Brief von einem syrischen Leser: „Es gibt ein neues Solidaritätsgefühl unter den armen Leuten“

Wir befinden uns im siebten Jahr eines blutigen Alptraums. Bislang ist kein Ende dieses sehr komplexen Kampfs absehbar.

Das Leben geht weiter. Auf den Straßen der Altstadt von Damaskus sind die Restaurants und Cafés voll, besonders nachts. Trotz all der Schwierigkeiten des Alltags ist die Situation, verglichen mit der Lage in Aleppo, noch zu bewältigen.

Syrien wurde zerstört. Schätzungen der materiellen Schäden belaufen sich auf über 300 Milliarden Dollar, eine astronomische Summe für ein Land wie Syrien mit einer Vorkriegsbevölkerung von 22 Millionen.

Die demographische Dimension ist einer der wichtigsten Aspekte der syrischen Krise. Der Wandel der Bevölkerung, mit Hunderttausenden Toten, zahllosen Schwerstbehinderten und der Emigration eines Großteils der Jugend, wird sich in der kommenden Periode des Wiederaufbaus bemerkbar machen. Die Sozial- und Gesundheitsprogramme haben viele erfahrene Leute verloren. Das Gesundheitswesen hat sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor massiv Schaden genommen.

Im Jahrzehnt vor 2010 hatte der öffentliche Gesundheitssektor dank zweier Fünfjahrespläne große Fortschritte gemacht. Im Jahr 2010 gab es über 1.700 kostenlose öffentliche Gesundheitszentren, die einen Großteil des Landes abdeckten und auch die zahnärztliche Versorgung sicherstellten. Die staatliche Pharmaindustrie prosperierte und lieferte über 95 Prozent des Bedarfs im Land.

Doch während der sechs Jahre andauernden Kämpfe hat der Gesundheitssektor einen beträchtlichen Teil seines Personals verloren. Krankenhäuser und Gesundheitszentren waren bevorzugte Angriffsziele der bewaffneten Rebellen. In vielen Regionen wie al-Hassakeh, Deir el-Zur, Idlib sowie den ländlichen Gebieten um Aleppo und Damaskus wurde die Infrastruktur für die Gesundheitsversorgung vernichtet. Pharmazeutische Fabriken wurden zerstört oder geplündert, was dazu führte, dass viele Medikamente nicht mehr verfügbar sind.

Auf dem Bildungssektor ist die Situation ähnlich. Tausende Schulen sind zerstört oder beschädigt.

Die hauptsächliche Leistung der Regierung des vorhergehenden Präsidenten Hafiz Al-Assad bestand darin, dass ein autarker Landwirtschaftssektor geschaffen wurde. Produziert wurden alle Sorten von Obst und Gemüse, in erster Linie aber über vier Millionen Tonnen Getreide, mit einem strategischen Vorratsbestand an Weizen. Jetzt aber steht der Landwirtschaftssektor vor gewaltigen Problemen, denn zahlreiche Anbaugebiete sind nicht mehr sicher.

Die Reduzierung der Stromerzeugung sowie der Benzinmangel haben den Sektor einer seiner Hauptstützen beraubt: der Bewässerung, zu der Millionen privater Wasserpumpen beitrugen. Der Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden nimmt ab. Die landwirtschaftliche Produktion geht insgesamt stark zurück. Die Kosten für den Transport der Ernte zu den Handelszentren sind in die Höhe geschnellt, und zahlreiche Lebensmittel sind für viele Familien unerschwinglich geworden.

Die Tierhaltung steht vor zusätzlichen Problemen. Das Landesinnere Syriens bot Weidemöglichkeiten für Millionen Schafe, deren hochwertiges Fleisch in den Golfstaaten sehr geschätzt wurde. Es gab strikte Regulierungen, um den Viehbestand und seine Qualität zu schützen, sowie Jahreskontingente für den Export. Mit der Verwandlung der Weideregionen in Schlachtfelder änderte sich die Lage dramatisch.

