Die Rolle von Verdi bei der Privatisierung des öffentlichen Nahverkehrs

In Pforzheim, einer Stadt im Nordwesten Baden-Württembergs, werden zum Januar 2017 alle 250 Mitarbeiter des Nahverkehrsbetriebes Pforzheim Stadtverkehr GmbH (SVP) ihren Job verlieren.

Einige von ihnen werden voraussichtlich zum Nachfolgeunternehmen SüdwestBus, einem Tochterunternehmen der Deutschen Bahn Regio, wechseln. Ihnen droht dann bei ihrem neuen Arbeitsvertrag ein Lohnverlust von 600 Euro. Andere kommen möglicherweise in anderen kleinen Busunternehmen unter, ebenfalls mit empfindlichen Lohneinbußen.

Die erfolgreiche Übernahme des gesamten Busliniennetzes durch SüdwestBus ab 2017 bis 2026 führt zur vollständigen Privatisierung des Nahverkehrs in Pforzheim und der Vernichtung der sich bis dahin in teilprivatisierter Hand befindlichen Arbeitsplätze.

Den rund 120.000 Einwohnern in Pforzheim stehen bislang 16 Buslinien – betrieben von der SVP – zur Verfügung. Auftraggeber und Eigentümer war bis 2005 die Stadt. Zwischen 2006 bis Ende 2013 war die SVP – als erstes größeres öffentliches Verkehrsunternehmen in Deutschland – erst teilprivatisiert, danach wieder vollständig von der Stadt Pforzheim übernommen worden. Ab 2017 wollte die Stadt sich den Betrieb der Linien erneut mit einem Partner teilen.

Doch im Februar 2016 erhielt die SüdwestBus–Regionalbusverkehr Südwest GmbH (RVS) vom Regierungspräsidium Karlsruhe den Zuschlag. Zwei Monate später traten die Mitarbeiter der SVP in einen 11-tägigen Streik gegen die Schließung ihres Betriebs. Die Gewerkschaft Verdi, deren Funktionäre mit im Aufsichtsrat und im Vorstand der SVP sitzen, beließ es jedoch bei ein paar Trillerpfeifendemos, obwohl sich Verdi damals inmitten eines bundesweiten Tarifstreits der mehr als 2 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Bund und Kommunen befand.

Hintergrund ist, dass die Europäische Union im Zuge der Liberalisierung des Öffentlichen Personen-Nahverkehrs (ÖPNV) Anfang der 90er Jahre in Europa eine Privatisierungswelle eingeleitet hatte, die Anfang der 2000er Jahre zum Tragen kam. Die Städte privatisierten in der Regel ihren ÖPNV, indem sie stadteigene Gesellschaften gründeten.

Verdi hat in den Kommunen dies alles mitgetragen. Die Folge war, dass zehntausende Arbeitsplätze im ÖPNV abgebaut, Löhne gesenkt, die Arbeitsbedingungen verschlechtert, die Arbeitshetze erhöht und die Personenbeförderung auf „nicht rentablen Strecken“ reduziert bzw. eingestellt wurde.

Bei auslaufenden Verträgen zwischen Öffentlicher Hand und Nahverkehrsunternehmen müssten nach EU-Recht sogenannte „Neuvergaben“ zum Betreiben des öffentlichen Nahverkehrs ausgeschrieben werden. Der Zuschlag an den besten Bieter macht dann alte Arbeits- und Tarifverträge hinfällig.

Doch um das Eindringen ausländischer Konkurrenten auf den ÖPNV-Markt in Deutschland zu verhindern und bereits bestehende ÖPNV-Unternehmen zu stärken, hatte Verdi in Zusammenarbeit mit dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), den ÖPNV-Unternehmen sowie dem europäischen Dachverband der Gewerkschaften des Transport- und Verkehrswesens, der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF), jahrelange Lobbyarbeit in Brüssel geleistet.

Das führte zur Verabschiedung einer EU-Verordnung, wonach neben einem Ausschreibungsverfahren auch eine „marktorientierte Direktvergabe“ möglich ist.

Eine solche „marktorientierte Direktvergabe“ bietet einerseits den Kommunen die Möglichkeit, andere Bewerber auszuschließen und bewährte Partner – meist die eigenen privatisierten Gesellschaften – zu bevorzugen. Anderseits hat die „Hausgewerkschaft“ ausreichend Zeit, Löhne und Arbeitsstandards so weit zu drücken, dass Belegschaft und Betrieb „marktorientiert“, besser gesagt „marktkonform“ sind.

Im Fall der Stadt Pforzheim kam es jedoch weder zu einer offenen Ausschreibung noch zu der Direktvergabe.

