25 Jahre nach dem Vertrag von Maastricht

Vor 25 Jahren, am 7. Februar 1992, unterzeichneten die Außen- und Finanzminister der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im holländischen Maastricht den „Vertrag über die Europäische Union“.

Der Vertrag, auf den sich die Staats- und Regierungschefs zwei Monate zuvor am selben Ort geeinigt hatten, stellte die Weichen für die Verwandlung der zwölf Mitglieder zählenden EWG in die inzwischen 28 Mitglieder umfassende Europäische Union, für die Einführung einer gemeinsamen Währung und für eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen Außenpolitik, Militär, Polizei und Justiz.

Obwohl der Maastricht-Vertrag das Ergebnis heftiger Auseinandersetzungen war, fehlte es damals nicht an Superlativen. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl bezeichnete ihn als „entscheidenden Durchbruch“ für Europa, und der französische Präsident François Mitterrand schwärmte: „Europa, so wie es jetzt umgesetzt wird, ist in der Lage zu begeistern, zu vereinen und Hoffnung zu geben.“

25 Jahre danach befindet sich die EU in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. Brexit, Eurokrise, Staatsverschuldung, Flüchtlinge, Spannungen zwischen Osten und Westen, Norden und Süden sowie der Aufstieg rechter, chauvinistischer Parteien drohen sie zu sprengen. Unter dem neuen Präsidenten Donald Trump treiben nun auch noch die USA einen Keil in die Europäische Union.

Unter der Oberfläche entwickeln sich explosive soziale Spannungen. Jeder zehnte Einwohner Europas ist offiziell arbeitslos, jeder vierte – das sind 188 Millionen – von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. In den ärmsten Ländern Osteuropas liegt der monatliche Durchschnittslohn bei 400 Euro, aber auch in den reicheren Ländern arbeiten Millionen in prekären Verhältnissen am Rande des Existenzminimums.

Die herrschende Klasse hat auf diese Krise nur eine Antwort: Militarismus, Staatsaufrüstung, Abschottung der Grenzen und mehr Austerität. Der scheidende deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, der an der Universität Maastricht eine Rede zum 25. Jubiläum hielt, brachte es auf den Punkt.

Nachdem er den Maastricht-Vertrag als „Chiffre für ein in Frieden und Freiheit geeintes Europa“ verklärt und notgedrungen zugegeben hatte, dass die EU „von Krisen und Zweifeln erschüttert“ werde, folgerte Gauck: „Es ist an der Zeit, dass die europäischen Staaten und besonders auch Deutschland, die sich lange unter dem Schild der amerikanischen Führungsmacht eingerichtet hatten, selbstbewusster und selbstständiger werden.“

Deutschland und Europa, so Gauck, müssten „Verantwortung für die Stabilisierung der internationalen Ordnung“ übernehmen und ihre „Verteidigungsbereitschaft erhöhen“. Er rechtfertigte diesen Aufruf zum Militarismus mit der zynischen Begründung: „Wir dürfen die Werte, auf denen das europäische Projekt beruht, nicht preisgeben.“

In deutschen Medien wird seit langem diskutiert, man dürfe den Brexit und die Bedrohung durch Trump nicht nur als Gefahr, sondern auch als Chance begreifen – als Chance, wieder militärisch aufzurüsten und Europa (oder ein Kerneuropa) unter deutscher Vorherrschaft zusammenzuschweißen. Das stößt notgedrungen auf Widerstand in anderen Ländern, gibt rechten, nationalistischen Kräften Auftrieb und ruft scharfe nationale Spannungen hervor.

Die europäische Arbeiterklasse steht so vor einer doppelten Gefahr, die sich bei näherem Hinsehen als zwei Seiten einer Medaille erweist: Der Verwandlung der EU aus einer Wirtschafts- in eine Militärunion, die – wie in Frankreich, wo seit 15 Monaten Ausnahmezustand herrscht – auch im Innern aufrüstet, um sozialen und politischen Dissens zu unterdrücken; und der Zersplitterung Europas in rechte Nationalstaaten, die sich wie in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts gegenseitig bekämpfen. Sollte Marine Le Pen am 7. Mai die französische Präsidentenwahl gewinnen, gilt eine solche Entwicklung als unausweichlich.

Um dieser Gefahr entgegenzutreten, müssen die Lehren aus der Bilanz der EU gezogen werden.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale hat die Illusionen in die EU nie geteilt. Drei Tage nach dem Gipfel von Maastricht bezeichneten wir die dort getroffenen Vereinbarungen als „Antwort der mächtigsten europäischen Kapitalistengruppen auf die Verschärfung der Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft und den Zusammenbruch der Sowjetunion“, die „gleichzeitig die Krise innerhalb von Europa selbst“ vertiefe. [1]

Wir warnten vor heftigen Angriffen auf die sozialen Rechte der Arbeiter, den Bemühungen der europäischen Bourgeoisie, sich die „politischen und militärischen Mittel“ zu verschaffen, „um auf der Weltbühne als Großmacht aufzutreten“, und der Stärkung „extrem nationalistischer Tendenzen“.

„Die Wiederbelebung von Nationalismus und Chauvinismus ist nur die Kehrseite des Versuchs, Europa unter dem Diktat des Finanzkapitals zu vereinen“, schrieben wir. „Unter kapitalistischen Voraussetzungen ist ein Vereintes Europa nicht zu verwirklichen. … Eine Europäische Union unter kapitalistischen Vorzeichen kann nur bedeuten, dass sich die eine oder die andere kapitalistische Finanzclique alle anderen gewaltsam unterwirft. Sie lässt dieselben Gegensätze wieder aufflammen, die schon zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg geführt haben.“

Diese Einschätzung hat sich nach 25 Jahren voll bestätigt. Die europäische Bourgeoisie konnte ihr bankrottes Projekt nur derart lange aufrecht erhalten, weil die sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien und Gewerkschaften und ihr pseudolinkes Umfeld sich voll hinter die EU und ihre Angriffe auf die Arbeiterklasse stellten, oder sich an die rechten nationalistischen Kräfte anpassten, die von der arbeiterfeindlichen Politik profitierten.

Aber die Lage verändert sich. Die weltweite Krise des Kapitalismus, die im Aufstieg Trumps und dem Niedergang der EU ihren schärfsten Ausdruck findet, schafft auch die objektiven Voraussetzungen für eine neue Offensive der Arbeiterklasse. Diese kann nur Erfolg haben, wenn sie für eine internationale sozialistische Perspektive kämpft.

Was wir vor 25 Jahren schrieben, gilt auch heute uneingeschränkt: „Die Vereinigung Europas, welche die Grundlage für eine ungeahnte Entwicklung der Produktivkräfte und einen gewaltigen gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt schaffen würde, ist nur in Form Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa als Bestandteil einer sozialistischen Weltrepublik möglich, sie kann nur durch die Arbeiterklasse verwirklicht werden.“

Anmerkungen

[1] Peter Schwarz, „EG-Gipfel in Maastricht: Ein Schritt zum Krieg“, 13. Dezember 1991, in „Vierte Internationale“, Jg. 19 Nr. 1, S. 148-151

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