Großrazzia in Hessen

Die Großrazzia, die das hessische Innenministerium am Mittwoch, dem 1. Februar, frühmorgens im Rhein-Main-Gebiet organisierte, stellt einen beispiellosen Akt der Einschüchterung gegen Muslime dar. Um vier Uhr morgens überfielen 1100 Polizisten zahlreiche Wohnungen, Geschäftsräume und zwei Moscheen. Betroffen waren Frankfurt, Offenbach, Darmstadt, Limburg, Wiesbaden, der Kreis Groß-Gerau, der Kreis Marburg-Biedenkopf und der Main-Taunus-Kreis.

Im Ganzen wurden 56 Objekte durchsucht, 33 davon in Frankfurt. Wie die Betreiber der Bilal-Moschee in Frankfurt-Griesheim berichten, umstellten mindestens zwölf Mannschaftswagen das Gebäude, und martialisch bewaffnete Polizisten traten sämtliche Türen gewaltsam ein, obwohl ein Imam mit allen Schlüsseln daneben stand. Sie demolierten den Grundstückszaun, schlugen Glasfenster ein und warfen in der Bibliothek alles durcheinander.

Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) sagte am Mittwochvormittag in einer Pressekonferenz, die Razzia sei „eine deutliche Botschaft an die radikalen Islamisten in Hessen: Wir haben die Szene fest im Blick“.

Die Aktion sei Bestandteil von Ermittlungen gegen sechzehn Verdächtige im Alter zwischen 16 und 46 Jahren. Gegen diese Personen bestehe der „Verdacht der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung und der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat“, heißt es auf der Homepage des Landeskriminalamts (LKA) Hessen.

Eine Person, ein 36-jähriger Tunesier, wurde verhaftet und ließ sich widerstandslos festnehmen. Er war der Polizei kein Unbekannter: Letztes Jahr saß er schon insgesamt 83 Tage in Haft. Er hatte von 2003 bis 2013 in Hessen gelebt und war im Sommer 2015 zum zweiten Mal nach Deutschland eingereist. Darauf habe er sich nach Polizeiangabe ab August 2015 als „Schleuser und Anwerber für den IS“ betätigt. Am 15. August 2016 wurde er festgenommen.

Gegen ihn lief gleichzeitig ein Auslieferungsantrag der tunesischen Behörden, weil er ein mutmaßlicher Mitorganisator der Anschläge auf das Bardo-Museum in Tunis im März 2015 und auf die tunesische Grenzstadt Ben Guerdane im März 2016 sei.

Der Mann verbüßte in Hessen zunächst eine Ersatzfreiheitsstrafe aus dem Jahr 2008 wegen Körperverletzung. Danach saß er weitere vierzig Tage in Auslieferungshaft. Die tunesischen Behörden sollen jedoch die zur Auslieferung benötigten Papiere nicht rechtzeitig beigeschafft haben. Mit dieser Begründung wurde er am 4. November 2016 aus der Haft entlassen.

Der ganze Fall erinnert stark an die Umstände das Anschlags in Berlin, bei dem der mutmaßliche Täter Anis Amri einen LKW in einen Weihnachtsmarkt lenkte. Auch Amri war, wie sich herausstellte, zuvor schon in Haft und unter ständiger staatlicher Beobachtung gewesen. Nach seinem Anschlag, der zwölf Menschen tötete, nutzten Behörden und Medien das öffentliche Entsetzen aus, um eine günstige Stimmung für die innere Aufrüstung und die massenhaften Abschiebungen zu erzeugen.

Auch die Operation in Hessen wirft zahlreiche Fragen auf.

Laut der Presseerklärung des hessischen LKA hat der Generalbundesanwalt am 25. Oktober 2016 das Ermittlungsverfahren gegen den 36-jährigen Tunesier an den Generalstaatsanwalt in Frankfurt am Main abgegeben. Der Mann wurde der aktiven Unterstützung der Terrororganisation Islamischer Staat beschuldigt. In Tunesien lief gegen ihn das Verfahren wegen Beteiligung an den zwei Terroranschlägen, denen dreißig Menschen zum Opfer gefallen waren.

Dennoch wurde derselbe Mann zehn Tage später, am 4. November 2016, auf freien Fuß gesetzt.

Zu dieser Zeit liefen die Vorbereitungen auf die Razzia schon auf Hochtouren. Die Aktion war, wie LKA-Pressesprecher Max Weiß betonte, von langer Hand geplant. Eine Gruppe von 150 Beamten hatte die Razzia vier Monate lang vorbereitet. Zu der Gruppe gehörten die Generalstaatsanwaltschaft und die Staatsanwaltschaft Frankfurt, das Hessische Landeskriminalamt (LKA) und die Polizei.

