Der Ausnahmezustand in Frankreich und die Zuspitzung des Klassenkampfs in Europa

Wahlveranstaltung der PSG in Berlin-Wedding

Am Sonntag führte die Partei für Soziale Gleichheit (PSG) in Berlin-Wedding ihre vierte Veranstaltung im Rahmen des Wahlkampfs um das Abgeordnetenhaus durch. Als Redner hatte die PSG Alex Lantier, den Vertreter des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Frankreich, eingeladen, der direkt aus Paris nach Berlin gekommen war.

Christoph Vandreier, der stellvertretende Parteivorsitzende der PSG und einer ihrer Kandidaten bei der Berlin-Wahl, begrüßte ihn mit den Worten: „Könnte es ein aktuelleres Thema geben, heute, an diesem 15. Jahrestag von 9/11, den Terroranschlägen vom 11. September 2011 in den USA? Seit damals wurde die Kriegspolitik weltweit verschärft. Sie ist mit massiven Angriffen auf die Arbeiterklasse verbunden. Die Erfahrungen der französischen Arbeiter sind von größter Bedeutung für die Arbeiter hier in Berlin, in ganz Europa und weltweit.“

In Frankreich werde gegenwärtig wie in kaum einem anderen Land deutlich, dass die Kriegsentwicklung und die damit verbundenen sozialen Angriffe auf die Arbeiterklasse nicht mit demokratischen Rechten vereinbar seien. Der Ausnahmezustand, der von der Hollande-Regierung bereits mehrfach verlängert worden sei, richte sich gegen Streiks und Proteste der Arbeiter, die gegen das verhasste Arbeitsgesetz kämpften.

Der Ausnahmezustand in Frankreich und die Zuspitzung des Klassenkampfs in Europa

Alex Lantier begann seinen Vortrag mit einer Schilderung der Terroranschläge vom 13. November 2015 in Paris, bei denen 130 Menschen getötet wurden. Er machte darauf aufmerksam, dass mehrere Attentäter der Polizei bekannt waren und in den Wochen vor den Anschlägen unbehelligt nach Frankreich und über die Schengengrenze ein- und ausreisen konnten.

Unmittelbar nach den Anschlägen verhängte die Regierung der Sozialistischen Partei (PS) unter Präsident François Hollande den Ausnahmezustand und setzte damit grundlegende demokratische Rechte wie das Demonstrationsrecht und die Versammlungsfreiheit außer Kraft. Die Notstandsgesetze wurden nahezu einstimmig von der Nationalversammlung beschlossen und sind bis heute in Kraft. Bezeichnenderweise stimmten alle Abgeordneten der pseudolinken Linksfront von Jean-Luc Mélenchon bei der ersten Abstimmung im November für die Notstandsgesetze.

Die Linksfront ist die Schwesterorganisation der deutschen Linkspartei. Lantier präsentierte während seines Vortrags ein Foto, das den französischen Linksfrontchef Mèlenchon neben Oskar Lafontaine zeigt, dem ehemaligen Vorsitzenden der Linkspartei. Beide sind seit vielen Jahren eng befreundet.

Lantier betonte: „Der Ausnahmezustand richtete sich nicht gegen den Islamischen Staat, sondern gegen die muslimische Bevölkerung und die Arbeiterklasse in Frankreich“. Er präsentierte eine Statistik des französischen Innenministeriums vom Januar. Danach wurden 3021 Hausdurchsuchungen durchgeführt, aber es kam nur zu einer einzigen gerichtlichen Anklage wegen Terrorismus.

Tausende Wohnungen von muslimischen Familien wurden durchsucht. Für dabei entstandene Beschädigungen wie eingetretene Türen wurde kein Schadensersatz geleistet. Umweltschützer, die beim Klimagipfel in Paris protestieren wollten, wurden unter Hausarrest gestellt. Im Dezember wurden streikende Sodexo-Arbeiter entlassen und Arbeiter von Goodyear zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Die Einschränkung demokratischer Rechte durch den Ausnahmezustand fiel zusammen mit der Verabschiedung des verhassten Arbeitsgesetzes, benannt nach Arbeitsministerin El Khomri, durch die PS-Regierung. Dieses Gesetzespaket wurde zusammen mit Peter Hartz, dem Verfasser der berüchtigten Hartz-Gesetze, und der SPD ausgearbeitet. Es verlängert die Arbeitszeit, verschlechtert die Arbeitsbedingungen und setzt grundlegende Rechte der französischen Arbeiter außer Kraft.

Mit seinem Versuch, den Entzug der französischen Staatsangehörigkeit in der Verfassung zu verankern, knüpfte Präsident Hollande an die faschistischen Gesetze des Vichy-Regimes an.

