Niederlande: Soziale Fragen beschäftigen die Wähler

Eine Reportage aus Venlo

Die Stadt Venlo mit ihren 100.000 Einwohnern befindet sich direkt an der deutsch-niederländischen Grenze. An einem Samstag strömen viele Tausend Menschen aus den benachbarten deutschen Städten – insbesondere aus dem Ruhrgebiet – zum Einkaufen in die Stadt.

Die Wahlen am Mittwoch sind hier nicht sehr präsent. Ein Wahlstand irgendeiner Partei ist in Venlo nicht zu sehen, nur vereinzelt erblickt man Wahlplakate. Doch im Gespräch mit Arbeitslosen, Arbeitern und Studenten wird deutlich, dass soziale Fragen alle bewegen. Seit Jahrzehnten, insbesondere aber nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, werden soziale und demokratische Errungenschaften abgebaut, für die die Niederlande einst standen.

Heute gleicht die Situation in den Niederlanden der in fast allen europäischen Ländern. Relativ gut bezahlte Jobs in Handel und Industrie sind rar geworden, Billiglohnarbeit hat sich ausgebreitet. Die soziale Absicherung – Rente, Gesundheit, Arbeitslosengeld – ist ebenso stark eingeschränkt wie der kostenlose Zugang zu Bildung. Armuts- und Arbeitslosenzahlen werden durch statistische Tricks kleingerechnet.

Aufgrund der Lage an der Maas haben sich rund um Venlo zahlreiche Logistik- und Transportzentren angesiedelt. Waren jeglicher Art werden vom Hafen in Rotterdam mit dem Schiff, dem LKW oder dem Zug nach Venlo transportiert, um von hier aus in ganz Europa verteilt zu werden. Zudem sind die Niederlande aufgrund ihres industriell organisierten Gemüse- und Blumenanbaus bekannt.

Andreas, Victor und Dimitris

Die ersten, auf die wir trafen, waren denn auch drei griechische Arbeiter. Andreas (27), Dimitris (28) und Victor (30) stammen aus der Gegend um Thessaloniki und arbeiten für sechs Monate im Jahr in den Niederlanden als Saisonarbeiter, Andreas schon seit sieben Jahren.

„Viele Griechen in unserem Alter arbeiten hier“, berichten sie. „Zuhause in Griechenland bekommen wir nur schwer Jobs“, sagt Dimitris. „Und wenn, können wir höchstens 700 Euro im Monat verdienen.“ Hier würden sie anfangs 7,50 Euro pro Stunde verdienen, nach einiger Zeit auch bis zu 9 Euro.

Dimitris ist erst kürzlich in die Niederlande gekommen. Er weiß daher nicht, ob er nach der Saison wie Andreas und Victor wieder zurück nach Griechenland geht. Victor möchte auf jeden Fall zurück, er ist vor fünf Monaten Vater geworden und möchte seine Frau und seine kleine Tochter wiedersehen.

Von dem Geld, das sie verdienen, müssen sie eine kleine Wohnung in der Nähe von Venlo bezahlen. Zwei bis drei Saisonarbeiter teilen sich eine Wohnung, die monatlich rund 700 Euro kostet. Dennoch müssen sie von ihrem Lohn etwas sparen, um außerhalb der Saison davon zu leben.

„Von den Wahlen hier bekommen wir nicht viel mit“, sagt Andreas. „Wir arbeiten hart und mit den niederländischen Kollegen sprechen wir nicht viel. Wir haben schon gehört, dass hier Parteien gegen Ausländer sind. Aber wir haben hier keine Probleme mit Rechten.“

Aseel

Der 43-jährige Aseel aus dem Irak ist seit 15 Jahren in den Niederlanden. Er floh aus seinem Heimatland kurz nach der zweiten US-Invasion 2003. Lange hatte er in Amsterdam gelebt, jetzt wohnt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in der Nähe von Venlo.

Er hatte in Bagdad als Kunstredakteur bei unterschiedlichen Medien gearbeitet. Seit zwei Jahren ist er arbeitslos. „Ich bin gesundheitlich angeschlagen, hatte einen Herzinfarkt und Magenprobleme“, berichtet er. „Jetzt lebe ich mit meiner Familie von 1200 Euro im Monat, davon geht dann noch die Miete ab, so dass wir nur rund 500 Euro zum Leben haben.“

Aseel meint, eine Familie mit zwei Kindern benötige in den Niederlanden etwa 3000 Euro, damit alle relativ gut über die Runden kommen. Das Geld, das er erhält, reiche vorne und hinten nicht. „Mein älterer Sohn will studieren, das kostet jetzt auch Geld. Heute bin ich mit meiner achtjährigen Tochter hier. Sie fragt, warum sie keine Adidas-Schuhe wie ihre Freundinnen bekommen kann.“

Aseel hat einen niederländischen Pass und könnte wählen. Aber das hat er nicht vor. „Ich vertraue hier keiner Partei. Niemand tut hier wirklich etwas für Arme, und alle sind gegen Muslime. Auch deshalb habe ich es derzeit noch schwerer, Arbeit zu finden.“

Empört zeigt er sich über den Brief, den Ministerpräsident Mark Rutte von der rechtsliberalen VVD zur Eröffnung seines Wahlkampfs in sieben großen Tageszeitungen veröffentlicht hat. „Verhaltet euch normal oder geht, hat er Ausländer und Muslime aufgefordert. Wo sollen Ausländer hin?“, fragt er.

