Philosophie und Politik in Zeiten von Krieg und Revolution

Vortrag in Frankfurt/Main

Diesen Vortrag hielt David North am 22. Oktober 2016 auf Einladung der International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) an der Frankfurter Goethe-Universität vor 250 Studenten und Besuchern. North ist Vorsitzender der Socialist Equality Party in den USA und Chefredakteur der World Socialist Web Site. Ein Bericht über die Veranstaltung findet sich hier.

Während des Vortrags von David North

Ich möchte mich dafür bedanken, dass mir die IYSSE die Möglichkeit bieten, hier an der Frankfurter Goethe-Universität zu sprechen. Der Titel meines Vortrags lautet: „Philosophie und Politik in Zeiten von Krieg und Revolution“. Der Titel weist darauf hin, wie mein Interesse an den theoretischen Fragen gelagert ist, über die ich heute Abend sprechen werde, und wie ich an sie herangehe.

Der Schwerpunkt meiner Kritik an der Frankfurter Schule und der Postmoderne ist politisch, nicht akademisch. Ich halte eine solche Herangehensweise für notwendig, weil die Repräsentanten dieser Schule vielen als Vertreter einer radikalen Denkschule gelten, die als theoretische und geistige Grundlage für eine wirkungsvolle, ja revolutionäre Veränderung der Gesellschaft dienen kann.

Ihr Anspruch, sie hätten den Marxismus entweder durch notwendige Korrekturen ergänzt oder nachgewiesen, dass er überholt sei, ist jedoch unbegründet und grundfalsch. Nachdem Syriza in Griechenland schändlich kapituliert und sich als reaktionäre Partei entpuppt hat, die die Interessen wohlhabender und selbstzufriedener Teile des griechischen Kleinbürgertums vertritt, kann man nicht mehr leugnen, dass es eine enge Verbindung zwischen Schlüsselelementen des akademischen Postmarxismus und politischen Programmen gibt, die den Interessen der Arbeiterklasse diametral entgegenstehen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich viele Varianten der Frankfurter Schule und der Postmoderne einer bewusst obskuren Phraseologie bedienen, um ihre politischen Standpunkte zu verschleiern.

Unsere heutige Veranstaltung findet kurz vor einem wichtigen historischen und politischen Jahrestag statt: Am 26. Dezember 1991 wurde die Sowjetunion offiziell aufgelöst. Dieses Ereignis wurde allgemein als vernichtende Widerlegung des Sozialismus und als Sieg des Kapitalismus interpretiert. Angeblich zeigte das Ende der UdSSR, dass der Kapitalismus die einzig mögliche Grundlage jeder Gesellschaftsordnung sei. 74 Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917 hätten die kapitalistischen Eliten nun freie Hand, die Welt nach rein marktwirtschaftlichen Grundsätzen neu einzurichten. Der Präsident der Vereinigten Staaten rief eine „Neue Weltordnung“ aus. Nur sechs Wochen nach der Auflösung der UdSSR wurde am 7. Februar 1992 der Vertrag von Maastricht unterzeichnet, die Grundlage für die Einführung des Euro und die Gründung der Europäischen Union.

Der Siegestaumel nach der Auflösung der UdSSR beruhte auf einer gründlichen historischen Fehleinschätzung.

Erstens wurde das historische Vermächtnis der sozialistischen Revolution, die 74 Jahre zuvor stattgefunden hatte, mit dem Ende der Sowjetunion nicht einfach ausradiert. Die Oktoberrevolution zählt zu den Höhepunkten der Weltgeschichte. Die Machteroberung der Bolschewistischen Partei im Oktober 1917 hatte die ganze Welt erschüttert. Von ihr ging der politische Anstoß zu den revolutionären, antikapitalistischen und anti-imperialistischen Kämpfen aus, die rund um die Welt ausbrachen. Die große Revolution hob das Bewusstsein der Massen auch jenseits der Grenzen der Sowjetunion an. Es ist unmöglich, das zwanzigste Jahrhundert – geschweige denn das einundzwanzigste – zu verstehen, ohne sich gründlich mit der Geschichte der Revolution und ihrer weiteren Entwicklung auseinanderzusetzen.

Das zweite Element der Fehleinschätzung war die Gleichsetzung des Regimes, das sich im Dezember 1991 selbst abschaffte und damit alle Hindernisse für die Restauration des Kapitalismus beseitigte, mit dem Sozialismus und Marxismus. Der von Gorbatschow geführte Staat war nicht sozialistisch, sondern stalinistisch. Das bürokratische Regime, an dessen Spitze er stand, hatte seine Macht in den 1930er Jahren durch eine Terrorkampagne gefestigt, in der praktisch die gesamte marxistische Intelligenz und die bolschewistische, sozialistische Vorhut der Arbeiterklasse vernichtet wurden. Die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 bestätigte die Warnung, die Leo Trotzki nahezu 60 Jahre zuvor formuliert hatte: Entweder die Arbeiterklasse werde die Bürokratie stürzen oder das bürokratische Regime werde die Sowjetunion zerstören.

