Perspektive

Der Anschlag von Berlin und der Ruf nach dem starken Staat

Liest und hört man die Kommentare zum Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt, der zwölf Tote und 48 Verletzte forderte, gewinnt man den Eindruck, dass viele ihrer Verfasser erleichtert sind. Ein Dreivierteljahrhundert nach dem Sturz der Nazi-Diktatur können sie endlich wieder nach einem starken Staat rufen, ohne auf die Verbrechen der Vergangenheit Rücksicht zu nehmen.

So sagte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz Klaus Bouillon (CDU) der Rheinischen Post: „Alle unsere Gesetze beruhen darauf, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg eine Geschichte zu verarbeiten hatten. Daher rührt zum Beispiel auch das Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten. Das müssen wir jetzt mal vorurteilsfrei diskutieren.“

Ähnlich äußerte sich der israelische Terrorismus-Experte Shlomo Shpiro in der Talkshow „Maischberger“. „In Deutschland haben Nachrichtendienste einen schlechten Ruf – Stichwort Stasi, Gestapo usw.. Aber die Zeiten sind vorbei,“ erklärte er.

Der Chefredakteur des Bayrischen Rundfunks, Sigmund Gottlieb, überschlug sich in einem Tagesthemen-Kommentar am Mittwochabend geradezu mit Forderungen nach einem starken Staat. „Wir brauchen einen starken Staat, der seine tief verunsicherten Bürgerinnen und Bürger endlich schützt“, sagte er. „Wir brauchen einen starken Staat, der die Kontrolle über den Zuzug der Flüchtlinge zurückgewinnt. Und wir brauchen einen starken Staat, der den Mut zu konsequenter Abschiebung aufbringt.“

Der Anschlag vom Montag ist ein furchtbares Verbrechen. Aber darin die Ursache für die rechte Offensive von Politik und Medien zu sehen, wäre naiv und gefährlich. Die Gewalttat liefert lediglich den Vorwand, um ein Programm der Staatsaufrüstung und des Militarismus zu verwirklichen, das seit langem geplant und vorbereitet wurde. Der reaktionäre Terroranschlag wird dabei benutzt, um die Öffentlichkeit in Wut zu versetzen, Verwirrung zu stiften und Fremdenhass zu schüren.

Als im September bekannt wurde, dass sich die Zahl fremdenfeindlicher Straftaten in Deutschland in den ersten acht Monaten des Jahres auf 1.800 verdoppelt hat, darunter 78 Brandanschläge und sieben Tötungsdelikte, löste dies keinen Aufschrei in den Medien aus. Und seit man vor fünf Jahren erfuhr, dass Neonazis aus Thüringen unter den Augen der Sicherheitsdienste neun Migranten und eine Polizistin ermordet hatten, mauern die Geheimdienste und verhindern jede Aufklärung.

Die Ausnutzung von Terroranschlägen für rechte Zwecke ist eine internationale Erscheinung.

Drei Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA hatte die World Socialist Web Site gewarnt: „Die Angriffe auf das World Trade Center und auf das Pentagon müssen als Gelegenheit herhalten, weitreichende politische Pläne durchzusetzen, die vom äußersten rechten Flügel der herrschenden Elite bereits seit Jahren lautstark eingefordert werden. … Die Politik, die jetzt vertreten wird – eine unbeschränkte Ausweitung amerikanischer Militäraktionen im Ausland und ein hartes Durchgreifen gegen die Vertreter abweichender Meinungen im Innern – wurde von langer Hand vorbereitet.“

Unter dem Schock der einstürzenden Türme des World Trade Centers hielten das damals viele für übertrieben. Doch 15 Jahre danach haben sich USA grundlegend verändert. Der „Krieg gegen den Terror“ lieferte den Vorwand für pausenlose imperialistische Kriege und die Zerstörung großer Teile des Mittleren Ostens. Unter dem Dach des Department of Homeland Security entstand ein gewaltiger Überwachungs- und Repressionsapparat.

Nun fällt er in die Hände der rechtesten Regierung in der amerikanischen Geschichte, die nicht zögern wird, ihn gegen politische Gegner einzusetzen. Der zukünftige Präsident Donald Trump hat den Berliner Anschlag bereits als Bestätigung für seine Pläne angeführt, die Immigration von Muslimen in die Vereinigten Staaten zu stoppen und ein Verzeichnis aller in den USA lebenden Muslime anzulegen.