Lantier zeigte auf, dass die weit fortgeschrittenen Maßnahmen zum Aufbau eines Polizeistaats und zur Errichtung einer Diktatur in Frankreich Ausdruck der tiefen Krise des Kapitalismus sind und der Vorbereitung auf explosive Klassenkämpfe in Frankreich und ganz Europa dienen.

Anschaulich schilderte er die massive Protestbewegung im Frühjahr. Seit März hatten immer wieder Millionen Arbeiter und Jugendliche gegen das El Khomri-Gesetz demonstriert. Am 31. März beteiligten sich 1,2 Millionen an landesweiten Protestmärschen. Am 5. April wurden 130 Protestierende verhaftet. Am 15. Juni drohte Ministerpräsident Valls, Proteste gegen das Arbeitsgesetz zu verbieten. Er machte damit absolut klar, dass sich die Notstandsgesetze gegen die Arbeiterklasse richten.

Lantier arbeitete in seinem Vortrag die Rolle der pseudolinken Organisationen und von deren akademischen Stichwortgebern heraus, die eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung der Notstandsmaßnahmen und den Diktaturvorbereitungen gegen die Arbeiterklasse spielen. Parteien wie die Neue Antikapitalistische Partei (NPA), die Linksfront in Frankreich oder die Linkspartei in Deutschland sind bürgerliche Parteien, die das kapitalistische System verteidigen und von „links“ abstützen. Sie vertreten die Interessen einer wohlhabenden Schicht des Kleinbürgertums, die der Arbeiterklasse feindlich gegenübersteht und bereit ist, alles zu tun, um eine revolutionäre Entwicklung zu verhindern.

Lantier beendete seinen Beitrag mit einem Aufruf zum Aufbau einer internationalen Bewegung gegen Krieg. Der wichtigste Verbündete der Arbeiter und Jugendlichen in Frankreich gegen die reaktionäre Politik der Hollande-Regierung seien die Arbeiter und Jugendlichen in Deutschland und allen anderen Ländern. „Im Kampf für Sozialismus, gegen Austerität, Krieg und Angriffe auf demokratische Rechte treten die PSG und die Unterstützer des IKVI in Frankreich für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa ein.“

Im Anschluss an den Vortrag von Alex Lantier entwickelte sich eine lebhafte Diskussion, vor allem über die Rolle der Linkspartei.

Ein Besucher, der früher in der DDR gelebt und gearbeitet hatte, sagte, er sei auf die PSG gestoßen, als er im Internet die Worte „Krieg“ und „Deutschland“ eingegeben habe. Daraufhin seien mehrere Artikel gegen Krieg erschienen, und deswegen sei er zur Veranstaltung gekommen. Er stellte die Frage, ob sich angesichts der weit fortgeschrittenen Kriegsentwicklung die PSG nicht mit Vertretern der Linkspartei wie Bodo Ramelow oder Sahra Wagenknecht zusammenschließen müsse, um politisch nicht isoliert zu sein. Die Vierte Internationale sei ja noch nicht im Massenbewusstsein verankert.

Andy Niklaus, der im Wedding lebt und im Berliner Wahlkreis 7 als Direktkandidat der PSG zur Wahl steht, erwiderte: „Wie kann man mit einer Partei zusammengehen, die General Kujat zu ihrer Klausurtagung einlädt? Wir stoßen mit unserer Wahlkampagne und dem Kampf gegen Krieg, den wir in den Mittelpunkt gestellt haben, auf große Resonanz.“ Es gebe eine wachsende Opposition gegen Krieg und Sozialabbau in der Arbeiterklasse. Die werde aber von den Gewerkschaften, der Linkspartei und deren pseudolinken Unterstützer systematisch unterdrückt. Nur im Kampf gegen diese Kräfte sei es möglich, die Arbeiterklasse zu mobilisieren.

Niklaus berichtete, dass er seit 25 Jahren bei der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) arbeite, und schilderte die Rolle von Verdi, die in Zusammenarbeit mit SPD und Linkspartei massive Lohnsenkungen und verschlechterte Arbeitsbedingung durchgesetzt habe. Im Rahmen des Wahlkampfs habe er einen Aufruf an seine Arbeitskollegen bei der BVG und alle Berliner Arbeiter geschrieben, sich unabhängig von Verdi und den anderen Gewerkschaften zu organisieren und Betriebsgruppen der PSG aufzubauen.