Die politischen Führer des Weltkapitalismus wurden von der Auflösung der Sowjetunion völlig überrascht. Selbst nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regimes in Osteuropa 1989 waren sie weithin davon ausgegangen, dass die Sowjetunion noch Jahrzehnte lang fortbestehen werde. Die Vierte Internationale – die trotzkistische Weltbewegung – hatte dagegen bereits 1986 erklärt, dass Gorbatschows Perestroika den Todeskampf des stalinistischen Regimes darstelle. Mit dieser Prognose standen wir so gut wie allein da. In panischer Angst vor der wachsenden Opposition der Arbeiterklasse und in krampfhafter Verteidigung ihrer Privilegien bereitete die altersschwache bürokratische Elite die Restauration des Kapitalismus vor.

Vor allem aber führte die triumphierende Erklärung für die Auflösung der Sowjetunion zu einer grotesken Fehleinschätzung, man könnte fast sagen Wahnvorstellung, über die historische Lage des kapitalistischen Weltsystems. Dessen Führer bildeten sich tatsächlich ein, sie könnten die Welt fortan wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich so gestalten, als hätte es die Revolution von 1917 und die ihr folgenden Erschütterungen nie gegeben. Theoretisch gerechtfertigt wurden solche Illusionen von Autoren wie Francis Fukuyama, der das „Ende der Geschichte“ verkündete, und Eric Hobsbawm, der von einem „kurzen 20. Jahrhundert“ sprach. Damit meinte er den Zeitabschnitt zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 und der Auflösung der Sowjetunion 1991. Diese Autoren behaupteten, das Fieber von Krieg und Revolution sei nun endlich überwunden und die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft könne fortan ihren normalen Verlauf nehmen.

Mittlerweile ist es möglich, diese Einschätzungen über das Ende der UdSSR rückblickend zu beurteilen. Es war, gelinde gesagt, etwas voreilig, den historischen Sieg des Kapitalismus zu verkünden. Die Geschichte hat nicht geendet, und die Probleme des neuen Jahrhunderts rufen eindeutig Erinnerungen an das letzte wach. Die Weltbourgeoisie hatte 25 Jahre Zeit, uns zu zeigen, welche Leistungen sie vollbringen kann, wenn sie nicht ständig das Gespenst des Sozialismus und Marxismus im Nacken spürt. Was also hat sie erreicht?

Ein Vierteljahrhundert nach der Auflösung der UdSSR wird die post-sowjetische kapitalistische Welt von einer globalen Krise mit existenziellen Ausmaßen heimgesucht. Wenn Voltaires Doktor Pangloss in die heutige Welt käme und sich zu ihrem Zustand äußern müsste, würde selbst er wohl entsetzt die Schultern heben. Auf jeder Ebene – politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell – steht die kapitalistische Gesellschaft vor einer Krise, die nur mit der Zeit vor der Großen Depression und dem Zweiten Weltkrieg verglichen werden kann. Die alten Reformisten der Sozialdemokratie machten sich unter dem Einfluss Bernsteins vor dem Ersten Weltkrieg gern über die „Zusammenbruchstheorie“ lustig. Aber 1914 gab es nichts mehr zu lachen. Heute stecken wir in einer Systemkrise, die sich ständig weiter zuspitzt und in einer Katastrophe zu enden droht.

An der wirtschaftlichen Front stolpert das kapitalistische System von einer Krise in die nächste. Der Finanzkrach von 2008 brachte die Welt an den Rand des Abgrunds. Heute, fast zehn Jahre später, steckt die Weltwirtschaft weiterhin in einer Stagnation. Wirtschaftsanalysten räumen ein, dass die Wachstumsrate auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus gering bleiben wird.

Die soziale Ungleichheit hat in den letzten 20 Jahren extrem stark zugenommen. Eine Studie ergab, dass die 62 reichsten Menschen der Welt mehr besitzen als die untere Hälfte der Weltbevölkerung zusammengenommen. Das Vermögen von 62 Reichen ist also gleich dem von 3,5 Milliarden Menschen. Das persönliche Durchschnittsvermögen einer dieser 62 reichsten Personen ist größer als das Vermögen von 56 Millionen Angehörigen der ärmsten Schicht! Ein solches Ausmaß an sozialer Ungleichheit ist nicht mit Demokratie vereinbar. Der tiefgreifende Vertrauensverlust in die Tragfähigkeit bürgerlich-demokratischer Institutionen zeigt sich überall in der Welt im Wachstum reaktionärer Parteien. Warum auch sollten die Massen weiterhin auf diese Institutionen vertrauen? Seit 25 Jahren erleben breite Teile der arbeitenden Bevölkerung, wie sich ihr Lebensstandard unaufhörlich verschlechtert. Deshalb hat auch die Europäische Union keine Glaubwürdigkeit mehr, was zum Sieg der Brexit-Befürworter im britischen Referendum führte.

In den Vereinigten Staaten, der großen Bastion des Weltkapitalismus, findet die Frustration und Enttäuschung von Dutzenden Millionen arbeitender Menschen einen verworrenen politischen Ausdruck im Aufstieg von Donald Trump. In einem Kommentar zu den amerikanischen Wahlen stellte Die Zeit vor kurzem die Frage: „Sind die Amis verrückt?“ Aus der Ferne könnte man tatsächlich diesen Eindruck gewinnen. Wie ist es möglich, dass Donald Trump – ein korrupter und faschistischer Betrüger – es geschafft hat, zum Präsidentschaftskandidaten einer der beiden großen politischen Parteien der USA nominiert zu werden? Gerade Deutsche müssten diese Frage beantworten können. Den Bürgern dieses Landes dürfte es eigentlich nicht schwerfallen, die politischen Vorgänge in den USA zu verstehen. Die Ursachen für Hitlers Beliebtheit erklärte Leo Trotzki vor 82 Jahren folgendermaßen:

