Bundesgerichtshof lehnt Entschädigung für Kundus-Opfer ab

Sieben Jahre nach dem von der Bundeswehr organisierten Luftangriff im afghanischen Kundus, dem über hundert Zivilisten zum Opfer fielen, hat der Bundesgerichtshof Schadenersatzansprüche für Hinterbliebene abgewiesen.

Wie bereits die Vorinstanzen urteilte das Karlsruher Gericht am Donnerstag, dass die Opferfamilien keinen „unmittelbaren völkerrechtlichen Anspruch“ auf Schadensersatz hätten. Derartige Ansprüche könnten nur zwischen Staaten abgewickelt werden.

Zugleich entschied das GH, dass die Kläger auch keinen Schadensersatzanspruch nach nationalem Recht hätten. Das deutsche Amtshaftungsrecht sei grundsätzlich auf „militärische Handlungen der Bundeswehr im Rahmen von Auslandseinsätzen nicht anwendbar“, erklärten die Richter des III. Zivilsenats des BGH.

Schließlich sprachen sie auch den verantwortlichen Kommandeurs des blutigen Massakers an Zivilisten, den Bundeswehroberst und heutigen Brigadegeneral Georg Klein, von jeder Amtspflichtverletzung frei. Seine militärische Entscheidung am 4. September 2009 sei nicht fehlerhaft und „völkerrechtlich zulässig“.

Dieses Urteil hat politisch weitreichende Bedeutung für die militärischen Planungen der Bundesregierung. Es stärkt die Position des Militärs in der Politik und senkt die Hemmschwelle für künftige Verbrechen in Kampfeinsätzen.

In der Nacht zum 4. September 2009 hatte der militärische Leiter des deutschen „Provinz-Wiederaufbau-Teams“ (PRT) in Kundus, Oberst Georg Klein, zwei von Taliban entführte Tanklastwagen von Nato-Kampfjets bombardieren lassen, nachdem diese in einem Flussbett stecken geblieben waren. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich zahlreiche Dorfbewohner um die Tanker versammelt, um kostenlos Benzin abzuzapfen. Der Luftangriff richtete ein entsetzliches Blutbad an, das nach Nato-Angaben rund 140 hauptsächlich zivile Todesopfer, darunter Frauen und Kinder, und viele Schwerverletzte forderte.

Die beiden Kläger in dem Prozess verloren ihre engsten Angehörigen – Abdul Hannan seine beiden Söhne von acht und zwölf Jahren, Qureiha Rauf ihren Mann, der sie mit sechs Kindern allein hinterließ. Sie stehen stellvertretend für 77 weitere Familien, die Klagen eingereicht haben.

Das Gericht erklärte zu den Ereignissen am 4. September 2009, die Anwesenheit von Zivilpersonen im Zielbereich seien „nach Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Aufklärungsmöglichkeiten … objektiv nicht erkennbar“ gewesen, und folgte damit der offiziellen Lesart des Generalbundesanwalts, der bereits wenige Wochen nach dem Ereignis die Ermittlungen eingestellt hatte.

Landes- und Oberlandesgericht hatten zuvor ebenfalls Oberst Klein freigesprochen. Allerdings anerkannten sie, dass völkerrechtswidrige Angriffe auf Zivilisten einen Schadenersatzanspruch gegen Deutschland begründen könnten, wenn eine „schuldhafte Verletzung der Amtspflichten“ des verantwortlichen Soldaten vorliege. Im Falle von Oberst Klein sahen sie trotz vieler gegenteiliger Indizien und Belege ein solches Verschulden nicht.

Das BGH schließt nun einen Tatbestand der „Amtspflichtsverletzung“ bei Kampfhandlungen im Ausland praktisch von vorneherein aus.

Dabei beruft sich das Gericht auf die Vorschriften zum Amtshaftungsrecht im Paragraph 839 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch), die am 1. Januar 1900, noch vor den beiden Weltkriegen, in Kraft traten und deren Wortlaut bis heute gleich geblieben ist. Diese seien nur auf den „normalen Amtsbetrieb“ im Inland zugeschnitten, erläutert der BGH. Die Entscheidungssituation eines Verwaltungsbeamten könne man aber nicht mit der „Gefechtssituation eines im Kampfeinsatz befindlichen Soldaten“ gleichsetzen.

Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs habe „rechtlich außer Frage“ gestanden, dass Kriegshandlungen im Ausland von der Amtshaftung ausgenommen sind, so das Gericht weiter.

