Türkei kritisiert amerikanische Mossul-Offensive und erhebt Ansprüche auf dem Balkan

Der von den USA gelenkte Angriff auf Mossul heizt die explosiven Spannungen innerhalb der Türkei und in den türkischen Beziehungen zu den imperialistischen Großmächten weiter an. Auch die Spätfolgen des gescheiterten Putsches gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan im Juli tragen dazu bei. Die amerikanische Regierung und die Europäische Union (EU) hatten den Putsch unterstützt.

Um seine wacklige Position als Präsident zu festigen, stachelt Erdogan nationalistische Stimmungen an. Er behält sich quasi das Recht vor, im Bereich des gesamten ehemaligen Osmanischen Reichs militärisch zu intervenieren. In mehreren aggressiven Reden hat er territoriale Ansprüche im Nahen Osten, im Kaukasus und – besonders brisant – auf dem Balkan angemeldet. Griechische Politiker reagierten darauf äußerst ungehalten. Griechenland hatte im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert darüber drei Kriege mit der Türkei geführt und war 1974 nahe daran, wegen der türkischen Invasion auf Zypern einen vierten auszulösen.

Bei einer Rede in Istanbul am 17. Oktober griff Erdogan Washington an, weil es die Türkei an einer Beteiligung am Angriff auf Mossul hindere. Washington stützt sich bei dieser Offensive auf kurdische Milizen, denen die türkische Regierung sehr feindlich gesonnen ist. Außerdem nimmt die Türkei es den Vereinigten Staaten übel, dass sie dem Führer der Gülen-Bewegung, Fethulla Gülen, Aufenthalt in den USA gewährt. Erdogan beschuldigt Gülen, der Drahtzieher des Putschs vom Juli zu sein.

„In Mossul sind schon Operationen im Gang“, erklärte Erdogan. „Was sagen sie uns? Sie sagen: ‚Die Türkei soll sich aus Mossul heraushalten.‘ Wie komme ich dazu, mich aus Mossul herauszuhalten? Ich habe eine 350 Kilometer lange Grenze mit dem Irak und werde von jenseits der Grenze bedroht … Die Türkei wird sich an der Operation in Mossul beteiligen, und wir werden mit am Tisch sitzen. Es kommt gar nicht in Frage, dass wir uns da heraushalten. Wir haben eine Geschichte in Mossul.“

Erdogan hatte Washington auch schon in einer Rede am 14. Oktober heftig kritisiert, weil es sich in Mossul auf kurdische Milizen stütze: „Schande über Euch! Sind die kurdischen PYD/YPG-Milizen euer Nato-Partner, oder ist es die Türkei? Wenn es die Türkei ist, dann müsst ihr euch mit uns an einen Tisch setzen und mit uns gemeinsam handeln.“

In Istanbul beschuldigte Erdogan die amerikanische Regierung wegen ihrer Allianz mit Gülen auch der Komplizenschaft mit dem Terrorismus: „Wie kann es sein, dass ein Justizsystem terroristische Organisationen und terroristische Führer schützt? Wie kann es sein, dass ein Terrorist eine Green Card bekommt? Er lebt in Luxus auf einer 400 Morgen großen Farm, von wo aus er seine Geschäfte führt. Wen glaubt ihr hinters Licht führen zu können?“

Erdogan erhebt nicht nur Anspruch auf Mossul, sondern er hat in den letzten Tagen weitere territoriale Ansprüche formuliert. In dieser Hinsicht hat er auch Westthrakien erwähnt, zu dem heute ein Teil Südbulgariens und Nordgriechenlands gehört.

An der Recep-Tayyip-Erdogan-Universität in der Provinz Rize sagte er am 15. Oktober: „Können wir Mossul sich selbst überlassen? Wir gehören zur Geschichte Mossuls. Und was tun sie nun? Sie haben sich verschworen, Mossul den Menschen von Mossul zu rauben … Die Türkei kann Aleppo nicht den Rücken zuwenden. Die Türkei kann ihre Landsleute in Westthrakien, Zypern, auf der Krim und anderswo nicht im Stich lassen. Wir können Libyen, Ägypten, Bosnien und Afghanistan nicht mit ihren Problemen allein lassen.“

Er fügte hinzu: „Im Nahen Osten und in Afrika findet man einen Teil von uns in jedem Land zwischen Hatay [an der türkisch-syrischen Grenze] und Marokko. Auf diesem ganzen Weg von Thrakien bis Osteuropa findet man Spuren unserer Vorfahren.“

Am Mittwoch erklärte der griechische Präsident Prokopis Pawlopoulos, Erdogans Äußerungen stellten den Vertrag von Lausanne von 1923 in Frage. Mit diesem Vertrag wurde der Konflikt zwischen den Alliierten-Mächten und der Türkei im 1. Weltkrieg endlich beigelegt. Dieser Vertrag besiegelte die Auflösung des Osmanischen Reiches und die koloniale Aufteilung des Nahen Ostens unter Frankreich und Großbritannien, und er legte die aktuelle Grenze zwischen Griechenland und der Türkei fest.