„Heruntergekommene, Verarmte, Leute mit Schrammen und frischen blauen Flecken fanden sich genug. Jeder von ihnen wollte mit der Faust auf den Tisch hauen. Hitler verstand das besser als die anderen. Zwar wusste er nicht, wie der Not beizukommen sei. Aber seine Anklagen klangen bald wie Befehl, bald wie Gebet, gerichtet an das ungnädige Schicksal.“ [1]

In Amerika gibt es Millionen Menschen, die in der kalten und erbarmungslosen Gesellschaft Schrammen und blaue Flecken davongetragen haben. Trump gibt ihnen ein Mittel, Wut und Frustration zu äußern. Der republikanische Bewerber um das Präsidentenamt der Vereinigten Staaten stammt nicht aus der amerikanischen Version einer Münchner Bierhalle. Donald Trump verdiente Milliarden durch Immobilienschwindel in Manhattan, halbseidene Glücksspielgeschäfte mit Kasinos und groteske „Reality-Shows“, mit denen das Fernsehpublikum unterhalten und verdummt wird, indem ihm absurde, abstoßende und zumeist frei erfundene Szenen aus dem „echten Leben“ vorgegaukelt werden. Man könnte die Kandidatur von Donald Trump als Übertragung der Techniken von Reality-Shows in die Politik beschreiben.

Trump verspricht, „Amerika wieder groß zu machen“. Mit diesem Slogan spricht er nostalgische Sehnsüchte nach einer unwiederbringlichen Vergangenheit an, die es im Grunde nie gegeben hat. Amerikaner gehen seit jeher gern Hochstaplern auf den Leim, die ihnen Wundermittelchen gegen Haarausfall und Blähungen andrehen. Trump, der Kitsch an den Mann bringen kann wie kein anderer, hat ein Vermögen damit gemacht, dass er den Amerikanern versprach, sie in das Geheimnis von Erfolg und märchenhaftem Reichtum einzuweihen. Und nun stellt er die Rückkehr zu Amerikas „Größe“ in Aussicht. Mit dieser Parole trifft er den Nerv von Millionen, deren Leben im heutigen Amerika alles andere als großartig ist. Und wie soll die vergangene „Größe“ zurückerlangt werden? Durch den Bau einer 3200 Kilometer langen Mauer entlang der Südgrenze der Vereinigten Staaten, durch die Deportation von Millionen Einwanderern aus Lateinamerika, durch ein Einreiseverbot für Muslime, durch hohe Einfuhrzölle auf chinesische Waren und vor allem durch massive Steuersenkungen für Großkonzerne und reiche Einzelpersonen wie er selbst.

Natürlich ist das alles Täuschung. Aber die Wut und Frustration hinter der von Trump geführten Bewegung hat reale Wurzeln im gesellschaftlichen Elend, für das der amerikanische Kapitalismus keine Lösung hat. Trumps Gegnerin Hillary Clinton verkörpert den korrupten Status quo und wird vollständig mit der Wall Street und dem Establishment von Militär und Geheimdiensten gleichgesetzt. Keines der sozialen Probleme, von denen die überwiegende Mehrheit der Amerikaner betroffen ist – sinkender Lebensstandard, steigende Gesundheitskosten, prekäre Arbeitsverhältnisse und (für Millionen junger Menschen) riesige Schuldenberge aus Studiengebühren – keines dieser Probleme wird in Clintons Wahlprogramm angesprochen.

Trotz der Unterstützung für Trump gibt es in den Vereinigten Staaten bisher noch keine faschistische Massenbewegung. Man darf nicht vergessen, dass sich Millionen Amerikaner dieses Jahr für die Kampagne von Bernie Sanders begeistert haben, der allgemein als Sozialist betrachtet wurde. Nachdem Sanders seine Kampagne zugunsten von Clinton abgebrochen hatte, erschien vielen seiner Anhänger Trump als einzige Alternative zum Status quo. Das heißt aber nicht, dass sie eine faschistische Regierung wollen. Dennoch ist die Trump-Kampagne ein Warnsignal, selbst wenn er die Wahlen im November verliert. 25 Jahre nach dem Scheitern der Sowjetunion liegt die amerikanische Demokratie in den letzten Zuckungen.

Betrachten wir nun die internationale Lage. Nach der Auflösung der Sowjetunion wurde viel über die „Friedensdividende“ gesprochen. Mit dem Ende des Kalten Kriegs sei die Gefahr militärischer Konflikte deutlich zurückgegangen, hieß es, die gewaltigen Rüstungsausgaben könnten stark eingeschränkt werden. Doch das ist nicht geschehen. Das letzte Vierteljahrhundert war fast durchgehend durch Kriege gekennzeichnet. Bereits vor der formalen Auflösung der Sowjetunion nutzten die Vereinigten Staaten das Durcheinander im Kreml aus, um im Winter 1990/91 erstmals in den Irak einzumarschieren.

Als Nächstes beschlossen die Vereinigten Staaten und Deutschland, gezielt das Auseinanderbrechen Jugoslawiens herbeizuführen. Die Folge war der blutige Bürgerkrieg auf dem Balkan, der 1998 im Krieg der USA gegen Serbien gipfelte. Der Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 lieferte dann den Vorwand für den „Krieg gegen den Terror“, der nun seit mehr als 15 Jahren unvermindert tobt.