Die Frage drängt sich auf: Hatten die Behörden den Tunesier freigelassen, um ihn als Lockvogel zu nutzen? Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft soll er seit seiner Freilassung rund um die Uhr von Einsatzkräften des LKA observiert worden sein.

Auch die Beschuldigungen gegen die übrigen Verdächtigen werfen Fragen auf. Sie stehen in krassem Widerspruch zur Ausbeute der Razzia, die nur als dürftig bezeichnet werden kann: Zwar wurden über hundert Speicherkarten und Datenträger, wie auch „Stichwaffen“ und im Ganzen 28.000 Euro beschlagnahmt. Mobiltelefone, Computer, Geld und selbst Messer sind aber Objekte, die sich praktisch in jedem Haushalt finden können. Weder Schusswaffen noch Sprengstoff-taugliche Chemikalien wurden entdeckt.

Auch sagte Oberstaatsanwalt Alexander Badle auf der Pressekonferenz, das Netzwerk habe in Deutschland kein konkretes Anschlagsziel im Auge gehabt, und es habe „keine konkrete Terrorgefahr“ bestanden.

Die Beschuldigten wurden im Schlaf überrascht und erkennungsdienstlich behandelt. In der Presseerklärung heißt es, gegen diese Personen seien die „üblichen Standardmaßnahmen“ „umfassend operativ durchgeführt“ worden. Nur einer von ihnen, ein sechzehnjähriger Deutsch-Afghane, befinde sich im Ausland. Die Staatsanwaltschaft ermittle gegen ihn, weil er die Absicht geäußert habe, nach Syrien zu fliegen, um sich islamistischen Gruppen anzuschließen. Er sei aber schon im letzten September nach Afghanistan ausgereist.

Was im Endergebnis übrig bleibt, sind erstens vierzehn Menschen, denen im Allgemeinen eine „schwere staatsgefährdende Gewalttat“ vorgeworfen wird, bei denen aber im Konkreten weder ein Aktionsplan noch ein Anschlagsziel, weder Waffen noch Sprengstoff aufgefunden wurden. Und zweitens ein „Hauptbeschuldigter“, den die Behörden zu Beginn ihrer Operation, am 4. November, bewusst und mit Wissen der Generalstaatsanwaltschaft auf freien Fuß gesetzt hatten, seither rund um die Uhr observierten und am 1. Februar wieder verhafteten.

Die Razzia ist Bestandteil einer bundesweiten Kampagne zum Aufbau eines Polizeistaats. Gleichzeitig ist sie darauf ausgerichtet, die Bevölkerung zu spalten und Stimmung gegen Muslime zu machen. Auch in Berlin, Nordrhein-Westfalen und andern Bundesländern wurden vor kurzem ähnliche Razzien durchgeführt. Erst am 31. Januar, am Vorabend der hessischen Razzia, wurden in Berlin mehrere Wohnungen und eine Moschee durchsucht und drei Männer festgenommen.

Am Tag der hessischen Razzia beschloss das Regierungskabinett den Einsatz von Fußfesseln für so genannte „extremistische Gefährder“ – an sich schon ein juristisch höchst fragwürdiger Begriff. In offensichtlicher Verletzung der Unschuldsvermutung können diese Fußfesseln, die bisher nur aufgrund eines Richterspruches zum Einsatz kamen, künftig auch durch Beamte des Kriminalamts verfügt werden, „wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Betroffene einen Anschlag begehen könnte oder sein Verhalten darauf hindeutet“.

Hessens schwarz-grüne Landesregierung ist Vorreiterin dieser Polizeistaats-Politik. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) rühmt sich gerne, seine Polizei sei die „bestausgebildete, bestausgerüstete und bestbezahlte Polizei in Deutschland“. Schon als Innenminister unter Roland Koch führte Bouffier in Hessen sehr früh die Videoüberwachung, die Schleierfahndung, automatische Lesegeräte für Autokennzeichen und die Ortung von Mobiltelefonen ein. Bouffier unterstützt auch die Politik der Abschottung gegen Flüchtlinge und hat erst vor kurzem vorgeschlagen, im Mittelmeer aufgegriffene Menschen zurück nach Afrika zu schaffen und in Tunesien oder Ägypten spezielle Aufnahmezentren dafür bauen zu lassen.

Mitverantwortlich für die Aufrüstung sind aber auch die Grünen, die in der hessischen Landesregierung mit Tarek Al-Wazir den Juniorpartner stellen. Al-Wazir ist Wirtschafts- und Verkehrsminister und Stellvertreter des Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU). Die hessischen Grünen unterstützen das martialische Vorgehen der Polizei. Vor kurzem haben sich ihre Mitglieder in der hessischen Landesregierung einer gemeinsamen Erklärung der Grünen aus zehn Bundesländern angeschlossen, die sich ausdrücklich dafür ausspricht, Abschiebungen nach Afghanistan nicht länger zu blockieren.

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