Libysche Küstenwache attackiert Flüchtlingsboot

Das Mittelmeer entwickelt sich immer mehr zum Massengrab. Nach offiziellen Angaben der Vereinten Nationen sind dort in den ersten zehn Monaten dieses Jahres bereits 3.740 Flüchtlinge ertrunken, mehr als im gesamten Vorjahr. Und dies obwohl mit rund 153.000 Flüchtlingen kaum mehr als ein Jahr zuvor über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa gelangt sind.

Die Verantwortung für dieses Massensterben trägt die Europäische Union. Indem sie die Außengrenzen hermetisch abriegelt, halbwegs seetüchtige Boote unter dem Vorwand des „Kampfs gegen Schleuser“ zerstört und Söldnertruppen mit der Abwehr der Flüchtlinge beauftragt, bringt sie diese in zusätzliche Gefahr und zwingt sie, auf seeuntüchtigen Booten auf immer gefährlichere Routen auszuweichen.

Symptomatisch für diese Entwicklung ist ein Vorfall, den die Hilfsorganisation „Sea-Watch“ am Dienstag mit Fotos und Logbucheinträgen dokumentierte. In der Nacht zum 21. Oktober griff die libysche Küstenwache ein Flüchtlingsboot an, schlug mit Knüppeln auf die Insassen ein und zerstörte ihr Schlauchboot. In der ausbrechenden Panik ertranken 30 Menschen.

Der Vorfall ereignete rund 26 Kilometer vor der libyschen Küste vor den Augen der Besatzung des Rettungsschiffs „Sea-Watch 2“, das von der italienischen Rettungsleitstelle zu dem in Seenot geratenen Schlauchboot gerufen und offiziell mit der Rettung betraut worden war. Das libysche Patrouillenboot drängte ein Begleitboot der „Sea-Watch 2“, das Rettungswesten an die Flüchtlinge verteilte, in einem gefährlichen Manöver ab, bevor es das Schlauchboot angriff. Nach dem Zwischenfall konnte die „Sea-Watch 2“ 124 Flüchtlinge lebend retten und vier Leichen bergen. Von weiteren 25 fehlt jede Spur.

Die libysche Küstenwache und die Europäischen Union spielten den Vorfall herunter. Ein libyscher Sprecher erklärtre, es sei lediglich eine Patrouille an Bord des Hilfsschiffes gegangen, um zu überprüfen, ob es sich in libyschen Hoheitsgewässern aufhalte. Die italienische und die deutsche Marine, die mit der Operation Sophia der EU und mit einem Verband der Nato vor Ort sind, behaupteten, keine Kenntnisse von dem Vorfall zu haben.

Dabei war es nicht das erste Mal, dass die libysche Küstenwache brutal gegen Flüchtlingsboote und Rettungsschiffe vorging. Erst im August war die „Bourbon Argos“ der Organisation Ärzte ohne Grenzen von einem libyschen Patrouillenboot beschossen und geentert worden. Damals hatte die libysche Marine erklärt, es habe sich nur um Warnschüsse gehandelt, weil man irrtümlicherweise davon ausgegangen sei, dass sich die „Bourbon Argos“ am Menschenschmuggel beteilige.

Die libysche Küstenwache hat auch immer wieder Flüchtlingsboote außerhalb der territorialen Gewässer aufgebracht und nach Libyen zurückgeschoben, obwohl das nach internationalem Seerecht illegal ist.

Trotz dieser Zwischenfälle halten die EU und die Nato an ihren Plänen fest, die libysche Küstenwache aufzurüsten und als Söldnertruppe für die Flüchtlingsabwehr zu nutzen. Im Rahmen der Operation Sophia sollen in Libyen rund 1.000 Polizisten der Küstenwache ausgebildet und ausgerüstet werden.

„Das Ziel war, die Ausbildung diese Woche zu starten, und sie wird diese Woche starten“, erklärte Antonello De Renzis Sonnino, der Sprecher der Operation Sophia, der Nachrichtenagentur Reuters. Die Ausbildung wird nach Angaben der deutschen Bundesregierung auf zwei Schiffen, einem italienischen und einem niederländischen, beginnen. Ausrüster und Ausbilder werden dabei von Italien, Deutschland, Griechenland, Belgien und Großbritannien gestellt.

Nach Angaben der Bundeswehr geht es bei der Ausbildung der libyschen Küstenwache weniger um Seenotrettung als um Navigation, Positionsbestimmung und militärische Fragen. Sea-Watch-Sprecher Ruben Neugebauer sagte dem Deutschlandfunk: „Von den Verantwortlichen wird immer nur gesagt, dass es darum geht, dieses Seegebiet in den Griff zu bekommen, dort zu einer Reduktion von Flüchtlingszahlen zu kommen. Wenn es wirklich darum gehen würde, eine Search-and-rescue-Truppe auszubilden, dann könnte man auch zivile Retter ausbilden. Dann wäre es nicht nötig, militärische Kräfte auszubilden.“

Entlang der zentralen Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien findet seit Monaten ein massiver Aufmarsch von Kriegsschiffen statt. Das hat die Passage für Flüchtlinge nicht sicherer gemacht, sondern das Risiko, auf der Überfahrt zu ertrinken, weiter erhöht.

Seit Mai dieses Jahres zielt die Operation Sophia der EU vorwiegend auf die Schleuser, die Boote für Flüchtlinge bereitstellen. Zudem operieren Schiffe und Flugzeuge der Nato im Rahmen der Operation Sea Guardian im zentralen Mittelmeer.

Weil die Patrouillen der Operation Sophia viele hölzerne Fischerboote, die wenigstens teilweise hochseetüchtig waren, zerstört haben, werden die Flüchtlinge nun mit völlig seeuntüchtigen, selbstgebauten Schlauchbooten auf die Überfahrt geschickt. Diese sind viel schwerer zu entdecken und haben oftmals nur soviel Treibstoff an Bord, dass sie internationale Gewässer, nicht aber das europäische Ufer erreichen können. Die Flüchtlinge müssen darauf hoffen, auf hoher See gerettet zu werden.

Mit derselben Rücksichtslosigkeit und Brutalität wie im Mittelmeer geht die Europäische Union auch in Europa selbst gegen Flüchtlinge vor: In Calais, wo der sogenannte „Dschungel“ von der französischen Polizei brutal geräumt wurde; in Griechenland, wo die Zustände in den Abschiebelagern so unmenschlich sind, dass Flüchtlinge sie selbst in Brand stecken; und in Osteuropa, wo die Grenzzäune immer undurchdringlicher werden.

Die Zahl der Abschiebungen, auch in Bürgerkriegsländern wie Afghanistan, schnellt überall in Europa drastisch nach oben. Gleichzeitig ermutigt die Hetze von Medien und Parteien Rechtsextreme, gewaltsam gegen Flüchtlinge vorzugehen. So zählte das Bundeskriminalamt in Deutschland in diesem Jahr bis Mitte Oktober 800 Straftaten gegen Flüchtlingsheime, vier Mal so viele wie im gesamten Jahr 2014.

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