Mittlerweile ist offensichtlich, dass „Krieg gegen den Terror“ eine Propaganda-Phrase ist, mit welcher der amerikanische Imperialismus sein Streben nach globaler Hegemonie rechtfertigt. Die Vereinigten Staaten hatten keine Hemmungen, sich ihrer angeblichen „terroristischen“ Gegner, Al-Kaidas und der mit ihr verbundenen Al-Nusra-Front, zu bedienen, um ihre geopolitischen Ziele im Nahen und Mittleren Osten zu verfolgen. Die von den USA angezettelten Kriege im Mittleren Osten und Zentralasien sind dabei nur die ersten Schritte einer Strategie der Weltherrschaft, die den Konflikt mit Russland und mit China bereits massiv verschärft hat. Der europäische Imperialismus kann in dem sich anbahnenden globalen Konflikt natürlich nicht abseits stehen. Die herrschende Klasse Deutschlands spricht wieder über ihre Rolle als Weltmacht, und die Medien führen das Vokabular des Militarismus systematisch wieder in die politische Umgangssprache ein.

Es besteht eine tiefe Kluft zwischen den weit fortgeschrittenen Vorbereitungen auf militärische Konflikte, bei denen auch Atomwaffen eingesetzt werden könnten, und dem öffentlichen Bewusstsein über das Ausmaß der Gefahr. In den Vereinigten Staaten haben Militärstrategen zahlreiche Dokumente veröffentlicht, die so gut wie sicher davon ausgehen, dass ein großer Krieg mit Russland und China in den nächsten zehn Jahren hochwahrscheinlich, wenn nicht unvermeidlich ist. Martin Dempsey, ein General der US-Armee im Ruhestand und früherer Vorsitzender des Generalstabs, sagte im September 2015: „Es ist die gefährlichste Zeit meines Lebens.“ [2]

Letzten Monat veröffentlichte der Atlantic Council, der starken Einfluss auf die Ausarbeitung der amerikanischen Regierungspolitik ausübt, ein Dokument mit dem Titel „Die Zukunft der Armee“. Darin heißt es unverhohlen: „In vieler Hinsicht sind die USA in eine Epoche des Dauerkrieges eingetreten, da sie sich in den kommenden Jahren und vermutlich Jahrzehnten weiterhin mit den verschiedenen Formen dieser Bedrohung befassen müssen.“ [3] Die Armee müsse sich auf „den nächsten großen Krieg“ vorbereiten, „gegen sehr fähige Gegner, mit einem hohen Grad von Tod und Zerstörung und unter Einsatz von möglicherweise Hunderttausenden US-Soldaten“. [4] In einer der unverblümtesten Passagen des Berichts heißt es:

„Auch wenn der Gedanke unangenehm ist, die Armee muss ihre Fähigkeit verbessern, hohe Verluste hinzunehmen und trotzdem weiterzukämpfen. … Die militärische Doktrin und die Ausbildung für so schreckliche Situationen müssen erneuert werden; die Führer müssen bereit sein, auch bei hohen Verlusten weiterzukämpfen, die Truppen neu aufzustellen und ihren Kampfgeist aufrecht zu erhalten. In der Ausbildung sollten Einheiten massivem Raketen- und Artilleriefeuer, chemischen und sogar nuklearen Angriffen ausgesetzt werden, um Verluste in hohem Umfang zu simulieren, bei denen die die Fortsetzung der Mission eine Umorganisation erfordert.“ [5]

Eine andere, aus russischer Sicht geschriebene Analyse, gibt folgende Einschätzung der gegenwärtigen globalen Spannungen:

„Weil die Großmächte ihre Waffenarsenale modernisieren, die Strukturen ihrer Truppen neu ausrichten und sich auf eine Politik großer Risiken einlassen, gleicht die Lage zunehmend Tschechows Gewehr, das an der Wand hängt und deshalb auch losgehen muss. Von Jahr zu Jahr erscheint es wahrscheinlicher, dass die Konkurrenz zwischen verschiedenen Mächten, militärische Schachzüge und Fehlkalkulationen einen zwischenstaatlichen Konflikt mit verheerenden Folgen entfachen könnten. …

Analogien sind immer unzulänglich, aber in vieler Hinsicht gleicht die Welt heute den Jahren, die dem Ersten Weltkrieg vorausgingen. Sie mag nicht multipolar sein, ist aber in ein komplexes Netz von regionalen Bündnissen, bilateralen Vertragsgarantien und Ähnlichem verstrickt.“ [6]

Fasst man die Erfahrungen eines Vierteljahrhunderts zusammen, erweist sich der „Triumph des Kapitalismus“, wie er nach der Auflösung der Sowjetunion verkündet wurde, als verheerende Fehleinschätzung der historischen Realität. Die marxistische Analyse des Kapitalismus ist bestätigt worden. Dieselben vom Marxismus entdeckten Grundwidersprüche des Kapitalismus, die zu den Kriegen und Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts führten – der Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln und der Widerspruch zwischen dem global integrierten Produktionsprozess und dem Weiterbestehen des Nationalstaats –, sind auch die Ursache für die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Erschütterungen der modernen Welt.

