Chomsky in Chicago: Die dünne Suppe der Politik des kleineren Übels

Noam Chomsky, emeritierter Professor der Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und prominenter Kritiker der US-Außenpolitik, hielt am 26. September ein Referat an der Universität von Chicago. Der Titel der Vorlesung lautete „Über Macht und Ideologie“ und wurde unter Federführung von Haymarket Books, dem Verlag der pseudolinken International Socialist Organization (ISO) organisiert.

Die Veranstaltung stieß zwar auf großes Interesse. Doch jeder, der eine Antwort auf die großen Probleme der Menschheit suchte, speziell die Gefahr eines Weltkriegs zwischen den Atommächten, dem wurde nichts anderes geboten als die völlig bankrotte Strategie, das „kleinere von zwei Übeln“, sprich die Demokratische Partei, zu unterstützen.

Die Veranstaltung, die am selben Abend wie die erste Präsidentschaftsdebatte zwischen Hillary Clinton und Donald Trump stattfand, zog eine große Zahl von jungen Menschen an. Die Eintrittskarten waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Berichten zufolge waren 1.800 Teilnehmer bei der Veranstaltung anwesend, und mehr als 1.000 haben sich im Internet den Livestream angesehen.

Anthony Arnove, Mitglied der Gruppe ISO und der Redaktionsleitung ihrer Zeitschrift International Socialist Review sowie ihres Verlags Haymarket Books, stellte Chomsky vor und sagte: „Er verkörpert wie kein anderer, was Solidarität bedeutet.“ Die Frage, Solidarität mit wem oder mit welcher Klasse, wurde nicht weiter ausgeführt.

Chomsky begann seine Vorlesung mit der Feststellung: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit muss eine grundlegende Entscheidung getroffen werden: Wird es auch weiterhin organisiertes menschliches Leben auf diesem Planeten geben oder nicht. Und diese Frage stellt sich nicht in irgendeiner fernen Zukunft, sondern in naher Zukunft.“

Chomsky erklärte, die zwei Hauptbedrohungen für das „menschenwürdige Überleben“ seien ein Atomkrieg und eine Umweltkatastrophe. Chomsky kritisierte zwar bestimmte Aspekte der US-Außen- und Umweltpolitik. Er versuchte aber gleichzeitig ständig die Republikanische Partei im Allgemeinen und Trump im Besonderen als größere Bedrohung darzustellen als Clinton und die Demokratische Partei. Er erklärte: „In Anbetracht dessen, was auf dem Spiel steht, ist man berechtigt zu fragen, ob es jemals eine gefährlichere Organisation gegeben hat als die heutige Republikanische Partei.“

Angesichts der wachsenden Desillusionierung mit der Demokratischen Partei unter Millionen von Arbeitern und Jugendlichen, die acht Jahre lang unter der Ägide der Regierung Obama nichts anderes erlebt haben als permanenten Krieg und sinkenden Lebensstandard, setzt Chomsky sein Ansehen als „Linker“ ein, um einen Bruch mit den Demokraten um jeden Preis zu verhindern. Mit diesen Bemühungen liegt er auf einer Linie mit Bernie Sanders. Dieser bereist zur Zeit das Land, um unter seinen früheren Anhängern Unterstützung für Clinton zu organisieren, die von breiten Schichten wegen ihrer Nähe zur Wall Street und ihrer Kriegshetze verachtet wird.

In seinen Ausführungen erwähnte Chomsky die Gefahr, die die globale Erwärmung darstellt, um in erster Linie zur Unterstützung für Clinton aufzufordern. Er erklärte: „Wir können eine Menge tun gegen den Bau von Kohlekraftwerken in den Vereinigten Staaten. Und tatsächlich tut sich in ein paar Wochen die Möglichkeit auf, in dieser Frage eine eindeutige Wahl zu treffen. Wir haben die Wahl zwischen einer Präsidentschaftskandidatin, die diese zerstörerische Technik auslaufen lassen will, und einem Kandidaten, der fordert, dieses zerstörerische Rennen zu beschleunigen.“

Chomskys Behauptung, man müsse Clinton Trump vorziehen, weil sie im Wahlkampf verspricht, die Kohle „auslaufen zu lassen“, wäre lächerlich, wenn sie nicht so heimtückisch wäre. Diese Behauptung verfälscht die lange Geschichte der Demokratischen Partei, die auf Schritt und Tritt die Profitinteressen der Energiekonzerne gegen das Bedürfnis der Weltbevölkerung für eine gesunde Umwelt verteidigt hat.