Er sei erst vor zwei Monaten bei seiner Familie in Bagdad gewesen, berichtet Aseel weiter. „Da kann ich auf keinen Fall hin, das ist sehr, sehr gefährlich dort.“ Erst recht für diejenigen, die aus Europa wieder zurückkommen. „Mein Bruder hat jahrelang als Ingenieur in Deutschland, in Duisburg, gearbeitet. Als er zurück in den Nordirak ging, weil er dort einen guten Arbeitsplatz erhalten hat, hat man ihn entführt und Lösegeld erpresst. Sie glauben, wenn man aus Europa kommt, muss man viel Geld haben.“ Aseel weiß nicht, wie es weitergehen soll.

Jan, ein älterer Schichtarbeiter in der Metallindustrie, will die rechte PVV von Geert Wilders wählen. Weil er „unzufrieden mit allen anderen Parteien“ ist, wie er sagt. Die Frage, warum er unzufrieden ist, beantwortet er wie aus der Pistole geschossen. „Die nehmen uns alles weg.“ Auf unsere Nachfrage, wer denn „die“ seien, sagt er: „Na, die Banken und Konzerne. Die haben doch hier die Macht, die bestimmen, was mit Arbeitsplätzen und Löhnen passiert.“

Auf unseren Hinweis zur Ausländerfeindlichkeit von Geert Wilders sagt Jan: „Flüchtlingen muss geholfen werden, das ist doch klar. Aber so viele, wie derzeit kommen, können wir hier nicht versorgen. Das kostet doch Geld, das sie [die Regierenden] sich bei uns holen.“

Insbesondere regt er sich über die Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung auf. Der Eigenanteil sei stark angestiegen. „Ich zahle für mich und meine Frau jeweils 385 Euro Eigenbeteiligung im Jahr. Das ginge ja noch, aber auch die monatlichen Prämien für die Krankenversicherung steigen stetig.“ Insbesondere regt er sich darüber auf, dass nun alle das Gleiche bezahlen. „Ich zahle genauso viel wie jemand, der 100.000 Euro und mehr verdient.“ Es sind diese sozialen Fragen, die die Menschen bewegen und einige in die Arme der Rechten treiben.

Pim

Pim ist 18 und noch Schüler. Er weiß vier Tage vor der Wahl noch nicht, wen er wählt. „Bei einem Online-Test stand ich mitten drin zwischen linken und rechten Parteien“, berichtet er. Er will sich noch genauer die Programme anschauen.

Als angehender Student schaut Pim darauf, was die Parteien zur Bildung sagen. „Wir haben jetzt Studiengebühren hier.“ Schon jetzt zahle er als Schüler 200 bis 300 Euro im Jahr für Ausflüge und Lernmaterialien. „Doch als Student muss ich bis zu 120 Euro im Monat zahlen. Außerdem noch rund 30 Euro Krankenversicherung.“

Weil das so ist, arbeitet er schon jetzt in einem Eis-Café. „Fast alle Jungen arbeiten nebenbei, besonders am Wochenende.“ Er bekommt 4,42 Euro pro Stunde. Das ist mehr als der gesetzliche Mindestlohn für 18-Jährige vorsieht.

In den Niederlanden gibt es den Mindestlohn für Arbeiter ab 23 Jahren und einen gestaffelten Mindestjugendlohn für alle unter 23. Für einen Arbeitnehmer ab 23 Jahren beträgt der Bruttomindestlohn bei Vollzeitbeschäftigung aktuell 1.551,60 Euro im Monat. Das sind je nach Arbeitsvolumen (der Lohn ist davon unabhängig) zwischen 8,96 Euro bei einer 40-Stunden-Woche und 9,95 Euro bei einer 36-Stundenwoche. „Im Sommer habe ich bei Océ gearbeitet“, einem Tochterkonzern von Canon mit Hauptsitz in Venlo, berichtet er, „da habe ich 5,50 Euro pro Stunde verdient.“

Doch nicht nur soziale Aspekte interessieren ihn. „Die Kriegsgefahr ist mir auch wichtig. Die Kriege müssen endlich aufhören.“ Anstatt Kriege zu führen, die Millionen zu Flüchtlingen machen, sollten Menschen in den Krisengebieten unterstützt werden.

Insbesondere Wilders hält Pim für eine Gefahr. „Der ist gruselig“, sagt er. „Der will alle Ausländer rausschmeißen“. Doch nicht nur Wilders, „alle Parteien sind gegen Ausländer, auch die linken wie die Sozialistische Partei“. Das ist wohl der Grund, weshalb er kein zufriedenstellendes Ergebnis beim Wahl-Test erhielt. Es gibt keine Partei, die soziale Fragen aufgreift und gleichzeitig gegen die Ausländerhetze auftritt.

Pim sagt: „Wir sollten alle Menschen gleich behandeln. Ich bin dafür, allen zu erlauben, in die Niederlande zu ziehen. Natürlich haben die Flüchtlinge eine andere Kultur. Aber das heißt doch nicht, dass wir nicht friedlich zusammenleben können.“

„Es ist überall in der Welt das gleiche“, sagt er. „In den USA, in Frankreich, überall werden Löhne und Sozialleistungen abgebaut. Rechte nutzen das aus.“

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