Pawlopoulos sagte: „Diese Reden des türkischen Präsidenten Erdogan stellen selbst in der freundlichsten Interpretation leider direkt oder indirekt den Vertrag von Lausanne in Frage. Sie bedrohen die griechisch-türkischen Beziehungen und die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei.“

Anfangs veröffentlichten die griechischen Medien auch einen Bericht über die Pläne Erdogans für ein Referendum über Westthrakien. Der Bericht wurde später dementiert, aber erst nachdem das griechische Außenministerium den Bericht verurteilt und als „provokativ und schädlich für die regionale Stabilität“ bezeichnet hatte.

Im September hatte Erdogan schon einmal den Vertrag von Lausanne öffentlich angegriffen. Er betonte, er sei kein „Sieg“ gewesen. „Wir haben damals die [griechischen] Inseln aufgegeben, die in Rufweite der Küste des türkischen Ägäischen Meeres liegen.“

Der griechische Verteidigungsminister Panos Kammenos antwortete: „Internationale Verträge in Frage zu stellen, führt auf vermintes Gelände“, und fügte hinzu, die Türkei solle keinen solchen Weg einschlagen.

Die explosiven politischen und militärischen Spannungen, die Erdogans Erklärungen zugrunde liegen, sind das Produkt gnadenloser Kriege und Interventionen der imperialistischen Mächte. Seit dem Golfkrieg der USA gegen den Irak 1991 intervenieren die Nato-Mächte pausenlos im Nahen Osten und auf dem Balkan. Diese Kriege haben Millionen Menschenleben gekostet und dutzende Millionen zu Flüchtlingen gemacht. In jenem Jahr löste die Sowjetbürokratie die UdSSR auf und begann mit der Wiedereinführung des Kapitalismus. Damit wurde das Haupthindernis für die Kriege der Nato und der USA beseitigt.

Die Kriege im Irak und Jugoslawien, der Angriff Georgiens auf russische Truppen im Kaukasus im Jahr 2008 und schließlich die Nato-Kriege in Libyen und Syrien 2011 haben die regionale Staatenwelt, wie sie aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg hervorging, definitiv zerschlagen.

Heute droht die Konfrontation der Nato mit Russland und dem von Russland unterstützten syrischen Regime einen dritten Weltkrieg auszulösen. Konflikte brechen wieder aus, die tief in der Geschichte und der Geopolitik des europäischen und nahöstlichen Kapitalismus wurzeln. Die beunruhigenden Erklärungen und Drohungen der türkischen und griechischen Politiker zeigen, dass die Diplomaten und Generäle aller Parteien in dem riesigen Geflecht einer globalen Krise gefangen sind. Kein einzelner nationaler Staat kann diese Krise noch kontrollieren.

Auf Druck der Nato hatte die Erdogan-Regierung ihre frühere Außenpolitik nach dem Prinzip „null Probleme mit den Nachbarn“ aufgegeben und die Kriege in Libyen und Syrien unterstützt. Seither war sie nicht immer in der Lage, sich den chaotischen Drehungen und Wendungen der amerikanischen Syrienpolitik anzupassen. Erdogan fürchtet, dass der Syrienkrieg zur Bildung eines kurdischen Staates führen könnte, der einen Anziehungspunkt für die kurdischen separatistischen Kräfte in der Türkei selbst bilden könnte. Daher lehnt Erdogan amerikanische Bündnisse mit syrisch-kurdischen Milizen entschieden ab. Aus dem gleichen Grund verschärft die Regierung in Ankara ihre Konflikte mit der Nato und insbesondere mit Washington in der Syrienfrage.

An der stillschweigenden Unterstützung der USA und der EU für den Putsch im Juli zeigte sich deutlich, wie sehr die Westmächte fürchten, Erdogan könnte sich tatsächlich Moskau und Damaskus annähern, wie er angedroht hatte.

Oberflächlich betrachtet, schien es nach dem Putsch, als habe die Türkei wieder bessere Beziehungen zu Washington aufgenommen, als sie mit Unterstützung der USA im Nordirak Gebiete angriff, die der Islamische Staat kontrollierte. Aber es ist klar, dass die tiefer liegenden Konflikte keineswegs gelöst sind, und tatsächlich verschärft jede militärische Eskalation die internationalen Gegensätze. Erdogans nationalistische Ausfälle bereiten nur die Bühne für noch umfassendere und explosivere Zusammenstöße und Kriege im Nahen Osten und Europa.

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