Den Verweis der Kläger auf Artikel 34 des Grundgesetzes ließen die Richter nicht gelten. Der „historische Gesetzgeber“ habe bei der Erarbeitung des Grundgesetzes „weder die Aufstellung deutscher Streitkräfte noch deren Beteiligung an Kampfhandlungen im Ausland im Blick“ gehabt, betonen sie. Mit anderen Worten: Dieser Grundgesetzartikel sei nur für Friedenszeiten und nicht für Kriegszeiten relevant.

Damit stellt der BGH die rechtlichen Grundsätze auf den Kopf, die ausdrücklich als Reaktion auf die Kriegsverbrechen der Nazis im Grundgesetz verankert wurden. Im Artikel 34 GG, Satz 1 heißt es: „Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht. Bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit bleibt der Rückgriff vorbehalten. Für den Anspruch auf Schadensersatz und für den Rückgriff darf der ordentliche Rechtsweg nicht ausgeschlossen werden.“

Diese Formulierung basierte auf den Prinzipien, die im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess festgelegt wurden und erstmals ermöglichten, Vertreter eines Staates für seine Taten im In- und Ausland zur Rechenschaft zu ziehen.

Im Fall von Oberst Klein haben die Opferanwälte gestützt auf zahlreiche Recherchen immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass dieser den Befehl zur Bombardierung trotz zahlreicher Warnungen gegeben habe. Schon die Anforderung der Nato-Bomber fußte auf einer Falschmeldung von Oberst Klein, die Bundeswehrsoldaten in Kundus hätten „Feindkontakt“ („troops in contact“). Klein missachtete auch die fünfmalige Nachfrage der amerikanischen Kampfjetpiloten, die zahlreiche Personen um die Tanklastzüge feststellen konnten, ob nicht erst ein Warnflug („show of force“) durchgeführt werden sollte. Außerdem stützte er sich auf einen einzigen Informanten, der sich nicht vor Ort befand, sondern selbst nur Hörensagen weitergab. Dies alles erfüllt zumindest den Tatbestand der „groben Fahrlässigkeit“ nach Artikel 34 GG.

Opfer-Anwalt Karim Popal kündigte nach der Urteilsverkündung vom Donnerstag eine Verfassungsbeschwerde an. Die Anwendbarkeit des Amtshaftungsrechts sei eine verfassungsrechtliche Frage, sagte er, für die der BGH nicht zuständig sei. Im Zweifel wolle er bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gehen.

Das Kundus-Urteil des BGH muss im Zusammenhang zur verstärkten weltweiten Kriegsentwicklung gesehen werden, an der die Bundeswehr in wachsendem Maße beteiligt ist. Das Massaker an Zivilisten in Kundus spielte eine wichtige Rolle in der Rückkehr des deutschen Militarismus. Jede Kritik an der Bundeswehrführung wurde damals scharf zurückgewiesen. Oberst Klein wurde demonstrativ zum Brigadegeneral befördert.

Wenige Jahre später erklärten führende Regierungsvertreter, die Zeit der militärischen Zurückhaltung Deutschlands sei vorbei. Seitdem findet eine rapide militärische Aufrüstung statt. Das Urteil vom Donnerstag ist ein weiterer Schritt, die rechtlichen Fesseln abzuwerfen, die der deutschen Politik in der Vergangenheit aufgrund der Verbrechen der Nazi-Diktatur angelegt waren. Der Vorsitzende Richter Ulrich Herrmann brachte dies unmissverständlich zum Ausdruck. Es gehe darum, erklärte er, die „Bündnisfähigkeit Deutschlands“ und den „außenpolitischen Gestaltungsspielraum“ zu erhalten.

Die Kriegshetzer in den Medien klatschten Beifall. So schrieb die FAZ am Donnerstag: „Die Bundeswehr muss sich hier nichts vorwerfen lassen.“ Dann macht FAZ-Redakteur Reinhard Müller die Opfer für das Massaker verantwortlich. Er behauptet, die deutsche Armee habe es „zunehmend mit Feinden zu tun, die deren menschenrechtsfreundliche Haltung gezielt ausnutzen“. Wenn Kämpfer nicht mehr von Zivilisten zu unterscheiden seien und „Krankenhäuser wie Kathedralen nicht mehr heilig sind, dann steht der Verlierer von vornherein fest“. Die Soldaten müssten „bestens ausgerüstet“ werden und dazu gehöre unbedingt Rechtssicherheit.

Der Jurist Reinhard Müller gehörte vor einem Jahr zu den Journalisten, die sich in den deutschen Medien für einen Kriegseinsatz in Syrien einsetzten. Unter der Überschrift „Gebot der Stunde“ warb er nicht nur für „eine Intervention“ in Syrien, sondern auch für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren.

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