Eine von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen durchgesetzte Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes (PBeFG), die Anfang 2013 in Kraft trat, untergräbt die von Verdi favorisierte EU-Verordnung und schreibt vor, dass bei der Neuerteilung von Liniengenehmigungen ein „eigenwirtschaftlicher Antrag“ Vorrang hat. Danach muss ein Bewerber, der keinerlei öffentliche Zuschüsse benötigt, sondern selbstständig die Personenbeförderung finanzieren und durchführen kann, den Zuschlag für die Beförderung erhalten.

An der Ausarbeitung der Novellierung war auf Seiten der Grünen Anton Hofreiter als Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung beteiligt. Heute ist Hofreiter Co-Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion. Sein Parteifreund Frank Bsirske ist Vorsitzender von Verdi. Mit anderen Worten: Die Partei des Verdi-Chefs war maßgeblich an den jetzt eintretenden Entwicklungen beteiligt, gegen die Verdi nun opponiert.

Und diese Entwicklung ist nur der Anfang. „Überall dort, wo sich Chancen ergeben und es wirtschaftlich ist, werden wir eigenwirtschaftliche Angebote abgeben“, erläuterte ein Sprecher der Deutschen Bahn Regio in der WirtschaftsWoche. „Pforzheim ist wegweisend“, so der Sprecher.

Der Fall hat tatsächlich Modellcharakter, denn mit dem Ausschluss der öffentlichen Hand konnte die Deutsche Bahn AG in Pforzheim eine Vollprivatisierung des Busliniennetzes erzwingen.

In der Zwischenzeit haben schon in zehn mittelgroßen Städten Bewerber mit dem Verweis auf den „Vorrang der Eigenwirtschaftlichkeit“ versucht, ihren Anspruch auf das Betreiben des Personennahverkehrs geltend zu machen.

In Hildesheim war die Deutsche Bahn AG mit ihrem eigenwirtschaftlichen Antrag allerdings vor einigen Wochen gescheitert. Hier hatte das städtische Unternehmen selbst einen eigenwirtschaftlichen Antrag gestellt und den Zuschlag bekommen. Um die Eigenwirtschaftlichkeit tatsächlich zu sichern, stimmte Verdi „nach monatelangen Verhandlungen“ einer Senkung der Personalausgaben durch ein drastisches Rationalisierungsprogramm zu.

Da laut Verdi in den kommenden drei Jahren die Mehrheit aller (üblicherweise zehn Jahre laufenden) Verträge im ÖPNV auslaufen und neu verhandelt werden müssen, fühlt sich Verdi unter Druck und fürchtet um Macht und Privilegien.

Deshalb veröffentlichte Verdi am 17. November einen Offenen Brief an die Bundestagsabgeordneten, der von mehr als 200 Verdi-Betriebs- und Personalratsvorsitzenden aus Verkehrsbetrieben unterzeichnet wurde. Gefordert wird: die Streichung des „Vorrangs eigenwirtschaftlicher Verkehre“, zumindest „jedoch eine Klarstellung im Gesetz, dass auch eigenwirtschaftliche Antragsteller die kommunalen Vorgaben zu sozialen Standards und Beschäftigungsübernahmen sowie der Tariftreuegesetze einhalten müssen“.

Verdi hat dabei nicht die Interessen der Beschäftigten im Auge: „Unsere Unternehmen haben in der Vergangenheit zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit weitreichende Restrukturierungsprozesse durchgeführt, die auch von Beiträgen der Beschäftigten und Eingriffen in die Tarifverträge begleitet waren. Gerade diese hochgradig effizienten Verkehre sind nun besonders durch eigenwirtschaftliche Anträge gefährdet“ – so Verdi im Offenen Brief.

Verdi hat jede Restrukturierungsmaßnahme in Betrieben mit entworfen, begleitet und durchgesetzt. Der Bundestarifvertrag wurde aufgekündigt, neue Landestarifverträge für die Bundesländer (TVN) sowie hunderte Haustarifverträge geschrieben, mit denen die Belegschaften gespalten, die alten Löhne gekürzt und Einstiegslöhne um bis zu 30 Prozent gesenkt wurden. All das war Vorbereitung auf Privatisierung.

Während große Kapitalfonds nach lukrativen Anlagemöglichkeiten Ausschau halten und dabei den öffentlichen Nahverkehr der Großstädte im Auge haben, spielt Verdi eine Schlüsselrolle und versucht die Kontrolle über die bundesweit ca. 130.000 Verkehrsarbeiter aufrecht zu erhalten. Verdi-Funktionäre sitzen in den Aufsichtsräten und Vorständen, stellen häufig die Personalchefs und dominieren die Betriebs- und Personalräte. Verdi versucht die Privatisierung so zu gestalten, dass ihre Macht und ihr Einfluss gesichert bleibt.

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