Angesichts der Tiefe der kapitalistischen Weltkrise – der offenkundigen Stagnation der Weltwirtschaft, der unglaublichen Konzentration des Reichtums, des Anwachsens von sozialer Ungleichheit und Elend und der rasant zunehmenden Gefahr eines katastrophalen Kriegs zwischen Nuklearmächten – muss man die Frage stellen: Weshalb gibt es keine internationale, revolutionäre, antikapitalistische und sozialistische Massenbewegung? Oder präziser: Weshalb gibt es nach 25 Jahren nahezu pausenlosem Krieg keine globale Bewegung gegen den Imperialismus? Weshalb gewinnen rechte Parteien an Stärke, obwohl die Zustände eigentlich die Linke begünstigen müssten, die historisch mit dem Kampf gegen den Kapitalismus in Verbindung gebracht wird?

Das sind Fragen, auf die es keine einfache Antwort gibt. Der langwierigen Krise der revolutionären Arbeiterbewegung liegt eine komplexe Wechselwirkung objektiver und subjektiver Faktoren zugrunde. Allerdings hat der „subjektive Faktor“ der politischen Führung – oder besser, Irreführung – bei der Sabotage und Zerstörung der revolutionären Bestrebungen der Arbeiterklasse eine zentrale Rolle gespielt. Die geistige und politische Verwüstung, die der Stalinismus angerichtet hat, lässt sich kaum übertreiben. Die Verbrechen und grotesken Fälschungen der Sowjetbürokratie und ihres internationalen Netzwerks haben mehrere Generationen von Arbeitern und zum Sozialismus neigenden Intellektuellen desorientiert und demoralisiert.

Wie kann man die Auswirkungen der Niederlage der deutschen Arbeiterklasse und der Machtübernahme Hitlers messen, für die in erster Linie die katastrophale Politik verantwortlich war, welche Stalin der Kommunistischen Partei Deutschlands aufzwang? Wie die Auswirkungen der Moskauer Prozesse und des Großen Terrors, des Verrats der Spanischen Revolution, des Hitler-Stalin-Pakts von 1939, der Ermordung Leo Trotzkis, des Verrats des revolutionären Aufschwungs der Arbeiterklasse nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich, Italien und Griechenland, der blutigen Unterdrückung der Arbeiteraufstände in Ostdeutschland und Ungarn, des Verrats des Generalstreiks der französischen Arbeiter und Studenten im Mai-Juni 1968, der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion zwei Monate später, im August 1968, und der Verhängung des Kriegsrechts zur Unterdrückung der Kämpfe der polnischen Arbeiterklasse?

Die Auflösung der Sowjetunion war der Höhepunkt von über sechzig Jahren pausenloser Fälschung des Marxismus, sowohl theoretisch wie politisch. Die schädlichste Lüge des zwanzigsten Jahrhunderts war die Gleichsetzung von Stalinismus und Marxismus. Eine Abrechnung mit den Verbrechen des Stalinismus muss außerdem auch die Politik und Praxis des Maoismus mit einbeziehen, der im Stalinismus wurzelte.

Es steht außer Frage, dass das Erbe des Stalinismus maßgeblich zur Desorientierung der kleinbürgerlichen Theoretiker beitrug, die – direkt und indirekt – eine wichtige Rolle bei der Formulierung der theoretischen und politischen Vorstellungen spielten, die sowohl die Frankfurter Schule als auch die Postmoderne beeinflussten. Der historische Pessimismus, der die Anschauungen der Theoretiker dieser beiden geistigen Strömungen prägt, ist eng damit verbunden, dass sie die Arbeiterklasse für die Folgen der Verbrechen der stalinistischen Regime verantwortlich machen.

Das Ende der Sowjetunion und die Wiedereinführung des Kapitalismus durch das maoistische Regime in China gingen insbesondere an den Universitäten mit dem nahezu vollständigen politischen Kollaps breiter Teile der linken Intelligenz einher, die den Stalinismus (einschließlich seiner maoistischen Variante) mit dem Sozialismus und Marxismus gleichgesetzt hatten. Das hatte zur Folge, dass sie sehr bald den Sozialismus als politisches Ziel aufgaben. Da sie nicht bereit waren, sich mit der Verantwortung des Stalinismus für die Zerstörung der Sowjetunion zu befassen, vertieften die Ereignisse von 1991 und der folgenden Jahre die Vorurteile und die Abneigung linker kleinbürgerlicher Akademiker gegen den Marxismus.

Was sich in den letzten 25 Jahren als „linke“ Politik ausgab – von ihren theoretischen Wurzeln und revolutionären Perspektive völlig losgelöste, schwammige, radikale und anarchistische Phrasen –, war durch zwei philosophische Strömungen beeinflusst, die in großen Teilen der Welt an den Universitäten vorherrschen und generell als Postmoderne und Frankfurter Schule bezeichnet werden. Die beiden sind nicht identisch. Es gibt bedeutende Unterschiede zwischen ihren geistigen, theoretischen und kulturellen Ursprüngen. Dennoch sind sie eng verwandt, besonders, wenn man sie vom Standpunkt ihres politischen Ausblicks und Ziels betrachtet: der Widerlegung und Zurückweisung des Marxismus. Der philosophische Materialismus und die daraus abgeleitete materialistische Geschichtsauffassung sind den Anhängern der verschiedenen Zweige und Ableger der Frankfurter Schule und der Postmoderne ein Dorn im Auge.

