Polen: Kritik an der EU nach Tusk-Wahl

Führende Vertreter der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und zahlreiche polnische Medien haben mit Entrüstung auf die Wiederwahl von Donald Tusk zum EU-Ratspräsidenten reagiert.

Die PiS-Regierung hatte sich seit Monaten bemüht, die Wiederwahl von Tusk zu verhindern, der von 2003 bis 2014 Vorsitzender der liberalen Oppositionspartei Bürgerplattform (PO) und von 2007 bis 2014 polnischer Regierungschef war. Im vergangenen Jahr hatte sie sogar versucht, Tusk vor Gericht zu bringen. Und einen Tag vor dem Gipfel forderte Premierministerin Beata Szydło in einem offenen Brief die Ablösung von Tusk.

Auf dem EU-Gipfel am vergangenen Donnerstag war Polen dann das einzige Land, das gegen Tusk stimmte. Um eine zweite Amtsperiode von Tusk zu verhindern, stellte die polnische Regierung mit Jacek Saryusz-Wolski sogar einen Gegenkandidaten auf. Trotzdem wurde Tusks Amtszeit als EU-Ratspräsident mit den Stimmen aller anderen 27 EU-Mitglieder bis Ende 2019 verlängert.

Die Ablehnung Tusks durch die PiS-Regierung hat sowohl innen- wie außenpolitische Gründe.

Obwohl Tusk nach seinem Umzug nach Brüssel vom PO-Vorsitz zurücktrat, gilt er weiterhin als informeller Chef der größten Oppositionspartei, die sich in heftigem Konflikt mit der PiS-Regierung befindet. Der Konflikt war vergangenen Dezember mit einer Barrikade und Besetzung des polnischen Sejms (Parlament) eskaliert.

Die PO kritisiert die autoritären Maßnahmen der PiS-Regierung, insbesondere die faktische Entmachtung des Verfassungsgerichts, und wird von der EU darin unterstützt, die Polen sogar Sanktionen angedroht hat.

PiS-Chef Jarosław Kaczyński hat Tusk deshalb vorgeworfen, er verletze „elementare Grundsätze der Europäischen Union“. Er verletze den Grundsatz der Neutralität und gehe „sogar soweit, eine Opposition zu unterstützen, die sich selbst totalitär nennt und die Regierung mit außerparlamentarischen Methoden stürzen will“.

Außenpolitisch orientiert sich die PiS Regierung primär auf die USA, währen die PO für eine enge Zusammenarbeit mit der EU und insbesondere mit Deutschland eintritt. Die polnische Regierung bezeichnete Tusk deshalb als „deutschen Kandidaten“.

Tusk hat als EU-Ratspräsident in praktisch allen Fragen die Linie von Bundeskanzlerin Angela Merkel vertreten. Die amerikanische Zeitschrift Politico zitierte letztes Jahr einen SPD-Berater mit den Worten: „Man kann ihm vertrauen, er ist zuverlässig, er kann Geheimnisse für sich behalten. Jeder weiß, dass Merkel Tusk verzweifelt braucht, um die östlichen Länder unter Kontrolle und ruhig zu halten. Sie wird es nie zulassen, dass er fällt.“

Die Visegrad-Länder – Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien – die sich ansonsten oft gegen Berlin verbünden, waren über die Wahl von Tusk gespalten. Ungarn, die Slowakei und Tschechien hatten von vornherein erklärt, Tusk zu unterstützen. Medienberichten zufolge hatte der rechte ungarische Premierminister Viktor Orban, der gute Beziehungen zur PiS unterhält, noch versucht, einen Kompromiss mit Polen zu erreichen. Dies ist aber offenbar gescheitert.

Mit der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten sind die außenpolitischen Konflikte innerhalb der polnischen Bourgeoisie weiter eskaliert. Diese befindet sich objektiv in einem Dilemma. Sie arbeitet seit der Einführung des Kapitalismus 1989 eng mit den USA zusammen, insbesondere gegen Russland, ist aber gleichzeitig auf die EU und Deutschland als wichtigsten Handelspartner Polens angewiesen.