Wichtiger ist, dass Chomsky dann die Gefahr eines Atomkriegs ansprach. Er erklärte. „Die militärische Dimension, die das wachsende Potential für einen Atomkrieg beinhaltet, entfaltet sich vor allem an der russischen Grenze. Und es gibt einen zweiten Gefahrenpunkt vor der Küste Chinas.“

Chomsky schreibt zwar die Gefahr eines Kriegs mit Russland „zu einem wesentlichen Teil“ der Ausdehnung der Nato zu. Er vermeidet jedoch durchweg, seine Einschätzung der Kriegsgefahr, die unter der Regierung Obama exponentiell gewachsen ist, mit seiner Unterstützung für Obama bei den vorherigen Wahlen und für Clinton bei den derzeitigen Wahlen in Einklang zu bringen.

Um Trump als das „größere Übel“ darzustellen, schweigt Chomsky faktisch über Clintons ausdrückliche Unterstützung für eine „Flugverbotszone“ in Syrien, die Bombardierung der Armee von Baschar al-Assad oder die reaktionäre Kampagne der Demokratischen Partei und der Medien, mit der Russland als „Unrechtsstaat“ dargestellt wird. Und genauso wenig erwähnt er Clintons Unterstützung für den Irak-Krieg, den er erst kürzlich in seinem neusten Buch als „das große Verbrechen des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet hat.

In Wirklichkeit wird Chomskys Behauptung, die Demokratische Partei sei das „kleinere Übel“, durch die folgenden Tatsachen zunichte gemacht: die dramatische Eskalation der US-Provokationen unter der Obama-Regierung gegen Russland und China, die Pläne für eine noch waghalsigere Kriegspolitik unter einer eventuellen Clinton-Präsidentschaft und die Unterstützung des nahezu gesamten Establishments aus Außenpolitik, Militär und Geheimdiensten für Clinton.

Obwohl Chomsky die mottenzerfressene Strategie des „kleineren Übels“ schon seit Jahren immer wieder aufwärmt (speziell seit Beginn des Präsidentschaftsrennens zwischen dem Demokraten John Kerry und dem Republikaner George W. Bush), klingen seine Argumente in dem Artikel „Eine Acht-Punkte-Begründung für LEV“ (Lesser Evil Voting = Wahl des kleineren Übels) vom 15. Juni dieses Jahr besonders erbärmlich.

(Dem Artikel ist eine Notiz vorangestellt, die einen Hinweis auf die Feindseligkeit gibt, die dieser Artikel hervorgerufen hat, und auf Chomskys Gleichgültigkeit gegenüber dem weit verbreiteten Hass auf das Zwei-Parteien-System. Die Notiz lautet: „Professor Chomsky bittet darum, bezüglich dieses Artikels nicht kontaktiert zu werden.“)

Chomsky und sein Mitverfasser, John Halle, jonglieren mit Begriffen wie „ethisch/moralische Prinzipien“ und „strategische Kosten-Nutzen-Bilanz“. Es werden sophistische Argumente benutzt, um Arbeiter und Jugendliche unter Druck zu setzen, die Demokratische Partei zu wählen.

Sie zählen einige der rechten Vorschläge von Trump auf und kommen, ohne etwas über die Geschichte und die Politik von Clinton zu sagen, zu der Schlussfolgerung: „Das Leiden, das diese und ähnliche extremistische politische Maßnahmen [von Trump] für benachteiligte und unterdrückte Bevölkerungsgruppen bedeuten wird, mit hoher Wahrscheinlichkeit wesentlich größer ist, als das, welches sich aus einer Präsidentschaft Clintons ergeben wird.“

Wie die WSWS wiederholt erklärt hat, ist die Wahlkampagne von Trump keine vereinzelte Verirrung, sondern Ausdruck eines extremen Rechtsrucks des gesamten politischen Establishments. Er hängt zusammen mit dem Niedergang des US-Imperialismus und der Tatsache, dass die Bourgeoisie auf immer reaktionärere und kriminellere Methoden zurückgreift. Eine Wahlempfehlung für Clinton bedeutet, Arbeiter und Jugendliche über diese Wirklichkeit hinwegzutäuschen und die Vertuschung der katastrophalen Kriegspläne zu erleichtern, die sie und die Demokratische Partei vorbereiten.