Alex Lantier griff auch in die Diskussion ein: „Wir haben noch keine Massenorganisation in Frankreich, aber trotzdem fühle ich mich nicht isoliert. Die PS von Francois Hollande ist isoliert. Viele Arbeiter sind der gleichen Meinung. Würden wir bei der NPA oder der Linksfront nach Verbündeten suchen, würden wir uns von der Arbeiterklasse isolieren. Es gibt in der französischen Arbeiterklasse keine Unterstützung für die Rechtfertigung des Vichy-Regimes, es gibt keine Unterstützung für Kürzungen und keine Unterstützung für Krieg.“

Ulrich Rippert, der Vorsitzende der PSG und Spitzenkandidat bei den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin, sagte in der Diskussion: „Der Vortrag, den wir heute gehört haben, hat sehr deutlich gemacht, dass sich in der französischen Arbeiterklasse eine massive Oppositionsbewegung gegen die PS-Regierung entwickelt hat. Dieser Kampf wurde durch die Gewerkschaften, die stalinistische Kommunistische Partei und all die pseudolinken Organisationen systematisch blockiert. Die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse muss gegen diese Tendenzen erkämpft werden. Darin besteht die Bedeutung des Aufbaus der PSG und einer französischen Sektion des IKVI.“

Rippert schilderte die Rolle der Linkspartei, beziehungsweise ihrer Vorläuferorganisation PDS, die sich vor 25 Jahren, während der Wende für die Einführung kapitalistischer Verhältnisse in der DDR eingesetzt habe. Ihre prokapitalistische Orientierung sei Teil ihrer politischen DNA. Außerdem zeigte er auf, dass die Linkspartei eine Hauptverantwortung für das Anwachsen der AfD spiele. Erstens unterstütze sie Sozialabbau und führe ihn überall dort, wo sie politische Macht ausübe, mit besonderer Härte durch. Damit schaffe sie das Elend, das von rechten Demagogen ausgenutzt werde. Weil sie diese rechte Politik unter linkem Namen durchführe, trage sie auch zur politischen Frustration bei, die den Nährboden für die AfD bilde.

Endrik Bastian, der selbst in der DDR aufgewachsen ist und für die PSG als Direktkandidat im Berliner Wahlkreis Mitte 5 antritt, ging in seinem Beitrag auf die Rolle der Linkspartei und ihrer Vorgängerorganisation PDS ein: „Die PDS und die Linkspartei wurden immer dann in die Regierung geholt, wenn es darum ging, Angriffe gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen, zu denen CDU oder SPD alleine nicht in der Lage gewesen wären.“

Er erinnerte an das Magdeburger Modell, in dem die SPD-Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt von der PDS abgesichert wurde. „Ihre Politik führte zu 20 Prozent Arbeitslosigkeit und der massenweisen Umwandlung von regulären Arbeitsplätzen in Billiglohn-Jobs. Das Magdeburger Modell war der Vorläufer für Hartz IV und weitere Angriffe. Wenn heute wieder davon die Rede ist, die Linkspartei in die Regierung zu holen, ist das eine Warnung für die scharfen Angriffe, die in der nächsten Zeit kommen werden.“

Enrico, 29 Jahre alt, Student der Geschichte und Philosophie an der Uni Potsdam, war zum ersten Mal auf einer Veranstaltung der PSG. Er sagte der WSWS: „Ich fand den Vortrag sehr gut. Es wurde überzeugend nachgewiesen, wie weit fortgeschritten die Entwicklung zu einem Polizeistaat in Frankreich bereits ist und dass sich der Ausnahmezustand vor allem gegen die Arbeiterklasse richtet.

Vieles von dem, was angesprochen wurde, war mir auch schon selbst aufgefallen. Ich habe die Einladung zur Veranstaltung an einem Infostand der PSG erhalten. Ich habe den Eindruck, dass ihr die einzige ernst zu nehmende linke Partei seid. Die brauchen wir tatsächlich. Auch angesichts des Rechtsrucks in Europa.“

Angesprochen auf die Kriegsgefahr sagte er: „Die Aufrüstung gegen Russland und die Entwicklung in der Türkei, das finde ich gruselig.“

Die nächste Veranstaltung am kommenden Donnerstag ist die Wahlabschlussveranstaltung der PSG. Sie steht unter dem Thema „Stimmt gegen Krieg und Militarismus! Wählt PSG!“

Auf dieser Veranstaltung werden Vertreter der Vierten Internationale aus mehreren Ländern und der PSG über ein sozialistisches Programm für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft diskutieren, das den Widerstand gegen Krieg mit dem Kampf gegen soziale Ungleichheit, Staatsaufrüstung und Fremdenfeindlichkeit verbindet.

Donnerstag, den 15. September um 18.00 Uhr in der Ufa-Fabrik, (Theatersaal), Viktoriastraße 10-18, 12105 Berlin.

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