Mit Trumps Präsidentschaft haben sich die Konflikte zwischen den USA und der EU und Deutschland verschärft. Gleichzeitig ist nicht klar, wie weit sich Warschau in Zukunft noch auf die außenpolitische Unterstützung Washingtons verlassen kann.

Unter diesen Bedingungen schlagen die außenpolitischen Wogen in Warschau hoch. Bemerkenswerterweise versuchte die PiS-Regierung gleich nach dem Amtsantritt von Trump im Januar die Spannungen mit Berlin zu dämpfen. Beim Warschau-Besuch Merkels im Februar bemühten sich beide Seiten, die Auseinandersetzungen der vergangenen eineinhalb Jahre herunterzuspielen.

Dennoch gibt es weiterhin grundlegende Differenzen zwischen der PiS-Regierung, die eine Dominanz Europas durch Deutschland fürchtet, und Berlin. Unter anderem geriet die PiS mit Tusk aneinander, weil dieser wie Berlin einen „harten Brexit“ befürwortet. Die PiS versucht hingegen die polnisch-britischen Beziehungen zu stärken.

Führende polnische Politiker haben deshalb auf Tusks Wiederwahl mit Wut und Entrüstung reagiert. Sie werten sie als Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Polen und der EU.

So erklärte Verteidigungsminister Witold Waszczykowski am Samstag in der polnischen Sunday Express, Tusk sei erneut gewählt worden, weil die „EU unter einem Diktat von Berlin“ stehe. Nun müsse Polen „eine enorme Welle von Erpressungen und Druck“ und eine „Koalition gegen Polen“ erwarten.

Gleichzeitig drohte er, Polen werde nun verstärkt eine eigenständige Politik innerhalb der EU verfolgen. Warschau müsse „sein Vertrauensniveau gegenüber der EU dramatisch senken“ und Initiativen von anderen Mitgliedsstaaten in Zukunft blockieren. Einen Austritt Polens aus der EU schloss Waszczykowski jedoch als „Unsinn“ aus. „Wir sind in der Union. Wir sind immer noch im Spiel.“

Während oppositionsnahe Medien wie die liberale Newsweek Polska die Wiederwahl von Tusk als „Niederlage von Kaczyński“ begrüßten, veröffentlichte die konservative Zeitung Rzeczpospolita einen Kommentar mit dem Titel „Das hässliche Gesicht der Union“. Darin wertete die einflussreiche Zeitung die Tusk-Wahl als gezielte „Demütigung“ Polens. Der Kommentar schließt mit den Worten: „Wie oft hören wir, dass die Europäische Union eine große Familie ist. Vielleicht ist sie wirklich eine Familie, aber vor allem eine dysfunktionale.“

Der polnische Präsident Andrzej Duda gratulierte Tusk erst nach 24 Stunden zur Wiederwahl – eine ungewöhnlich lange Zeit.

Premierministerin Beata Szydło griff nach dem EU-Gipfel Deutschland und Frankreich scharf an. Sie erklärte, die Wahl von Tusk markiere einen traurigen Tag und habe Prinzipien der EU verletzt. Sie forderte, die Regeln für die Wahl müssten so geändert werden, dass kein Kandidat ohne Zustimmung seines Landes gewählt werden könne.

Dann griff Szydło das Konzept eines „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ an, das von Paris und Berlin vertreten wird, und forderte eine Stärkung der Rechte der nationalen Parlamente innerhalb der EU. Die PiS-Regierung lehnt insbesondere den Aufbau einer EU-Armee, wie sie Berlin anstrebt, und einen harten „Brexit“ ab.

Die heftigen Reaktionen Polens gegen die Wiederwahl Tusks sind ein weiteres Symptom für die Krise der EU, die unter dem Druck einer tiefen wirtschaftlichen Krise und wachsender nationaler Spannungen auseinanderbricht.

Die Welt warnte in einem Kommentar, Polen werde „sich für diese Niederlage bitter rächen“. Die Angelegenheit werde für Polen und für die Europäische Union weitreichende Folgen haben. „Polen ist von enormer Bedeutung fürs europäische Miteinander. Und Warschau hat Mittel, die Europäische Union unter Druck zu setzen – als Vetomacht.“

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