Anstieg der Arbeitshetze in Deutschland

Die Arbeitsbedingungen in Deutschland haben sich in den letzten Jahren erheblich verschlechtert. Arbeit am Abend, in der Nacht und am Wochenende sowie bezahlte und unbezahlte Überstunden häufen sich. Stress und Hetze nehmen zu. Das geht aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums unter Andrea Nahles (SPD) auf eine Anfrage der Linken-Fraktion hervor.

So muss knapp ein Viertel der abhängig Beschäftigten regelmäßig nach 18 Uhr arbeiten. Die Zahl der am Abend Arbeitenden ist in den letzten zwanzig Jahren von 5 auf 8,8 Millionen gestiegen, die der Nachtarbeiter (zwischen 23 und 6 Uhr) von 2,4 auf 3,3 Millionen. Prozentual ist ihr Anteil allerdings etwa gleich geblieben, da sich in diesem Zeitraum die Zahl der abhängig Beschäftigten deutlich erhöht hat.

Andres verhält es sich bei der Wochenendarbeit. Hier ist nicht nur die absolute Zahl, sondern auch der prozentuale Anteil deutlich gestiegen. Arbeiteten 1995 noch 6 Millionen abhängig Beschäftigte oder 18,8 Prozent regelmäßig am Wochenende und an Feiertagen, waren es 2015 bereits 8,8 Millionen oder 24,7 Prozent, d.h. jeder Vierte. Frauen waren mit 4,7 Millionen deutlich häufiger betroffen als Männer mit 4,2 Millionen.

Auch die Zahl der Schichtarbeiterinnen und -arbeiter hat zugenommen, von 3,8 Millionen 1995 auf 5,6 Millionen 2015. Die Zahl der betroffenen Frauen verdoppelte sich von 1,3 auf 2,5 Millionen.

Stark angestiegen ist auch die Zahl jener, die länger arbeiten, als sie vertraglich müssten. Arbeiteten vor zwanzig Jahren 1,3 Millionen oder 4,2 Prozent der damals 32 Millionen abhängig Beschäftigten mehr als 48 Stunden pro Woche, waren es im letzten Jahr 1,7 Millionen oder 4,8 Prozent von knapp 36 Millionen Beschäftigten.

Die Zahlen der Bundesregierung stützen sich auf Statistiken des Instituts für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit und auf die Daten des Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erhebt in einer repräsentativen Befragung für seinen „DGB-Index Gute Arbeit“ regelmäßig eigene Zahlen. Sie weichen von denen der Bundesregierung ab, da sie auch Bereitschaftszeiten berücksichtigen.

Laut den Zahlen des DGB arbeiten aktuell 60 Prozent aller Arbeiter regelmäßig mehr als in ihren Arbeitsverträgen vereinbart ist. Fast jeder Vierte arbeitet mehr als 45 Stunden pro Woche und jeder Sechste mehr als 48 Stunden. Rund 70 Prozent, die mehr als 45 Stunden arbeiten, fühlen sich „bei der Arbeit gehetzt oder stehen unter Zeitdruck“. Ein Drittel gibt an, Überstunden seien oft unbezahlt.

Das IAB der Bundesagentur für Arbeit zählte im vergangenen Jahr 997 Millionen unbezahlte und 816 Millionen bezahlte Überstunden, zusammen also 1,8 Milliarden. Das entspricht 860.000 Vollzeitstellen.

Doch während die Zahl der Überstunden steigt, geht die Vollzeitbeschäftigung zurück. Das Arbeitsvolumen aller abhängig Beschäftigten ist seit 1995 relativ stabil geblieben, ihre Zahl dagegen gestiegen. Mit anderen Worten: die gleiche Menge Arbeit wird – sehr ungleich – auf mehr Menschen verteilt. Während die einen immer mehr arbeiten müssen, verharren Millionen in Teilzeitjobs, die ihnen kein angemessenes Einkommen garantieren.

Die Zahlen der Bundesregierung und des DGB zeigen, dass die sozialen Reformen, die sich die Arbeiterklasse in den 1950er und 1960er Jahren erkämpfte – der Acht-Stundentag, die Fünf-Tagewoche, bezahlte Überstunden, Wochenendzuschläge, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, usw. – bereits weitgehend zerstört sind. Junge Männer und Frauen, die heute ins Arbeitsleben eintreten, finden wieder Bedingungen vor, wie im Frühkapitalismus – wenn sie überhaupt einen Job finden.

Die Gewerkschaften, die einst unter Parolen wie „Am Samstag gehört Papi mir“ für den freien Samstag und die 35-Stunden-Woche kämpften, sind federführend am Abbau früherer Errungenschaften beteiligt. Die „Agenda 2010“ der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, die die Schleusen für Niedriglohnarbeit und Sozialabbau öffnete, wäre ohne ihre tatkräftige Unterstützung nicht möglich gewesen. Peter Hartz, der den Hartz-Gesetzen den Namen gab, verkörperte in seiner Person die Verschmelzung von SPD, Gewerkschaften und Kapital. Er war gleichzeitig Mitglied der SPD, der IG Metall und des VW-Vorstands.

Dabei ist der Abbau sozialer Errungenschaften noch lange nicht zu Ende. Die Unternehmerverbände verlangen seit längerer Zeit, dass der Acht-Stunden-Tag nicht nur de facto, sondern auch juristisch abgeschafft wird und dass die entsprechenden Gesetze weiter aufgeweicht werden.

„Das Arbeitszeitgesetz muss schnell an die Veränderungen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft angepasst werden“, erklärte kürzlich der Chef des Arbeitgeberverbands Südwestmetall, Stefan Wolf. Er wandte sich gegen den Acht-Stundentag und gegen die vorgeschriebenen elf Stunden Pause zwischen zwei Arbeitstagen. „Ein zeitgemäßes Arbeitszeitgesetz würde zum Beispiel eine Höchstarbeitszeit innerhalb einer Woche definieren, die der Mitarbeiter in Absprache mit dem Arbeitgeber dann individuell auf die Woche verteilen kann“, schlug Wolf vor.

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) unterstützt die von den Konzernen geforderte Flexibilisierung. Sie hatte sich im Juni in der Frankfurter Allgemeine Zeitung für eine Lockerung der gesetzlichen Arbeitszeitvorschriften ausgesprochen. Sie möchte, dass diese dann nicht mehr gesetzlich, sondern in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen geregelt werden.

Für die Beschäftigten brächte das keine Verbesserung, wohl aber für die Gewerkschaftfunktionäre und Betriebsräte. Sie wären bei einer betrieblich oder tariflich vereinbarten Flexibilisierung mit im Boot, behielten ihre persönlichen Pfründe und könnten den Konzernen als Betriebspolizei von nutzen sein, die jeden Widerstand gegen die Angriffe im Keim erstickt. Aus diesem Grund appellieren die Gewerkschaften an Bundesarbeitsministerin Nahles, ihre Mitarbeit bei der weiteren Flexibilisierung gesetzlich festzuschreiben.

Eine weitere Folge der Flexibilisierung der Arbeitswelt ist die wachsende Altersarmut, da die Beiträge zur Renten- und Sozialversicherung entsprechend sinken. Die ersten Wellen werden bereits sichtbar. Aktuell arbeiten laut Arbeitsministerium knapp 6 Prozent der über 65-Jährigen in einem Minijob. Das sind fast eine Million Menschen, 22 Prozent mehr als 2010. Bei den über 75-Jährigen stieg die Zahl der Minijobber seit 2010 sogar um 57 Prozent.

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