Wie bei allen philosophischen „Denkschulen“ enthüllt eine gründliche theoretische Analyse ihre komplizierte geistesgeschichtliche Abstammung. Sowohl die Frankfurter Schule wie die Postmoderne sind tief im idealistischen Irrationalismus Schopenhauers und natürlich Nietzsches verankert. Auch der Einfluss des reaktionären Mystikers Heidegger ist in den Schriften gewisser Vertreter der Frankfurter Schule – insbesondere Marcuses – und noch mehr bei den Vertretern der Postmoderne deutlich erkennbar.

Es lohnt sich jedoch, zur Einschätzung der Frankfurter Schule und der Postmoderne Marx‘ Beurteilung der ökonomischen Theorien von Pierre-Joseph Proudhon heranzuziehen. In einem Brief an Annenkow fällte Marx 1846 ein vernichtendes Urteil über Proudhons „Philosophie der Armut“. „Herr Proudhon“, schrieb Marx, „liefert nicht deshalb eine falsche Kritik der politischen Ökonomie, weil er eine lächerliche Philosophie besitzt, sondern er liefert eine lächerliche Philosophie, weil er die gegenwärtigen sozialen Zustände in ihrer Verkettung – um ein Wort zu gebrauchen, das Herr Proudhon wie viele andere Dinge Fourier entlehnt – nicht begriffen hat.“ [7]

Um Marx zu paraphrasieren: Die Anhänger der Postmoderne und der Frankfurter Schule vertreten nicht deshalb eine absurde Politik, weil ihre Philosophie absurd ist. Sondern die krassen Absurditäten ihrer Philosophie – und das richtet sich vor allem gegen die Anhänger der Postmoderne – ergeben sich aus ihrer reaktionären kleinbürgerlichen Politik. Der politische Impuls für ihre Theorien lag in der Ablehnung des Marxismus und der auf die Arbeiterklasse gestützten Perspektive der sozialistischen Revolution. Wer das nicht begreifen will, kann weder die Frankfurter Schule noch die Postmoderne verstehen.

Die Theorie der Postmoderne wurde ausdrücklich als Zurückweisung des Marxismus und der Perspektive der proletarischen Revolution entwickelt. Eine führende Rolle bei der Begründung der Postmoderne spielte bekanntlich François Lyotard. Von ihm stammt der Satz: „In äußerster Vereinfachung kann man sagen: ‚Postmoderne‘ bedeutet, dass man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt.“ Verworfen werden sollten die „Meta-Erzählungen“, die die marxistische Perspektive der sozialistischen Revolution vertraten.

François Lyotard war Mitglied eines Zirkels ex-trotzkistischer französischer Intellektueller, die das Journal Socialisme ou Barbarie herausgaben. Der Ursprung dieses Journals lag in ihrem Bruch mit dem Trotzkismus. Die Gruppe Socialisme ou Barbarie lehnte insbesondere Trotzkis Analyse der gesellschaftlichen Struktur der Sowjetunion ab – speziell seine Definition der Sowjetunion als entarteter Arbeiterstaat. In seiner „Verratenen Revolution“ vertrat Trotzki eine „Meta-Erzählung“ der Oktoberrevolution, ihrer politischen Entwicklung und ihrer Beziehung zur zukünftigen politischen Evolution der Menschheit, die Lyotard ablehnte. Socialisme ou Barbarie wandte sich vehement gegen Trotzkis Einschätzung, die regierende Sowjetbürokratie sei nur eine parasitäre Kaste, die keine unabhängige politische Rolle spiele und die entweder von der sowjetischen Arbeiterklasse durch eine politische Revolution gestürzt werde oder den Kapitalismus restaurieren werde. Ihrer Ansicht nach war die Bürokratie eine neuartige herrschende Klasse.

Aus dieser Theorie ergab sich die politische Schlussfolgerung, dass die revolutionäre Rolle, die der Marxismus der Arbeiterklasse zugeschrieben hatte, widerlegt sei. Selbst dort wo es der Arbeiterklasse gelungen war, die Bourgeoisie zu stürzen, erwies sie sich als unfähig, die Macht zu behaupten. Sie musste sich darauf beschränken, einer neuen Ausbeuterklasse den Weg zu bereiten. Die marxistische „Meta-Erzählung“ traf also nicht zu und war von Anfang an unzutreffend gewesen. Die materialistische Geschichtsauffassung war nur eine Fiktion, die keinen Anspruch auf objektive Wahrheit erheben durfte. Das Denken, schrieb Lyotard, müsse sich damit abfinden, dass die großen Erzählungen der Emanzipation, angefangen (oder endend) mit „der unsrigen“, der des radikalen Marxismus, ihre Glaubwürdigkeit und ihren Gehalt eingebüßt hätten.

Womit wollen die Propheten des Post-Marxismus die „Meta-Erzählung“ ersetzen, die sie abgeschrieben haben? Welche Anti-Meta-Erzählungen haben sie entwickelt, die eine geeignete theoretische Grundlage für wirksames gesellschaftliches Handeln abgeben? Sie haben nach eigenen Angaben den Beweis erbracht, dass die Arbeiterklasse als Subjekt antikapitalistischen Handelns und revolutionärer Veränderungen in der Gesellschaft gescheitert sei. Welche alternative Grundlage für fortschrittliche politische Kämpfe haben die Post-Marxisten zu bieten? Sehen wir in ihren neueren Schriften nach.

