieren würden, Blairs Lügen hätten alle Abgeordneten bis auf 84 Labour-Abgeordnete dazu gebracht, den Krieg zu unterstützen. In Wahrheit waren Blairs Lügen für Millionen Menschen offensichtlich. Das Parlament und die Labour Party haben für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gestimmt, weil sie mit Blair einer Meinung waren: die USA zu unterstützen war von größter strategischer Bedeutung für Großbritanniens herrschende Elite.

Als Corbyn am Rednerpult stand und den Irakkrieg einen „Akt militärischer Aggression unter falschem Vorwand“ nannte, tat er das als Vorsitzender einer Pro-Kriegspartei, die seit mehr als einem Jahrhundert eine der wichtigsten politischen Stützen des britischen Imperialismus ist. Hinter ihm saßen seine Gegner, von denen laut einer Analyse von Middle East Eye fast alle, die lange genug im Parlament saßen, entweder 2003 für den Irakkrieg oder gegen die Einsetzung der Chilcot-Auschusses gestimmt hatten.

Deshalb musste sich Corbyn von Ian Austin, dem Labour-Abgeordneten für Dudley North, mit „setzen Sie sich hin und halten sie die Klappe“ und „Sie sind eine Schande“ abkanzeln lassen. Die Abgeordnete der Scottish National Party Deidre Brock schrieb: „Von den Labour-Hinterbänklern kommt Kopfschütteln und unzufriedenes Stöhnen, während Corbyn sich zu Chilcot äußert.“

Newsweek fragte am Donnerstag: „Wie wird sich der Chilcot-Bericht für die Labour Party auswirken?“

Sie schrieb, ein Großteil der Labour-Basis teile „Corbyns tiefe Antipathie gegenüber Blair. Daher ist es unmöglich geworden, dass jemand Parteichef wird, wenn er sich als Blair-Anhänger zu erkennen gibt. Liz Kendall musste das letztes Jahr bei der Wahl des Vorsitzenden erfahren. Selbst eine lose Verbindung kann schädlich sein.“

Aber genau diese Kräfte diktieren, was in der Labour Party passiert: Es sind Lakaien des Großkapitals, die nachweislich mit den britischen und amerikanischen Geheimdiensten zusammenarbeiten, die von ihren eigenen Parteimitgliedern und der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung verachtet werden. Die Reaktion auf den Chilcot-Bericht bestätigt, dass alle Versuche, eine solche Partei in ein Werkzeug zur Verteidigung der arbeitenden Bevölkerung und für den Kampf gegen Militarismus und Krieg zu verwandeln, zum Scheitern verurteilt sind. Eine echte Bewegung gegen den Krieg muss vielmehr im unerbittlichen Widerstand gegen Labour und die Gewerkschaften stehen, die Corbyn loyal verteidigen.

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