Die arbeiterfeindliche Politik einer Clinton-Präsidentschaft würde darüber hinaus nur die Bedingungen für Trump oder irgendeinen anderen Demagogen schaffen, der die soziale Unzufriedenheit ausnutzt und sie in eine faschistische Richtung lenkt. Derselbe Prozess findet überall in Europa statt, wo Parteien wie Le Pens Front National die soziale Katastrophe, die von den offiziellen „Linken“ angerichtet wurde, für sich nutzbar machen.

In der Einleitung zu ihrer „Begründung“ behaupten Chomsky und sein Mitautor selbstgefällig: „Das grundlegende moralische Prinzip, um das es hier geht, ist einfach: Wir müssen nicht nur die Verantwortung für unsere Taten übernehmen, sondern die Folgen unserer Taten für andere sind eine viel wichtigere Überlegung, als mit sich selbst zufrieden zu sein.“ Mit anderen Worten, wenn man sich traut, eine politische Alternative zu den rechten Kriegshetzern zu wählen, dann ist man nur egoistisch.

Das ist durch und durch fadenscheinig. Die einzigen „Folgen“, für die sich Chomsky oder andere verantwortlich fühlen würden, sind die einer Präsidentschaft von Trump. Chomsky weigert sich jedoch, Verantwortung für die Politik von Obama zu übernehmen, den er wiederholt unterstützt hat, oder für eine zukünftige Präsidentschaft von Clinton.

Chomsky, sein Leben lang Anarchist und ausdrücklicher Gegner des Marxismus und der russischen Revolution, ist ein Vertreter der Intelligenz des oberen Kleinbürgertums, der stetig nach rechts gerückt ist, speziell nach dem Ende der Anti-Kriegsproteste in den 1970er-Jahren und dann mit zunehmender Geschwindigkeit nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991.

Chomsky mag hin und wieder die Heucheleien und Unaufrichtigkeiten, die zur Begründung der US-Militärintervention gegeben werden, feststellen, dennoch ist er unfähig, eine politisch konsequente Opposition gegen den Imperialismus zu vertreten. Der Grund dafür liegt in erster Linie in seiner Feindschaft gegen den Marxismus und dessen wissenschaftliche, historisch begründete Analyse des Kapitalismus als eigentliche Ursache für den Krieg.

An Chomskys Auftritt in Chicago gibt es noch eine nicht unerhebliche Tatsache zu beachten: der Gastgeber war die ISO. Die ISO gehört zu den glühendsten Verfechtern einer Konfrontation des US-Militärs mit dem Assad-Regime in Syrien und mit Russland. Obwohl die ISO behauptet, sie sei gegen das Argument des „kleineren Übels“ und unterstütze formell die Kandidatin der Grünen, Jill Stein, fungiert sie in Wirklichkeit als Teil der Demokratischen Partei. Sie hat wiederholt die betrügerische „Menschenrechts“-Rechtfertigung für die US-Militärinterventionen in Libyen, Syrien und anderswo verbreitet. Außerdem spielt sie eine Schlüsselrolle bei der Vertuschung der Pläne der Demokratischen Partei für neue und noch katastrophalere Kriege. Zu diesen Lügen und dieser politischen Bilanz hat Chomsky absolut nichts zu sagen.

Professor Chomsky ist grundsätzlich gegen jede Infragestellung des Zwei-Parteien-Systems und fällt deshalb vor dem politischen Establishment auf die Knie. Sein Aufruf für „das kleinere Übel“ zu stimmen, indem er darauf drängt, im November Clinton zu wählen, stempelt ihn zum Anhänger der Demokratischen Partei und macht ihn mitverantwortlich für die Verbrechen, die sie verübt hat und vorbereitet.

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