Alain Badiou zählt zu den bekanntesten französischen Philosophen der Gegenwart. In seiner langen akademischen Laufbahn lehnte er sich eng an Michel Foucault, Gilles Deleuze und Lyotard an. Zwar steht er bestimmten Elementen der Postmoderne kritisch gegenüber und erhebt sogar den Anspruch, den Begriff der objektiven Wahrheit zu verteidigen, erklärt jedoch sämtliche marxistische Auffassungen des 20. Jahrhunderts für bedeutungslos:

„Der Marxismus, die Arbeiterbewegung, die Massendemokratie, der Leninismus, die Partei des Proletariats, der sozialistische Staat, all diese bemerkenswerten Erfindungen des 20. Jahrhunderts sind nicht mehr wirklich nützlich. In der Ordnung der Theorie müssen sie zweifellos gekannt und durchdacht werden. Aber in der Ordnung der Politik sind sie unpraktikabel geworden.“ [8]

In einem anderen Essay schreibt Badiou:

„Ja, lasst es uns umumwunden zugeben: Der Marxismus ist in der Krise, der Marxismus ist atomisiert. Jenseits des Anstoßes und der kreativen Zerwürfnisse der 1960er Jahre, nach den nationalen Befreiungskämpfen und der Kulturrevolution bleibt uns in Zeiten der Krise und unmittelbaren Kriegsgefahr nur ein enges und fragmentarisches Sammelsurium von Gedanken und Taten, gefangen in einem Labyrinth von Ruinen und Überbleibseln.“ [9]

Welche Alternative zum Marxismus schwebt dem post-marxistischen Professor vor? Badiou hat mit dankenswertem Freimut zugegeben, dass keine Alternative zu finden war, die an die Stelle des zurückgewiesenen orthodoxen Marxismus treten könnte. In einem bekennenden Aufsatz mit dem Titel „Unsere heutige Ohnmacht“ schreibt Badiou:

„Was wir heute erleben, ist… dass die politischen Kategorien, mit denen die Aktivisten der Bewegung unsere aktuellen Situationen einschätzen und verändern, in ihrer gegenwärtigen Form großteils untauglich sind.“ [10]

Fredric Jameson ist seit Jahrzehnten ein entschiedener Kritiker des orthodoxen Marxismus und greift auf der Suche nach Alternativen zur angeblichen Starrheit des historischen Materialismus verschiedene Elemente des post-marxistischen Subjektivismus auf. Zu welchen politischen Schlussfolgerungen ist Professor Jameson gelangt? Sein neuestes Buch enthält ein bemerkenswertes Eingeständnis:

„Die Linke hatte ja einmal ein politisches Programm namens Revolution. Daran scheint niemand mehr zu glauben, zum Teil, weil der dafür vorgesehene Handlungsträger verschwunden ist; zum Teil, weil das System, das dadurch ersetzt werden sollte, inzwischen so allgegenwärtig ist, dass an seine Ersetzung überhaupt nicht mehr zu denken ist; und zum Teil, weil schon die mit der Revolution verbundene Sprache so altmodisch und archaisch geworden ist wie die der Gründungsväter. Es ist leichter, so wurde einmal gesagt, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus. Damit dürfte sich auch der Gedanke an eine Revolution zum Sturz des Kapitalismus erledigt haben.“ [11]

Bei einem Vortrag in Frankfurt darf natürlich auch zumindest ein Zitat eines zeitgenössischen Vertreters der Frankfurter Schule nicht fehlen. In einer Diskussion über sein neuestes Buch, „Die Idee des Sozialismus“, wurde Professor Axel Honneth kürzlich gefragt: „Glauben Sie, dass sozialistische Ideen in Deutschland wieder eine größere Rolle spielen werden?“ Darauf antwortete Honneth:

„Ich glaube, der Sozialismus hat nur eine Chance, wenn er eine Form annimmt, die mit unseren gegenwärtigen Erfahrungen irgendwie vereinbar ist. Dazu muss man […] vieles, was veraltet ist am Sozialismus, über Bord werfen: die Vorstellung des Proletariats als revolutionäres Subjekt, die Idee, dass Fortschritt etwas gesetzmäßig Daherkommendes ist, auch die Vorstellung, dass unsere Gesellschaft im Kern ihr einziges zukünftiges zu veränderndes Projekt in der Wirtschaft hat – all das muss man über Bord werfen. Und dann wird man entweder darauf hoffen oder darauf warten können, ob ein solcher revidierter Sozialismus noch einmal die Herzen oder die Gefühle größerer Teile der Bevölkerung ergreift.“

Mit dieser Antwort brachte Honneth auf seine Weise die konservative, zutiefst pessimistische und demoralisierte Einstellung auf den Punkt, die der Frankfurter Schule von ihren Frühzeiten an zu eigen war. Diese Grundhaltung rührt aus dem zentralen Einwand der Frankfurter Schule gegen den Marxismus, das heißt, gegen sein Festhalten an der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse. Für Honneth und die „Schule“, der er angehört, ist der Klassenkampf entweder zum Scheitern verurteilt oder unzulässig, und der Sozialismus darf sich nicht die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln zum Ziel setzen. Der Sozialismus darf nur als Idee fortbestehen.

Die Zitate, die ich hier angeführt habe, sind repräsentativ für die Aussagen der pseudolinken Antimarxisten in den unzähligen Bänden, die sie produziert haben. Was man bei den Autoren der Postmoderne in all ihren Spielarten und der Überbleibsel der Frankfurter Schule jedoch vergeblich sucht, ist ein Programm, das als Grundlage für den revolutionären Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus dienen könnte.