Dies sind die furchtbaren Bedingungen, unter denen sich Millionen Syrier gezwungen sehen, Schutz in Gebieten zu suchen, die unter Kontrolle der Regierung stehen. Tatsächlich lebt die Mehrheit der Syrer in Ballungsgebieten, in welchen die Regierung öffentliche Dienste und die Sicherheit aufrechterhält; sie zahlt dort regelmäßig die Löhne im öffentlichen Sektor aus, sowohl den aktiven Beschäftigten als auch verrenteten Mitarbeitern.

Die Inflation hat unmittelbare und starke Auswirkungen auf den Lebensstandard. Im Jahr 2011 entsprach 1 US-Dollar 50 syrischen Pfund, heute kostet 1 Dollar 530 syrische Pfund.

Die systematische Zerstörung des Landes, die seit sieben Jahren anhält, hat gezeigt, dass die Ereignisse in Dara’a sowie die Ereignisse vom März 2011 nichts mit einer „Revolution“ zu tun hatten. Viele Syrer sind mittlerweile überzeugt, dass CIA-Agenten die Ereignisse des Jahres 2011 von ihrem jordanischen Büro aus gesteuert haben. Sie haben die Waffen und das Bargeld geliefert, die benötigt werden, um eine bewaffnete Rebellion in Syrien zu befeuern. Mit ausreichend Geld und Waffen kann man überall auf der Welt eine Rebellion anzetteln. Syrien musste für seine Opposition gegen Washington zahlen.

Doch diese vereinfachende Sicht kann die blutigen Kämpfe und den sektiererischen Hass nicht erklären.

Wir müssen zugeben, dass die systematischen Zerstörungen ihr Hauptziel erreicht haben, Syrien seiner Stärke zu berauben.

Die Wirtschaftsreformen der vergangenen zehn Jahre lassen erkennen, dass tatsächlich eine Neuorientierung stattgefunden hat: ein Bruch mit der protektionistischen Politik, die die inländische Produktion geschützt hatte. Der Import von Luxusgütern war früher streng begrenzt. Die Politik der offenen Türen führte dann zum Zusammenbruch Tausender kleinerer Unternehmen und raubte Hunderttausenden Arbeitern ihre Anstellung.

Drei Trockenperioden nacheinander in den östlichen Regionen führten dazu, dass über 200.000 Bauern mitsamt ihren Familien in die relativ prosperierenden Städte zogen. Sie fanden Zuflucht in den elenden Vororten der Großstädte. Diese sozial benachteiligten jungen Menschen fanden in den Moscheen eine Art Entschädigung und erhielten Hilfsgelder von sogenannten karitativen Organisationen, die vom wahhabitischen Netzwerk finanziert werden. Es waren ideale Voraussetzungen gegeben, unter denen die Geheimdienste die Lage manipulieren konnten, indem sie alle Arten provokativer gefälschter Propaganda streuten.

Der Niedergang und Zusammenbruch vieler Produktions- und Dienstleistungsbereiche hatte verheerende Auswirkungen auf das Alltagsleben. Die Ärmsten innerhalb der Bevölkerung mussten ihre Ernährung umstellen. Die exorbitanten Preise für Obst und Fleisch zwangen sie, sich von Gemüse zu ernähren. Millionen Menschen hätten ohne die Unterstützung von Wohlfahrtseinrichtungen gar nicht überleben können.

Die Krise führte zu einer Umverteilung des Volksvermögens an Kriminelle. Korruption und Schwarzmarkt brachten eine neue Schicht von Reichen hervor. Die Verwaltung der bewaffneten Rebellengruppen ist gescheitert und verfügt über keinerlei Unterstützung in der Bevölkerung.

Meine Hoffnung speist sich aus einer positiven Entwicklung unter jungen Menschen, die im Land leben. Man könnte von einer allgemeinen Desillusionierung über die Haltung der westlichen Staaten sprechen, insbesondere der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Deutschlands. Viele junge Syrer waren zumeist fasziniert vom westlichen Modell. Doch die Krisenjahre haben ihnen bewusst gemacht, dass die Situation in diesen Ländern sehr weit von dem Bild entfernt ist, das die Massenmedien produzieren.