Ähnlich verhielt es sich mit den Anschlägen vom November 2015 in Paris. Die französische Regierung nutzte sie, um den Ausnahmezustand zu verhängen und immer wieder zu verlängern. Unter dem Deckmantel des Kampfs gegen den Terror kann der französische Staat seither gegen jeden vorgehen, den er als Bedrohung der „Sicherheit und der öffentlichen Ordnung“ bezeichnet, und das verfassungsmäßig verbriefte Streik- und Demonstrationsrecht unterdrücken. Schwerbewaffnete militärische und paramilitärische Kräfte patrouillieren im ganzen Land und haben die Vollmacht, jede Wohnung zu durchsuchen und jede Person festzunehmen oder zu töten, die sie als Bedrohung bezeichnen.

Sowohl in den USA wie in Frankreich kannten die Geheimdienste die Attentäter vorher und beobachteten sie, ohne die Anschläge zu verhindern. Der Verdacht, dass Elemente im Staatsapparat von den Anschlagsplänen wussten und diese zuließen, drängt sich in beiden Fällen auf. Dasselbe zeichnet sich nun auch in Deutschland ab.

Der 24-jährige Tunesier Anis Amri, der inzwischen als Hauptverdächtiger gilt, saß bereits in Italien im Gefängnis. Er war auch im Visier der amerikanischen Geheimdienste, die ihn auf ihrer Flugverbotslise führten. Im vergangenen Jahr kam er nach Deutschland und wurde vom Staatsschutz beobachtet, der ihn als einen der riskantesten „Gefährder“, also potentiellen Terroristen, einstufte.

Die Behörden wussten, dass er in engem Kontakt zu einem dschihadistischen Netzwerk stand, andere Personen für „islamistisch motivierte Taten“ anwarb und beabsichtigte, „großkalibrige Schnellfeuergewehre über Kontaktpersonen in der französischen Islamistenszene zu beschaffen“. Nordrhein-Westfalen leitete deshalb sogar ein Verfahren wegen Vorbereitung einer schweren, staatsgefährdenden Straftat gegen Amri ein, das dann an Berlin abgegeben wurde.

Es ist schlichtweg nicht glaubhaft, dass ihn die Behörden dann einfach „aus den Augen verloren“, wie sie nun behaupten. An den erforderlichen Gesetzen, um gegen ihn vorzugehen, mangelte es jedenfalls nicht.

Der wirkliche Grund für die rechte Offensive in Deutschland und weltweit ist die tiefe Krise des Kapitalismus und die damit verbundene Zuspitzung sozialer und zwischenstaatlicher Konflikte.

Die Nachkriegsordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg für eine gewisse Stabilität zwischen den imperialistischen Mächten sorgte, ist in einem fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls. Mit der Regierungsübernahme Donald Trumps wird sich nicht nur der Konflikt zwischen den USA und China weiter verschärfen, sondern auch die Spannungen mit Europa und innerhalb Europas selbst. Das Anwachsen von Armut auf der einen Seite und unbeschreiblichem Reichtum einer kleinen Finanzoligarchie auf der anderen setzt heftige Klassenkämpfe auf die Tagesordnung.

Der islamistische Terrorismus ist selbst ein Ergebnis der Kriege, die die USA und ihre europäischen Verbündeten seit einem Vierteljahrhundert im Mittleren Osten führen und an denen sich Deutschland in wachsendem Maße beteiligt. Die Zerstörung ganzer Länder, unsägliche Demütigungen der einheimischen Bevölkerung und imperialistische Kriegsverbrechen haben einen fruchtbaren Boden für die Rekrutierung von Islamisten geschaffen. Fast alle dschihadistischen Milizen sind ursprünglich von den USA und ihren regionalen Verbündeten, wie Saudi-Arabien und Katar, als Söldnertruppen aufgebaut worden und werden bis heute von ihnen unterstützt.

1933 ernannten die deutschen Eliten auf dem Höhepunkt einer tiefen Wirtschaftskrise Adolf Hitler zum Kanzler, weil sie die brutalen Methoden der Nazis brauchten, um die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und einen Krieg vorzubereiten, den sie für nötig hielten, um ihre wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen. Dass sie nun wieder nach dem starken Staat rufen, muss als Warnung verstanden werden.

Überall auf der Welt rücken die herrschenden Eliten nach rechts, weil sie sich auf die Unterdrückung von Klassenkämpfen und weitere Kriege vorbereiten. Diese Gefahr kann nur durch eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse gestoppt werden. Die dringendste Aufgabe im Kampf gegen rechts – gegen Militarismus, Diktatur und soziale Konterrevolution – ist der Aufbau einer Partei, die der Arbeiterklasse eine unabhängige sozialistische Orientierung gibt. Es geht darum, die Arbeiterklasse und die Jugend international, unabhängig von Herkunft und Nationalität im Kampf gegen den Kapitalismus zu vereinen. Dafür kämpfen die Partei für Soziale Gleichheit und ihre europäischen und internationalen Schwesterparteien.

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