Die Suche nach einer Alternative zum Marxismus ist ein aussichtsloses Unterfangen. Die Professoren, die sich diese unerquickliche und vergebliche Aufgabe gestellt haben, wollen eine Revolutionstheorie ohne Klassenkampf und ein sozialistisches Programm, bei dem der Kapitalismus nicht angetastet wird. Um ein derart abwegiges politisches Vorhaben theoretisch zu begründen, müssen sie zwangsläufig auf Unredlichkeit und Scharlatanerie zurückgreifen.

Wir leben in revolutionären Zeiten. Die Widersprüche, die den Krieg hervorbringen, bereiten auch den Boden für die soziale Revolution. Im Gegensatz zu den Behauptungen der Subjektivisten und Irrationalisten, wonach das von Marx aufgezeigte Subjekt der sozialistischen Revolution verschwunden sei, hat die globale Entwicklung des Kapitalismus die Reihen der Arbeiterklasse enorm verstärkt. Das ist die grundlegende gesellschaftliche Kraft, an die sich Marxisten wenden. Die große Herausforderung, vor der die Marxisten stehen, besteht darin, eine Vorhut aus fortgeschrittenen Arbeitern politisch so auszubilden, dass sie in der Lage ist, die kommende Massenbewegung der Arbeiterklasse zur Eroberung der politischen Macht zu führen. Wie sieht diese Vorbereitungsarbeit aus?

Lenin erklärte in „Materialismus und Empiriokritizismus“, einer brillanten philosophischen Abhandlung aus dem Jahr 1908, dass Marx „die objektive Logik“ der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten entdeckt habe, die die Entwicklung des gesellschaftlichen Seins bestimmen. Er schrieb:

„Die höchste Aufgabe der Menschheit ist es, diese objektive Logik der wirtschaftlichen Evolution (der Evolution des gesellschaftlichen Seins) in den allgemeinen Grundzügen zu erfassen, um derselben ihr gesellschaftliches Bewusstsein und das der fortgeschrittenen Klassen aller kapitalistischen Länder so deutlich, so klar, so kritisch als möglich anzupassen.“ [12]

Fünf Jahre nach Erscheinen von „Materialismus und Empiriokritizismus“, 1914, begann der Erste Weltkrieg. Angesichts des Verrats der SPD und der Zweiten Internationale bemühte sich Lenin um den Zusammenschluss der revolutionären Internationalisten in Europa und der ganzen Welt. Im Gegensatz zu den Apologeten des Imperialismus, die wie Kautsky die objektiven Ursachen des Kriegs vertuschen wollten, deckte Lenin in seinen theoretischen Werken von 1914 bis 1917 die objektiven Ursachen für den imperialistischen Krieg auf und untersuchte damit auch die Gründe für die Ausbreitung des Opportunismus in der Zweiten Internationale. In seiner hervorragenden Analyse des Imperialismus ging es ihm darum, die Logik des Kriegs zu enthüllen. Auf diese Weise ermöglichte er es, das Bewusstsein und das Handeln der russischen und internationalen Arbeiterklasse an die objektiven Prozesse anzupassen, die zur Revolution führten. Diese Übereinstimmung zwischen objektiver Wirklichkeit und dem gesellschaftlichen Bewusstsein der Arbeiterklasse nahm in der Machteroberung der russischen Arbeiterklasse im Oktober 1917 reale Gestalt an.

Die Welt ist heute komplizierter als vor hundert Jahren. Doch die wesentliche Aufgabe bleibt bestehen: Das gesellschaftliche Denken muss mit der Wirklichkeit in Einklang gebracht werden. Die Arbeiterklasse muss die Logik der gegenwärtigen Krise verstehen und so handeln, wie es objektiv notwendig ist. Für ein solches Verständnis gibt es keine andere Grundlage als den Marxismus.

Anmerkungen

[1] Leo Trotzki, Porträt des Nationalsozialismus, Essen 1999, S. 302

[2] Foreign Affairs, August 1, 2016, abrufbar unter: https://www.foreignaffairs.com/print1117930

[3] The Future of the Army, by David Barno and Nora Bensahel (The Atlantic Council, September 2016), S. 7., abrufbar unter: http://www.atlanticcouncil.org/publications/reports/the-future-of-the-army

[4] Ebd., S. 8-9

[5] Ebd., S. 31

[6] „What Makes a Great Power War Possible?,“ by Michael Kofman and Andrei Sushenstov, Russia in Global affairs, June 17, 2016

[7] Marx an Pawel Wassiljewitsch Annenkow in Paris, 28. Dezember 1846, MEW Band 27, S. 451

[8] Zitiert nach Widerspruch 55, S. 29-30, abgerufen unter: http://www.widerspruch.com/artikel/55-all/55-all.pdf" http://www.widerspruch.com/artikel/55-all/55-all.pdf

[9] Zitiert nach Bruno Bosteels, Badiou and Politics(aus dem Englischen)

[10] Veröffentlicht in Radical Philosophy, September/October 2013, p. 44 (aus dem Englischen)

[11] Fredric Jameson, An American Utopia: Dual Power and the Universal Army, Verso 2016 (aus dem Englischen)

[12] W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Werke Bd. 14, Dietz, Berlin 1971, S. 328f.

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