Sie nehmen eine kritische Position sowohl gegenüber der Regierung als auch der Opposition ein und lehnen es ab, die simplifizierenden Antworten zu akzeptieren, die die Situation in Schwarz und Weiß zeichnen. Weder die traditionellen noch die neugegründeten Parteien ziehen sie an.

Sie haben kein Vertrauen zu der alten Generation. Sie machen die gesamte Generation dafür verantwortlich, den Bewohnern des Landes kein Vaterland geschaffen zu haben.

Aufgrund der Krise beherbergt Damaskus fast 6 Millionen Einwohner. Das ist ein Drittel aller Syrer, die im Land verblieben sind. Die drei zusätzlichen Millionen Einwohner sind Vertriebene, die die Schrecken der bewaffnen Gruppen erlebten. Seit über vier Jahren stehen sie vor den gleichen Problemen und Risiken: exorbitante Preise, Wohnungsnot, zu wenige Verkehrsmittel sowie Mangel an Strom und Trinkwasser.

Die Krise war wie ein gigantischer Schmelzofen, der die heterogenen sozialen Gruppen zusammenschweißte. Das Ganze könnte gut ausgehen und das Sozialgefüge konsolidieren. Ich denke, das tägliche Leid hat eine gewisse Solidarität geschaffen. Es gibt ein neues Solidaritätsgefühl unter den armen Leuten. Die Syrer sagen, das Vaterland gehöre den Reichen, den Armen bleibt nur der Patriotismus: Sie sollen es verteidigen. Ich glaube, dass die neue Generation und die Jugend das neue Syrien formen werden.

Was die World Socialist Web Site betrifft, so begegnete ich dem geheimnisvollen Leo Trotzki zum ersten Mal 1976, als ich im französischen Lyon an einem trotzkistischen Treffen teilnahm. Zu dieser Zeit war ich Mitglied der Syrischen Kommunistischen Partei, die sehr stalinistisch war. Ich wollte mehr über den Mann herausfinden, der eine Hauptrolle in der Oktoberrevolution gespielt hatte. Zuerst las ich Literatur und Revolution, dann Verratene Revolution. Ich entdeckte einen anderen Trotzki, der mir zusagte.

Im Jahr 1982 las ich Isaak Deutschers Trotzki-Trilogie und Trotzkis Stalin-Biographie. Ich entdeckte, dass der Stalinismus eine vulgarisierte Version des Marxismus ist und dass die Idee der permanenten Revolution viel kohärenter ist als die nationalistische Orientierung. Wir hatten in Syrien keine trotzkistische Bewegung, doch ein paar Denker wurden von Trotzki beeinflusst. Allerdings beschränkte sich dies auf intellektuelle Diskussionen.

Vor drei oder vier Jahren stieß ich zufällig auf die WSWS. Ich nutzte einige der Informationen als Grundlage für mehrere Artikel. Über meinen Facebook-Account teilte ich ein paar Artikel. Die Reaktion meiner Freunde war ermutigend. Ich bemerkte, dass sich die Zahl der arabischen Übersetzungen im Vergleich mit anderen sehr bescheiden ausnahm. Also ergriff ich die Initiative und bot an, einige der Artikel ins Arabische zu übersetzen.

Ich registrierte mich für die Vortragsreihe über die Russische Revolution, weil ich überzeugt von der Bedeutung dieses Ereignisses bin.

Der Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung bedeutet für mich den Kampf gegen die Bedingungen, die dem Krieg den Weg bereiten. Die Idee hat meine Hoffnung wiederbelebt, dass der Kampf nicht zu Ende ist. Zu wissen, dass die Idee der permanenten Revolution immer noch lebt, ist ein gutes Zeichen. Der Kampf muss permanent sein. Das gilt sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene.

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